Ein Kommentar von Dirk C. Fleck.
In letzter Zeit entdecke ich mich häufiger dabei, die Aufzeichnungen vergangener Jahre vom Ballast hingekritzelter „Erkenntnisse“ zu säubern, die ich einer Droge, dem Schmerz einer verlustreichen Liebe oder einfach der Anmaßung meiner Jugend zu verdanken hatte. Einige Metaphern widersetzen sich allerdings meinem Zugriff und so schleppe ich sie durch alle kritischen Instanzen, obwohl sie mir nicht schlüssig erklären, was sie meinen. ERREGUNGEN - FANGNETZE DER STERBLICHKEIT ist so ein ungeschliffenes Juwel. Ebenso die an ein Verkehrsschild erinnernde Mahnung RISIKOFAKTOR BEGIERDE! Manchmal sind die Texte auch in hauchdünne Kitsch-Glasuren gegossen wie dieser beispielsweise: DIESE SCHATTIGEN TROSTTÄLER MIT IHREN KÜHLEN WINDEN, DIE WARM WERDEN, WENN SIE UNS ENDLICH EINFRIEREN … Es ist schön zu beobachten, wie unser Verständnis von der Welt in Worte hinein blüht und dort wieder verblüht. Etwas hat auf fantastische Weise Geduld mit uns.
Das Wetter ist so intensiv heute, die Farben so klar, die Luft so schmeichelhaft, dass es mir auf dem Balkon vorkommt, als tauche ich problemlos durch ein weites Meer. Ich ertappe mich dabei, dass ich bei der Betrachtung der unendlich blauen Weite anfange Schwimmbewegungen zu machen, während die Spitzen der Bäume sich unter mir algengleich in der Strömung wiegen - ganz im Gegensatz zu den Häusern, die wie angefressene Schiffswracks statisch und halb versandet auf Grund liegen. Mir wird schwindlig. Bevor mich die Fallsucht erwischt stoße ich mich vom Geländer und stolpere zurück in die Wohnung. Geschafft. Machen wir also weiter mit den Aufräumarbeiten. WIR? Ja, natürlich WIR. Fleck und der Andere, der schon gar keinen Namen mehr hat, der am liebsten alles auf Null drehen möchte, der keinerlei Vorstellungen von sich und der Welt duldet, der sich total raushalten will aus Freud und Leid - der sich lediglich als Resonanzboden der ihn umgebenden Ereignisse begreift, und keinesfalls mehr als moralische Instanz.
Pech nur, dass auch dieser Andere im Alltag verwurzelt ist. Er muss einkaufen, er muss zum Zahnarzt, Behörden- und Inkassobriefe müssen beantwortet und Besuche abgewiesen werden. Heute muss er zum Beispiel ein Bahnticket in die Schweiz kaufen, weil er eingeladen wurde, dort über den Tod zu diskutieren, gegen Honorar, das er sehr gut gebrauchen kann.
„Mir wird, ich gestehe es gern,“
notierte Goethe einmal,
„jeder Zeitverlust immer bedenklicher, denn ich gehe mit wunderlichen Projekten um. Aber die Verhältnisse nach außen machen unsere Existenz und rauben sie zugleich und doch muss man sehen wie man so durchkommt, denn sich, wie Wieland es getan hat, gänzlich zu isolieren ist auch nicht ratsam.“
Der von mir sehr verehrte Albert Camus (1913 - 1960, „Die Pest“), den ich schon mit achtzehn Jahren penetrant zitierte, als sechs hinter einem Pult versammelte Alt-Nazis von mir wissen wollten, warum ich den Russen nicht erschießen will, der meine Frau vergewaltigt hat und dem ich letztlich bei dieser „Gewissensprüfung“ die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu verdanken habe, steht mir noch heute als Bruder im Geiste zur Seite. Durch einen Text wie diesem zum Beispiel:
„Irgendwann bin ich angesichts all des Leides in der Welt, das mir im Laufe der Jahre begegnete, zusammengebrochen. Ich litt, war verzweifelt und wollte sterben. Bis ich begriff, dass wir nur überleben können, wenn wir uns aus der Sklaverei der Gegebenheiten befreien, und beginnen, endlich aus unserer lähmenden Zuschauerlethargie auszubrechen, selbst aktiv, und zu Schöpfern werden, die das Paradies, das wir durch unsere krankhaften Konsumgewohnheiten zerstört haben, durch Regeneration wieder neu erschaffen können, und damit die Welt in der wir leben, und unsere eigene Seele, wieder heilen.“
Genau das habe ich gerade vorübergehend verhindert. Entgegen aller Vorsätze klickte ich mich gedankenlos und gelangweilt ins Angebot von You Tube. Prompt bekam ich eine verpasst. Ein Video aus dem nächtlichen Shanghai ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Die Fenster in der Hochhauswüste waren hell erleuchtet, hunderte, tausende. Menschen standen dort im Gegenlicht, Schatten, die sich die Seele aus dem Leib brüllten. Ihr gebündeltes und im Häuserlabyrinth hin und her geworfenes Geschrei war kaum zu ertragen. Was war der Grund dieses Aufstandes? Der strenge wochenlange Lockdown war der Grund, der die Menschen wie Vieh in die Stallungen ihrer Wohnungen verbannte. Ich versuche You Tube zu verlassen, gerate aber aus Versehen noch in eine Talkshow, in der ein New Yorker Police-Officer den Frauen rät, bei Vergewaltigung nie um Hilfe zu rufen. „Sie sollen FEUER schreien,“ sagt er, „dann kommen sie gerannt“.
Ich muss mich schütteln. Zurück auf den Balkon. Auf diesen Tag habe ich schließlich lange warten müssen. Ich war nicht sicher, ob das beschädigte Klima ihn noch einmal hergibt. Am liebsten würde ich ihn in die Tasche stecken und auf Weltreise gehen. Ein Hamburger auf Reisen, mit einem 22 Grad warmen Tag im Gepäck. Windumschmeichelt und aus purem Licht. Alle Farben im Urgrund getroffen. Leuchtend vor der weiten schwarzen Kulisse des Universums postiert. Ein Hamburger auf Reisen. Fegt mit seinem Tag über verseuchte Sümpfe und Wüsten. Aber denk daran, Dirk Fleck: Es ist nur ein Tag. Immerhin: an einem solchen Tag blüht das Gekreische auf den Schulhöfen zu Jubelarien auf, die als akustische Pilze in den Städten wachsen. An einem solchen Tag sollten wir uns verschwören: zu Feinden der Angst.
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman "Go! Die Ökodiktatur" ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Radoslav Cajkovic / shutterstock.com
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