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Sie wollten die Zeitenwende. Sie bekommen die Zeitenwende. | Von Anke Behrend

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Ein Kommentar von Anke Behrend.

Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig erschüttert. Verantwortlich dafür ist neben dem Erdrutschsieg der AfD der Erfolg des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), das am vergangenen Wahlsonntag mit beeindruckenden Wahlergebnissen zum zweiten Mal ein starkes Zeichen setzte. Mit einem vorläufigen Ergebnis (Stand 2. September) von 11,8 Prozent in Sachsen und 15,8 Prozent in Thüringen verbucht das Bündnis einen in Deutschland einmaligen Erfolg, aus dem Stand in zwei Landtage zweistellig und als drittstärkste Kraft einzuziehen (1). Damit etabliert sich das BSW nach den Wahlen zum EU-Parlament, in das diese junge Partei kurz nach ihrer Gründung im Januar 2024 bereits sechs Abgeordnete entsenden konnte, ein weiteres Mal als ernstzunehmender politischer Akteur. Dieser Erfolg ist besonders bemerkenswert, da er auf Kosten der etablierten Parteien, insbesondere der Linken, aber auch SPD und Grünen geht, die bei diesen Wahlen historisch schlechte Ergebnisse erzielten. Die FDP rangiert wohlverdient unter „ferner liefen“ und ist nicht mehr in den Landesparlamenten vertreten. In Thüringen ziehen Grüne und Linke nicht mehr in den Landtag ein, die Linke in Sachsen verliert dramatisch und rettet - Stand jetzt - nur über zwei Direktmandate ihr Verbleiben im sächsischen Landtag (2). Die SPD verharrt in beiden Bundesländern relativ stabil auf dem einstelligen Stand der vorigen Landtagswahlen. In beiden Bundesländern ist die AfD klarer Sieger (1).

Somit ist der Kampf gegen Rechts gescheitert. Einzig das BSW konnte laut ARD Wahlberichterstattung der AfD in Thüringen circa 13.000 und in Sachsen 23.000 Stimmen abnehmen.

Der fulminante Erfolg des BSW ist das Ergebnis einer klaren und konsequenten politischen Strategie, die auf einer profunden Analyse fußt und sich gezielt auf die Schwachpunkte des politischen Establishments konzentriert, ohne dabei in plumpen Populismus oder Ressentiments abzudriften. Während die traditionellen Parteien, allen voran SPD und Grüne, zunehmend ihre Verankerung in klassisch linken Zielen verlieren und sich in teils aberwitziger Gender- und Klimapolitik sowie im „Kampf gegen Rechts“ verzetteln, hat das BSW diese Ziele neu belebt und in den Mittelpunkt seiner Politik gestellt. Der Fokus auf soziale Gerechtigkeit, eine differenzierte Haltung zur Geschlechterpolitik, die klare Positionierung in der Migrationsfrage, die Bemühungen um Aufarbeitung der Corona-Krise, vor allem aber die klare Forderung, den Ukrainekrieg schnellstmöglich auf diplomatischem Weg zu beenden, haben dem BSW eine breite Unterstützung verschafft, insbesondere in den neuen Bundesländern.

Migration und Einwanderung

Ein zentrales Thema in der Politik des BSW ist die Haltung zu Migration und Einwanderung. Das BSW vertritt eine restriktivere Einwanderungspolitik, die in deutlichem Kontrast zu den Positionen der etablierten Parteien steht. Während diese Parteien einen offenen und weitgehend unregulierten Kurs fahren, argumentiert das BSW, dass eine solche Politik die sozialen und infrastrukturellen Kapazitäten Deutschlands überlastet, den sozialen Zusammenhalt bereits jetzt erheblich beschädigt hat und rechten Kräften zu Popularität verhilft.

Sahra Wagenknecht betont, dass Einwanderung nur in einem Maße erfolgen sollte, das für das Land tragbar ist und die Integration der Zuwanderer gewährleistet. Sie argumentiert, dass eine Einwanderungspolitik der offenen Grenzen nicht nur die bestehenden sozialen Probleme verschärft, sondern auch die Grundlagen für eine funktionierende Demokratie untergräbt:

„Es gibt Grenzen, jenseits derer unser Land überfordert wird und Integration nicht mehr funktioniert.“(3)

Das BSW positioniert sich als eine traditionell linksliberale Alternative, die sich für eine gerechte und sozial ausgewogene Migrationspolitik einsetzt, ohne dabei in fremdenfeindliche, rassistische oder nationalistische Rhetorik zu verfallen. Die Haltung des BSW zur Einwanderung ist nicht von einer pauschalen Ablehnung von Zuwanderung geprägt, sondern von der Überzeugung, dass Einwanderung gesteuert und im Interesse der gesamten Gesellschaft gestaltet werden kann und muss. Diese Position hat dem BSW in den östlichen Bundesländern erheblichen Zuspruch eingebracht. Insgesamt zeigt das BSW mit seiner klaren Positionierung zur Migration, dass es möglich ist, linke soziale Anliegen mit einer realistischen und pragmatischen Haltung zur Einwanderung zu verbinden. Diese Positionierung unterscheidet das BSW deutlich von den etablierten Parteien und spricht insbesondere diejenigen Wähler an, die sich von der aktuellen Migrations- und Flüchtlingspolitik nicht mehr repräsentiert fühlen, die Angebote von Rechtsaußen jedoch für inakzeptabel halten.

Gender- und Sozialpolitik

Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der das BSW von rechten Mitbewerbern unterscheidet, ist die Ausrichtung auf Frauenrechte und Geschlechterpolitik.

Auch hier positioniert sich das BSW klar gegen die rückwärts gewandten und teils reaktionären Vorstellungen der AfD. Während die AfD in ihrer Programmatik „traditionelle“, sprich patriarchale Rollenbilder propagiert und sich gegen eine moderne Gleichstellungspolitik stellt, setzt sich das BSW für eine emanzipierte Frauenpolitik, Chancengleichheit und eine umfassende soziale Absicherung ein, die sich an konkreten Zahlen wie Lohn und Rente messen lässt, statt eine nebulöse „Geschlechtergerechtigkeit“, die mittels Sprachreglungen zu erreichen sei, in Aussicht zu stellen. Konkret fordert das BSW mehr und bessere Kinderbetreuung sowie kürzere Arbeitszeiten für Eltern, wohingegen die AfD ihr Heil in der „traditionellen“ Familie sucht, in der Frauen nur deshalb gut ausgebildet sein sollen, um Kinder zu erziehen.

„Der Schlüssel zu mehr Lohngleichheit liegt in der fairen Aufteilung der Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern sowie der Austrocknung des Niedriglohnsektors, in dem überwiegend Frauen arbeiten. Wir brauchen mehr gute Arbeitsplätze anstelle befristeter und schlecht bezahlter Jobs, ausreichend Ganztagsbetreuung sowie kürzere Arbeitszeiten für alle. Eine 32-Stunden-Woche für Eltern wäre ein wichtiger erster Schritt, wobei der Staat für Lohnausgleich sorgen muss, damit sich das auch Geringverdiener leisten können.“,

Sahra Wagenknecht in der Zeit (4).

Das kürzlich beschlossene Selbstbestimmungsgesetz zur freien Wahl des Geschlechtseintrages hält Wagenknecht

„für eine von Ideologie getriebene Politik, für die man in bestimmten Sekten bejubelt wird“ und fragt, „wie stark Frauenräume noch geschützt sind, wenn sich jeder Mann beliebig zur Frau erklären kann“. (5)

Darüber hinaus unterscheidet sich das BSW von der AfD durch seine starke Betonung sozialer Gerechtigkeit und eine Umverteilungspolitik, die den sozialen Frieden sichern soll. Während die AfD eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt, die vor allem den Reichen zugutekommt und soziale Ungleichheiten verstärkt, stellt das BSW den Schutz der sozial Schwachen in den Mittelpunkt:

„Es gibt sowohl Migrantenkinder als auch Nachkommen deutscher Eltern, die im Niedriglohnsektor arbeiten – und deren Interessen müssen wir vertreten. Natürlich müssen wir uns gegen Diskriminierungen wenden, etwa wenn Menschen aufgrund eines arabischen Namens bei der Bewerbung noch schlechtere Chancen haben. Aber diesen Menschen nützen abgehobene Sprachreglementierungen nichts und auch keine Quoten. Was wir einfordern müssen, ist echte Gleichbehandlung, etwa indem die anonymisierte Bewerbung gesetzlich vorgeschrieben wird.“ (6)

Dieser deutliche Kontrast zur AfD zeigt, dass das BSW zwar in einigen Punkten eine restriktive Haltung einnimmt, aber dabei die Grundwerte von Solidarität, Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit nie aus den Augen verliert. In einer politischen Landschaft, in der die etablierten Parteien sich zunehmend von ihren sozialpolitischen Wurzeln abwenden und die AfD mit reaktionären Parolen punktet, füllt das BSW damit eine wichtige Lücke und gibt denjenigen eine Stimme, die sowohl soziale Gerechtigkeit als auch gesellschaftliche Integration fordern.

Ost und West

Die Wahlergebnisse des BSW bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben einmal mehr die tiefen Unterschiede in der politischen Landschaft Deutschlands offen gelegt. Während das BSW in den neuen Bundesländern mit zweistelligen Ergebnissen triumphierte, bleiben die Umfragewerte in Westdeutschland für eine so junge Partei zwar beachtlich aber im Vergleich mit den östlichen Bundesländern moderat. Diese Unterschiede sind nicht nur das Ergebnis aktueller politischer Entwicklungen, sondern spiegeln auch jene tief verwurzelte Spaltung wider, die auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands fortbesteht und unter anderem in der Beurteilung des Ukrainekrieges sichtbar wird.

Die Gründe für diese regionale Diskrepanz sind vielfältig. Ostdeutschland hat seit der Wiedervereinigung mit hohen Arbeitslosenzahlen, niedrigerem Lohnniveau, Abwanderung und etlichen anderen Verwerfungen zu kämpfen. Viele Menschen nehmen wahr, wie ihre Anliegen im gesamtdeutschen politischen Diskurs nicht ausreichend Gehör finden, sondern sie immer wieder von oben herab als „Nazis“, „Kommunisten“ oder tumbe Hinterwäldler diffamiert werden, die zur Demokratie nicht fähig sind. Diese Enttäuschung über eine offen westdeutsche Identitätspolitik hat in den letzten Jahren zu einem Erstarken von populistischen und extremen Ideen geführt. Das BSW hat es verstanden, diese Unzufriedenheit aufzufangen und den Menschen eine politische Heimat zu bieten.

Im Gegensatz dazu sind im gutsituierten Westdeutschland, wo die wirtschaftliche Lage insgesamt stabiler ist und man sich spätestens seit der Wiedervereinigung in der Gewissheit sonnt, schon immer auf der „richtigen Seite“ gestanden zu haben, die Erfolge des BSW bisher begrenzter. Nicht zuletzt, weil massive Angriffe sowohl durch das politische Establishment als auch von rechten Gegenspielern die Partei propagandistisch in die Nähe der DDR rücken und ihr „sozialistische“ wenn nicht gar „kommunistische“ Ambitionen attestieren. Damit versucht man, die totgeglaubten Narrative des Kalten Krieges zu reanimieren, um die im Westen tiefsitzende Angst vor allem, was man als „links“ verunglimpfen kann – mithin sogar Merkel, die Ampel und die US-Demokraten – zu schüren. Ungeachtet dessen, dass keiner der letztgenannten Akteure soziale Gerechtigkeit und das Gemeinwohl in den Vordergrund der Politik stellt und nicht zuletzt deshalb die Demokratie ihre Basis, namentlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt, zu verlieren droht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die geografischen Unterschiede in den Wahlergebnissen des BSW die anhaltende Spaltung Deutschlands zwischen Ost und West widerspiegeln.

Fazit

Der Erfolg des Bündnisses Sahra Wagenknecht bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen markiert eine signifikante Verschiebung in der deutschen politischen Tektonik. Er stellt einen Teil jener Zeitenwende dar, die von Angela Merkel 2020 verkündet und 2015 eingeläutet worden war.

In einer Zeit, in der viele Wähler das Vertrauen in die etablierten Parteien verloren haben, hat das BSW eine Lücke gefüllt, die insbesondere durch den Niedergang der SPD und Grünen entstanden ist. Diese Parteien, einst die Hüter klassisch linker Werte, haben sich zunehmend von ihren Grundsätzen entfernt und damit einen Raum für eine neue politische Kraft geschaffen, die nicht nur die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung ernst nimmt und konsequent verfolgt, sondern sich klar gegen Rechtspopulismus positioniert.

Das BSW nährt die berechtigte Hoffnung, dass es möglich ist, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Erfolg und eine kritische, aber nicht diskriminierende Haltung zur Migration zu vereinen. Während sich andere Parteien in identitätspolitischen Debatten verlieren, eine destruktive, ideologisierte Wirtschaftspolitik vorantreiben oder auf der anderen Seite reaktionäre Positionen wiederbeleben wollen, bietet das BSW eine pragmatische und zugleich visionäre Alternative. Seine klare Ablehnung der irrationalen Auswüchse der aktuellen Geschlechterpolitik, die Fokussierung auf materielle Lebensbedingungen statt auf Symbolverhandungen, die klare Haltung zu Krieg und Frieden sowie die Forderung nach konsequenter Aufarbeitung der Corona-Jahre, die Sahra Wagenknecht am Wahlabend erneut wiederholte, haben der Partei zu Recht eine beachtliche Unterstützung eingebracht. Die Herausforderung für das BSW wird nun darin bestehen, die Erfolge im Osten zu konsolidieren und gleichzeitig in Westdeutschland an Boden zu gewinnen.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die junge Partei von Sahra Wagenknecht mit ihrer klaren sozialen Agenda den etablierten politischen Status Quo in Frage stellt und eine echte Alternative bietet für die Vielen, die von den aktuellen politischen Angeboten enttäuscht sind, aber die Lösung nicht in rechts-reaktionärer Deutschtümelei sehen, wie wohlanständig sie auch daherkommen mag. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob das BSW in der Lage sein wird, das Momentum ihres ersten Jahres zu nutzen und seine Position weiter auszubauen. Klar ist jedoch, dass das BSW bereits jetzt eine bedeutende Kraft in der deutschen Politik geworden ist, die sowohl die etablierten Parteien als auch den extremen rechten Rand herausfordert und verändert. Der Erfolg des BSW zeigt, dass es in Deutschland eine starke Nachfrage nach einer Politik gibt, die sich konsequent an den sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert und sich weder von modischen Trends, ideologischen Experimenten noch von rückwärtsgewandten Heilsversprechen leiten lässt.

Quellen und Anmerkungen

 

(1) https://www.fr.de/politik/erste-ergebnisse-wahlen-sachsen-thueringen-wann-hochrechnungen-prognosen-2024-landtagswahlen-zr-93274175.html

(2) https://www.deutschlandfunk.de/linke-in-sachsen-zieht-nach-gewinn-von-zwei-direktmandaten-in-landtag-ein-102.html

(3) https://www.berliner-zeitung.de/news/unmut-vor-ort-fdp-will-maghreb-staaten-zu-sicheren-herkunftslaendern-zaehlen-li.387333

(4) https://www.zeit.de/karriere/2017-03/equal-pay-day-lohngerechtigkeit-manuela-schwesig-sahra-wagenknecht-forderungen/seite-2

(5) https://www.tagesspiegel.de/politik/von-ideologie-getriebene-politik-wagenknecht-halt-neues-selbstbestimmungsgesetz-fur-absurd-9998650.html

(6) https://www.telepolis.de/features/Sahra-Wagenknecht-Was-wir-einfordern-muessen-ist-echte-Gleichbehandlung-6028198.html

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Dank an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Karsten Leineke / shutterstock


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