Die Europameisterschaft bringt Menschen aus ganz Europa nach Deutschland. Die sehen jetzt live und in Farbe, wie sich Deutschland in Grund und Boden gewirtschaftet hat.
Nicht nur Fußballfans fragten sich 2010, ob man ein großes internationales Turnier, das eine starke Infrastruktur benötigt, in einem Land stattfinden lassen sollte, welches zwar den Status eines Schwellenlandes für sich beansprucht, aber in weiten Teilen noch wie ein Entwicklungsland aufgestellt ist. Damals sollte Südafrika die Weltmeisterschaft austragen. Man berichtete von schleppenden Bauarbeiten und schlechten Anbindungen, um die Massen von Schlachtenbummlern auch ins Stadion befördern zu können. Für die Südafrikaner hat sich das Turnier nicht gelohnt, erfuhr man später. Kleine Händler hatten nichts davon, weil große Global Player das Geschäft rund um das Turnier organisierten. Und die Auslastung der für das Turnier errichteten Stadien ist heute eher gering — nur das „Soccer City“ in Johannesburg ist ein Erfolgsmodell. Für die anderen können die Kosten der Instandhaltung kaum aufgebracht werden. Ähnliche Debatten gab es vier Jahre danach, als die Weltmeisterschaft nach Brasilien kam — und als selbst Brasilianer protestierten, weil ihr Land im Grunde andere Sorgen hätte. Nur 2024 machte sich offenbar niemand Gedanken. Schließlich dürfte die Austragung einer Europameisterschaft ein Klacks für den Gastgeber sein. Ein Standpunkt von Roberto J. De Lapuente.
Vergessen Sie alles, was Sie über Deutschland zu wissen glauben
Wieder mal sollte die Welt zu Gast bei Freunden sein. Wie schon 2006. Nur diesmal eine Nummer kleiner, denn die Welt, das ist bei diesem Wettbewerb nur Europa. Ein neues Sommermärchen sollte stattfinden, das Land in einer Welle der Begeisterung untergehen. Nach zwei Spieltagen versucht die Ampelkoalition bereits, die eher dezent aufkommende Stimmung für sich zu nutzen. Nancy Faeser erklärt, dass die Europameisterschaft die Spaltung im Lande überwinden könne. Mehr vernimmt man von der deutschen Politik allerdings nicht. Man muss schon ins Ausland horchen, um zu verstehen, welches Bild Deutschland abgibt.
Der Journalist Sebastian Stafford-Bloor von der New York Times war in Deutschland. Sein Bericht ist ein Armutszeugnis für dieses Land im Herzen Europas. Er beginnt mit den Worten: „Vergessen Sie alles, was Sie zu wissen glaubten …“ Deutschland sei weder sauber noch pünktlich. Und schon gar nicht gut organisiert. Stafford-Bloor zeigte sich schockiert über den Zusammenbruch der örtlichen Nahverkehrsbetriebe. Kaum kämen für ein Fußballspiel mehr Menschen in die Stadt, breche das Nahverkehrsnetz zusammen. Er berichtet, dass Fans den weiten Weg ins Stadion zu Fuß hinter sich bringen mussten, weil nichts mehr ging. Überall gebe es beträchtliche Warteschlangen. Auch vor den Stadien. Offenbar fehle es an Personal. Die Freiwilligen, die rekrutiert wurden, so erklärt er, seien aber sehr bemüht.
Die Welt nennt den Bericht in der Times einen Verriss. Aber Insider wissen, dass der Journalist recht hat. Wobei „Insider“ meint: Menschen, die in Deutschland leben. Insbesondere jene, die Frankfurt kennen. Vor dem Frankfurter Bahnhofsviertel hat die belgische Polizei gewarnt. Das sei ein Zombieland, Drogen würden ungeniert in aller Öffentlichkeit konsumiert.
Das ganze Quartier ist tatsächlich nicht gerade einladend. Die Stadt feiert einmal im Jahr die Bahnhofsviertelnacht. Dann tun die Stadtoberen so, als sei es ein durchschlagender Erfolg, dass hier Banker, Versicherungsagenten und Obdachlose zusammen ein Bierchen oder drei kippen könnten. Sie tun so, als sei diese Nacht ein sozialer Kitt. Die, die auf den nächsten Schuss warten, feiern diese Nächte eher nicht mit, sie liegen wie Leichen an irgendeiner Hauswand — der „Frankfurter Weg“, ein Konzept, das für einen liberalen Umgang mit Drogensucht stand, Fixerstuben und sauberes Besteck bereitstellte, ist letztlich gescheitert. Das Projekt hat den Drogentourismus begünstigt und immer mehr Abhängige in die Stadt getrieben.
Auch viele Deutsche rümpfen die Nase, wenn man ihnen sagt, man wohne in Frankfurt. Das liegt zuallererst am Bahnhofsviertel. Hier landen Bahnreisende zuerst, dort treffen sie auf Sucht, eine aggressive Stimmung und ausgesprochen viel Dreck. Deutsch spricht man dort nur als Fremdsprache. In solche Verhältnisse lässt man Fans aus anderen Ländern kommen. Hätte man als Mensch, der 2024 in Deutschland lebt, noch so was wie Gemeinsinn: Man müsste sich schämen. Ich habe es jedenfalls nicht getan, als mir belgische Fans dort begegneten. Schließlich leide ich selbst in diesen Zuständen. Wie immer wartete ich auf meine Tram. Was mögen diese Leute denken, fragte ich mich allerdings schon.
Der kranke Mann Europas
Beim Spiel der spanischen Nationalmannschaft gegen die Italiener sangen Fans, nicht ganz sicher von welchem dieser beiden Länder, „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino. Jener Song geriet in den Fokus der Öffentlichkeit, weil einige Rich Kids auf Sylt ihn mit neuem Text versahen. Völlig angetrunken sangen sie: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.“ Das gefiel denen so gut, dass sie es in einem kleinen Clip festhielten. Das Video ging viral und wurde selbst in der Tagesschau behandelt. Über Tage sprach diese Republik nur darüber. Der Videoausschnitt stand für die Rückkehr des Dritten Reiches und den Untergang der Demokratie — mindestens. Deutschland schien irre zu werden an diesem Skandälchen.
Und einige Wochen später stimmen Fans fremder Fußballnationen diesen Song in einem deutschen Stadion an? Sie grölten es freilich ohne die Sylter Lyrics. Aber dennoch: Wie kommt es? Man darf vermuten und spekulieren, dass Europa auf Deutschland schaut und genau mitbekommt, was hier los ist. Und zwar seit geraumer Zeit. Vermutlich schaut man mit einer gewissen Faszination auf dieses zentraleuropäische Land und fragt sich, was hier eigentlich los ist. Als alle Welt die Pandemie für beendet erklärte, zogen die Deutschen die Maßnahmen noch weiter durch. Das hat schon viele im Ausland befremdet. Mit dem Ukrainekrieg und der fast zeitgleich ins Amt kommenden Bundesregierung unter Olaf Scholz dürfte sich die verwunderliche Betrachtung dieses Landes noch verschärft haben.
Dazu reicht nur ein Name: Annalena Baerbock. Ihre Auftritte sind nicht nur in Europa bekannt — sie sind in aller Welt legendär. Die anderen schauen auf Deutschland und scheinen in einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen gebannt zu sein. Was ist mit den Deutschen denn los? Sie sind hysterisch, kriegen kaum noch was von der Wirklichkeit mit.
In ihrem Land wohnen Kreaturen, die aussehen wie verbitterte Menschen im ehemaligen Ostblock. Ergraute Wesen, denen man ansieht, dass sie unglücklich sind, sich nicht mehr alles leisten können und sich nicht mehr frei fühlen. Deutschland: Das ist der kranke Mann Europas — und krank ist er auf vielen Ebenen.
Als ich vor einigen Wochen in Alanya war, kam ich mit einer jungen Türkin ins Gespräch. Sie servierte mir Granatapfelsaft, und wir plauschten etwas. Sie wollte wissen, woher ich komme. Frankfurt war ihr ein Begriff, weswegen ich sie fragte, ob sie Frankfurt kenne, schon mal da gewesen sei. Sie sagte, sie sei mal in Deutschland gewesen. Für sie sei das, sie entschuldigte sich dabei, „a place of depression“. Dunkel und traurig. Für sie war das Land bedrückend. Als sie wieder fortging und ich an meinem kühlen Saft süffelte, dachte ich mir: Wie sich die Zeiten doch ändern! Ihr Großvater wollte womöglich noch nach Deutschland. Denn das Land verhieß Verdienstmöglichkeiten und sozialen Aufstieg. Seine Enkelin lehnt das ab. Deutschland klingt für sie nicht wie eine Verheißung, sondern wie eine Drohung.
Die Bahn: ein Entschuldigungsdienstleister
Der schottische Fanverband hat die schottischen Fußballfans schon vor dem Turnier gewarnt: Brecht rechtzeitig zum Stadion auf, nehmt euch Zeit, dorthin zu kommen. Ihr werdet sie brauchen, riet man ihnen. Denn in Deutschland ist der Nahverkehr nicht intakt, Züge kommen oft gar nicht. Leider wurden die Österreicher nicht gewarnt. Etliche Fans haben die erste Halbzeit des Spiels ihrer Auswahl gegen die französische „Équipe Tricolore“ in Düsseldorf verpasst. Die Fahrt sollte acht Stunden dauern, aber in den Tiefen Bayerns bremsten Streckenarbeiten den Zug aus. Schienenersatzverkehr sollte die Reisenden weiterbringen — Ansage der Bahn-Mitarbeiterin: Wir wissen nicht, wie viele Busse überhaupt kommen. So zitierten sie jedenfalls die Fans aus der Alpenrepublik im Nachhinein.
Die Deutsche Bahn bedauerte das hernach natürlich sehr und bat wie immer um Entschuldigung. Wir kennen das hier ja zur Genüge. Wer in Deutschland lebt, der weiß, dass die Bahn ein reumütiges Unternehmen ist. Es entschuldigt sich täglich millionenfach. Dieses Ritual des Entschuldigens ist das Einzige, was noch funktioniert im Betrieb dieses Unternehmens. Hier ging sie aber weiter, sie stellte in Aussicht, „individuelle Lösungen zur Wiedergutmachung zu finden“. Sollte die Bahn die Eintrittskarten für das EM-Spiel übernehmen, muss man das künftig als Bahnkunde als Präzedenzfall anführen, um demnächst verpasste Konzerte, Meetings oder Flüge in Rechnung zu stellen.
Dieses Land ist auf so vielen Ebenen am Ende, man spürt es dieser Tage ganz deutlich. Und mit uns die Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen. Deutschland hat sich über Jahrzehnte selbstsicher und arrogant gegeben. Kranker Mann Europas: So hat man sich Ende der Neunzigerjahre gesehen — und reagiert. Und zwar mit der Agenda 2010, einem drastischen Sparhaushalt und starker Investitionszurückhaltung. Die Armut wuchs, man ignorierte das — war gar stolz auf den Niedriglohnsektor.
Nach und nach erodierte der gesellschaftliche Zusammenhalt. Heute ist Deutschland einer starken Tribalisierung unterworfen. Das Land lief nebenher auf Verschleiß. Und genau das hat man den europäischen Nachbarn etwa vorgeschlagen — oder via Troika auferlegt.
Deutschland war in jenen Jahren, als es europäische Sparpolitik gestaltete, bereits eine todkranke Transperson — ich wollte nicht „Mann“ schreiben, weil das nach deutscher Lesart 2024 sexistisch ist und weil diese ausufernde Ideologisierung auch ein Thema ist, das das zeitgenössische Deutschland ausmacht. Und todkrank, wie es war, lief es umher und wollte den restlichen Kontinent anstecken. Die Bürger unserer europäischen Nachbarn werden daheim zu berichten wissen: Deutschland ist nicht mehr das, für was es mal stand. Alles, was du zu wissen glaubst über die Deutschen, solltest du vergessen. Deutschland den Deutschen — lass uns Urlaub in Rumänien machen.
Anmerkungen
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 26. Juni 2024 bei manova.news +++ Bildquelle: Veronika-1991 / shutterstock
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