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Reiseroute: Kriegsgefahr | Von Wolfgang Effenberger

Reiseroute: Kriegsgefahr | Von Wolfgang Effenberger

Sowjetunion/Russland 1977 und 2023/24 – China 2025

Ein Meinungsbeitrag von Wolfgang Effenberger.

Nach 12 Jahren Dienstzeit beendete Wolfgang Effenberger 1976 seine Offizierslaufbahn. In seiner letzten Verwendung war er an der vorbreitenden Befehlsgebung gemäß des General-Defense-Plans (GDP) – Ausschnitt Grenze zur damaligen Tschechoslowakei beteiligt. Der GDP war nur einem eng begrenzten Kreis von Geheimnisträgern (Streng geheim) zugänglich, die einer intensiven Sicherheitsüberprüfung unterlagen (und somit auch nicht in den Ostblock hätten reisen dürfen). Um sich jenseits der beginnenden Nachrüstungs-Propaganda ein Bild zu machen, fuhr Effenberger dennoch.

2007 hatte Altkanzler Helmut Schmidt und Herausgeber DER ZEIT in einer flächendeckenden Kampagne darüber berichtet, dass er als Verteidigungsminister 1969 auf Pläne der NATO und der deutschen Militärs gestoßen sei, entlang der Zonengrenze (Grenze zu damaligen DDR) „Hunderte atomarer Landminen zu vergraben“. Gemeinsam mit seinem US-Kollegen Melvin Laird habe er „diesen todgefährlichen Unfug“ (1) jedoch beseitigen können.

„Mit diesem ‚todgefährlichen Unfug‘ habe ich mich 1973 als junger Pionierhauptmann beschäftigen müssen“, schrieb ich, inzwischen Major der Reserve, am 7. Dezember 2007 an Helmut Schmidt und die Zeit-Redaktion. „In der Funktion als Mobilmachungssachbearbeiter eines Korps-Pionierbataillons musste ich den General-Defense-Plan umsetzen, während für meine Zweitverwendung als Wirkungsberater die Dienstanweisung u. a. das Erkunden und Vorbereiten von ‚Atomic Demolition Munition‘ (ADM)-Sperrpunkten vorsah.“

Anfang der 80er-Jahre sei dies sogar „weiter gesteigert“ worden. Die Pioniertruppe habe für das Versenken von Atomminen im Boden „modernste Bohrtechnik erhalten“. Bei der Explosion der Minen wären dann bis über 200.000 Kubikmeter Erdreich in die Luft geschleudert worden „und nach einer Minute als verstrahlter Niederschlag auf Mensch und Tier geregnet. Das potentielle Schlachtfeld Deutschland war jedenfalls bestens präpariert für diese Art des Waffengangs mit dem Feind aus Osten.“ Eine Antwort blieb aus.

Zum Nachweis: Auf dem Befehlspapier von 1973 habe ich die geheime Arbeitsplatzbeschreibung abgetippt. ADM (Atomic Demolishion Munition) sind Atomsprenkörper:

  • Erkunden von ADM-Sperrpunkten,
  • Erarbeiten vonWirkungsanalysen,
  • Vorbereiten von ADM-Einsätzen

In der Führungsvorschrift der Bundeswehr (TF/G) Ziffer 3326: Pioniere wurde festgehalten: Beim Gefecht unter atomaren Bedingungen eignen sich Atomsprengladungen besonders zum "Unterbrechen des Verkehrsnetzes" und zum "nachhaltigen Sperren von Engen." (2)

Sicherheitspolitische Situation der Bundesrepublik 1977

Für die „Strategie der flexiblen Erwiderung“ (ab 1967 formell von der NATO angenommen) standen auf dem Gebiet der Bundesrepublik annähernd 2.000 Atomsprengkörper von kleinsten bis zu größten Detonationswerten bereit. (3) Von Jagdbombern ins Ziel geflogen, von Raketen als Gefechtskopf 30 bis 150 Kilometer ins Ziel getragen oder als Nuklear-Munition der Artillerie über 15 Kilometer verschossen und letztlich als „Atomminen“ von den Pionieren unter die Erde gebracht. Die Ziele legte alljährlich die nukleare Planungsgruppe der NATO im Handbuch „Nuclear Yield Requirements“ fest. Nach dem NATO-Operationsplan (4) von 1981 sollten die Angriffsgruppierungen der Streitkräfte des Warschauer Vertrags so nah wie möglich an der Staatsgrenze BRD/DDR zum Stehen gebracht und die eingebrochenen Kräfte durch die Führung von Gegenangriffen bzw. den Einsatz von Kernwaffen zerschlagen werden, wobei dem Einsatz von Nuklearwaffen als eskalierendem Element beträchtliche Bedeutung beigemessen wurde. (5)

Zudem war man überzeugt, die Folgeschäden wie atomarer Niederschlag (Fallout), freigesetzte Strahlung und Kollateralschäden kontrollieren und minimieren zu können. Das potenzielle Schlachtfeld Deutschland war jedenfalls bestens präpariert für diese Art des Waffengangs mit dem Feind aus Osten. (6)

Manipulierte Stärkevergleiche zwischen NATO und Warschauer Vertragsstaaten

In den 70er Jahren wurde es für viele bundesdeutsche Politiker und Journalisten fast schon ein Sport, die Überlegenheit des Warschauer Pakts mittels Piktogrammen samt akribischen Aufzählungen von Soldaten, Divisionen, Panzern und Flugzeugen nachzuweisen. Diese „Erbsenzählerei“ sagte indes wenig über das tatsächliche Kräfteverhältnis aus, da sie qualitative und militärstrategische Aspekte außen vorließ. Für die politischen Absichten im eigenen Land war sie jedoch äußerst wertvoll – ermöglichte sie doch unter dem Deckmantel der „Objektivität von Zahlen“ eine gezielte Manipulation zur Erhöhung der Wehrbereitschaft und des Wehretats. (7) In diesem Sinne verwendete das Weißbuch 1973/1974 ausschließlich Indikatoren, die eine Überlegenheit des Warschauer Pakts zu beweisen scheinen, während die eigenen Rüstungsverstärkungen unterbewertet oder übergangen werden.

Dabei hat man immer Äpfel mit Birnen verglichen. Das Zauberwort für die NATO hieß hier „assignierte“ Verbände. Die Vertragsstaaten – bis auf die Bundesrepublik – unterstellten ja nur Teile ihrer Streitkräfte der NATO. Und nur mit diesen unterstellten Truppen konnte der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber in Brüssel rechnen. Dem sowjetischen Oberbefehlshaber unterstanden alle Truppen der WVO. Er musste jedoch davon ausgehen, dass im Kriegsfall die NATO-Partner mit nur einer Unterschrift alle Streitkräfte den USA unterstellen würden.

Die Darstellung der NATO und des Warschauer Pakts während des Kalten Krieges erfolgte häufig mit verzerrten Vergleichen, die die NATO systematisch in ein positives Licht rückten und den Warschauer Pakt als übermäßig militarisiert darstellten.

Ein typisches Beispiel war die Gegenüberstellung von Rüstungsausgaben anhand des Anteils am Bruttoinlandsprodukt (BIP), insbesondere in Berichten aus den 1970er Jahren. Oft wurde der Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP direkt verglichen: 1977 etwa investierten die USA laut Schätzungen circa 3,4 % ihres BIP in das Militär, wohingegen die Sowjetunion vermeintlich etwa 13,5 % aufwandte. Aus diesen Zahlen wurde oftmals ein extremes strategisches Übergewicht des Ostblocks konstruiert.

Die Vergleichbarkeit dieser Prozentwerte war jedoch stark eingeschränkt: Die volkswirtschaftlichen und statistischen Grundlagen der BIP-Berechnung unterschieden sich fundamental zwischen West und Ost, da die sozialistischen Länder andere Preis-, Waren- und Leistungsstrukturen hatten. Die sowjetischen Zahlen waren oft in Rubel angegeben, deren Umrechnung in US-Dollar problematisch war und zu erheblichen Verzerrungen führte. (8)

Trotz kennzahlenbasierter Übertreibungen konnten die Warschauer-Pakt-Staaten wirtschaftlich tatsächlich deutlich weniger in Rüstung investieren als der Westen: Die westeuropäischen Staaten sowie die USA verfügten über weit stabilere und größere Wirtschaftssysteme, sodass nominell weniger Prozent vom BIP bereits größere absolute Summen bedeuteten. Die technologische Leistungsfähigkeit und die Produktionsbedingungen im Westen waren dem Osten klar überlegen, was sich in Waffentechnologie, Ausbildung und Forschungsbudgets niederschlug.

Die häufig verwendeten Prozentvergleiche suggerierten ein sowjetisches Übergewicht, das in der Realität so nicht existierte. Die viel größeren absoluten Ausgaben, die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und strukturelle Unterschiede zwischen den Wirtschaftssystemen machten direkte Vergleiche unsachlich und als Argumentationsgrundlage propagandistisch verzerrt. (9)

1977 wurde von Helmut Schmidt die Nachrüstungsdebatte losgetreten

Mit dem öffentlichen Hinweis von Bundeskanzler Helmut Schmidt auf eine strategische Bedrohung durch die neuen sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen wurde der Weg zu einer dramatischen Aufrüstung beschritten. Der Autor konnte damals diese Bedrohung keineswegs erkennen. Als ehemaliger Atomarer Wirkungsbereater war er sogar dankbar für die Modernisierung der sowjetischen SS-4 und SS-5 durch SS-20. Warum?

Die beiden alten Systeme hatte eine Zielgenauigkeit im Kilometerbereich und trugen deshalb Sprengköpfe im Megatonnenbereich. Die SS-20 traf dagegen im Hundertmeterbereich. Zudem ermöglichten es die Mehrfachsprengköpfe (MIRV), verschiedene militärische Objekte wie Kommandozentralen, Waffendepots oder Truppenstellungen präzise zu bekämpfen. So erlaubte die höhere Genauigkeit eine flexible Reaktion und reduzierte Kollateralschäden für die Zivilbevölkerung. Das war ein wesentlicher Faktor für die veränderte militärische Einsatzdoktrin, die auf flexible, abgestufte Eskalation und den Abschreckungseffekt durch die gezielte Vernichtung von Schlüsselzielen setzte. Auch in der Reichweite gab es keine strategische Veränderung:

SS-4 und SS-5 konnten bereits ganz Europa bedrohen, nicht aber die USA. Das galt auch für die SS-20 (abgesehen von einem kleinen Teil Alaskas). Die hohe Zielgenauigkeit mit den geringeren Sprengköpfen bedeutete, dass sie gezielter militärische Ziele treffen konnte und für die Zivilbevölkerung tatsächlich ein geringeres Zerstörungspotenzial pro Sprengkopf darstellte. Die SS-20 war mobil, schnell einsatzbereit und schwerer zu entdecken, während die älteren Raketen stationär und umständlich zu starten waren.

Trotz dieser technischen Fakten wurde in der öffentlichen und politischen Debatte des Westens – insbesondere der NATO – die Bedrohung durch die SS-20 stark betont. Die Argumentation, die SS-20 ermögliche der Sowjetunion einen „abgekoppelten“ Atomkrieg gegen Europa ohne Einbeziehung der USA, wurde politisch genutzt, um die Nachrüstung zu rechtfertigen. Die technischen Unterschiede (Präzision, Sprengkraft, Zielsetzung) und die Tatsache, dass Europa bereits durch SS-4/5 vollständig bedroht war, wurden in der öffentlichen Debatte kaum differenziert dargestellt.

Die qualitative Verbesserung der SS-20 wurde politisch als neue Bedrohung dargestellt, während die tatsächlichen Unterschiede zu den Vorgängermodellen und die potenziell geringere Zerstörungskraft für die Zivilbevölkerung in der öffentlichen Diskussion kaum thematisiert wurden. Die Argumente der NATO zielten auf politische Mobilisierung, nicht auf eine differenzierte technische Bewertung.

Aufgrund seiner Einsicht in die Kriegsplanung und aufgrund der Manipulation des Stärkevergleichs und der ständig übertriebenen Bedrohungsanalysen hatte Wolfgang Effenberger schwerwiegende Zweifel an einer objektiven Berichterstattung der Medien und wollte sich trotz aller berechtigten Bedenken (Geheimnisträger) ein eigenes Bild machen. Angeischts der aufgeflammten Nachrüstungsdebatte wollte er erkunden, ob die Sowjetunion wirtschaftlich in der Lage war, einen längeren Krieg zu führen. Da die sowjetische Rüstungsindustrie vor allem in der Region Swerdlowsk angesiedelt war (und noch ist), hoffte er, sich als Bauingenieur und Pionieroffizier ein Bild von der Wirtschaftskraft und dem Zustand der Infrastruktur machen zu können.

Mit selbsterteiltem Erkundungsauftrag nach Irkutsk

Die 1977 erstmalig von Studiosus angebotene Russlandfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn war in einer Zeit, in der Reisen in die Sowjetunion noch außergewöhnlich waren, ein besonderes Erlebnis und gab die Möglichkeit, das "unbekannte Russland" intensiv kennenzulernen und mit Menschen und Kulturen jenseits des Eisernen Vorhangs in Kontakt zu kommen. (10)

Nach den obligaten Besichtigungen in Moskau – Basiliuskathedrale, Lenin-Mausoleum usw. ging es dann ab dem 3. Tag mit der transsibirischen Eisenbahn durch die russische Tiefebene über den Ural durch die Schwerindustrieregion Swerdlowsk nach Sibirien mit Zwischenstation Novosibirsk samt Besuch von Akademgorodog. Für die … bis hin zum legendären Baikalsee bei Irkutsk.

Für die wechselnden Landschaften und die Weite Sibiriens samt den endlosen Birkenwäldern, Steppen und Flüssen, die durchaus ein Gefühl von Unendlichkeit und Abenteuer vermittelten, hatte der Kundschafter des Friedens wenig Zeit. Ihn interessierten vor allem die Infrastruktur entlang der Transsib samt angesiedelter Industrie. Während der dreitägigen Zugfahrt über 5.000 Kilometer wurde der Fahrplan perfekt eingehalten, und die robuste Lokomotive arbeitete wie ein Uhrwerk. Die Eisenbahnbrücken über Ob, Jenissei und Angara waren ältere Stahlkonstruktionen und auf den ersten Blick in einem guten Zustand. Beeindruckend der zwischen 1950 und 1959 erbaute Staudamm an der Angara bei Irkutsk. Er hat eine installierte Leistung von 660 MW und staut die Angara bis zu einer Höhe von etwa 28 Metern auf. Das waren die positiven Eindrücke. Fast durchweg erschienen die Fabrikanlagen jedoch in einem desolaten Zustand – ähnlich Bitterfeld 1989. Auf riesigen Rangierbahnhöfen standen beladene Waggons, durch deren Radnaben meterhoch das Unkraut wuchs, was auf mangelhafte Logistik schließen ließ.

Flughafengebäude von Irkutsk - Bildquelle: Wolfgang Effenberger

Abschließend sollte über Bratsk zurück nach Moskau geflogen werden. Im Flughafengebäude von Irkutsk machte sich Wolfgang Effenberger, gedeckt von einem Store, bereit, das Vorfeld zu fotografieren. In unmittelbarer Nähe parkten zwei zweimotoriges Propeller-Transportflugzeuge vom Typ Iljuschin Il-14. Nachdem Dutzende von Bäuerinnen mit ihren Gemüse- und Obstkörben die Maschinen bestiegen hatten, flogen sie nach Moskau – wer wurde denn dort damit versorgt? Nun war das Vorfeld frei. In circa 1.000 Meter Entfernung standen in der Morgensonne glitzernd neue MIG-21 – die Ikonen des Kalten Krieges.

Die sowjetische Luftwaffe war also in jeder Hinsicht ernst zu nehmen. In diesem Moment näherten sich Stiefelschritte. Ein sowjetischer Luftwaffenhauptmann schob den Store beiseite und deutete mit zugekniffenen Lippen, die Kamera einzupacken. Im gleichen Moment hatte Wolfgang Effenberger ihm die überkreuzten Hände entgegengehalten, ihm war klar: Das bedeutet jetzt mindestens zwei Jahre im Gulag. Doch – nichts. Der Hauptmann entfernte sich stillschweigend.

Nun galt es, die Erkenntnisse in die Nachrüstungsdebatte einzubringen

Da fügte es sich, dass Hauptmann Effenberger mit weiteren Reserveoffizieren vom Leutnant bis zum Oberstleutnant Ende Januar 1978 zu einer mehrtätigen Übung an die Schule für Innere Führung einberufen wurde.

Inzwischen war das Thema Nachrüstung angesichts der damaligen politischen Lage in Europa besonders relevant und sollte auch an der Schule entsprechend intensiv behandelt werden. Die Offiziere sollten Argumente für die Nachrüstung finden. Effenberger trug dort seine Erkundungsergebnisse vor und wurde von einigen Teilnehmern verdächtigt, nun hier als Doppelspion tätig zu sein, da sich die Wenigsten vorstellen konnten, dass man ihn in Irkutsk hat unbehelligt hat laufen lassen. Effenberger erwartete nun, dass er sich wegen seines Dienstvergehens verantworten müsste. Doch nichts geschah. Am letzten Abend fand in einem Weinkeller eine Weinprobe statt. Effenberger wurde in einen Nebenraum befohlen – endlich der MAD? Nein, es war der stellvertretende Schulkommandeur. Er hatte einen Tisch mit Köstlichkeiten vorbereitet und wünschte sich nur, sich mit ihm unterhalten zu können. Er selbst sei in seinen Studien zum gleichen Ergebnis gekommen, es wolle aber niemand hören. Er bat Herrn Effenberger um Verständnis dafür, dass er nicht mutiger war, und verwies auf seine jüngste Tochter, die im nächsten Jahr in Koblenz ihr Abitur machen würde. Er habe nur noch drei Dienstjahre und wolle seiner Familie nicht noch einen Umzug zumuten.

Drei weitere Reisen führten Wolfgang Effenberger später nach Russland: 2017 als Redner anlässlich einer Kongresswoche schweizerischer Anthroposophen in Petersburg während der Gedenkfeiern 100 Jahre russische Revolution, 2023 nach Jekaterinburg zu Geschäftsfreunden, dort Abendessen mit dem deutschen Generalkonsul, 2024 Anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant, Rede vor dem Kantdenkmal – Aufzurufen unter: wolfgangeffenberger.com

Erkundungsreise durch China

Der Entschluss, eine Erkundungsreise durch China zu machen, geht auf das TRADOC-Dokument “Win in a Complex World 2020-2040” vom September 2014 – ein halbes Jahr nach dem vom Westen orchestrierten Putsch auf dem Maidan – zurück. Darin erhielten die US-Streitkräfte den Auftrag, in den beiden Dekaden die von China und Russland ausgehende "Bedrohung abzubauen".

„Win in a Complex World“ dient im Kern der militärischen Sicherung der unipolaren Weltmachtstellung der USA. Es beschreibt, wie das US-Militär in einem vielschichtigen globalen Wettbewerb gegen China, Russland und andere Rivalen operieren soll, um die USA als dominante Macht zu behaupten und ihre strategischen Interessen langfristig zu wahren. (11)

Das Dokument ist eng mit der nationalen Sicherheitsstrategie vom Oktober 2022 verbunden, die explizit eine dauerhafte Überlegenheit der USA anstrebt. Diese dauerhafte Sicherung von Vorteilen ist Ausdruck eines imperialistischen Selbstverständnisses. Die US-Streitkräfte sollen in einem Multidomain-Ansatz (Land, Luft, See, Weltraum, Cyber) aggressive Gegenmaßnahmen ergreifen, um Konkurrenten „zu penetrieren, zu disintegrieren und auszunutzen“ und so die Handlungsspielräume der Gegner zu minimieren.

Schon in den Vorgängerdokumenten (13) wurde die Rolle der US-Streitkräfte für das 21. Jahrhundert umrissen, des „Jahrhunderts des weltweiten Kriegs widerstreitender Ideologien“. (14) Darauf sollte sich die US-Armee einstellen und zwei Prämissen beachten: „den rapiden technischen Wandel und die Neuordnung der Geostrategie“. (15) Dazu sah das strategische Instrumentarium neben dem Krieg zwischen Großmächten (General War), dem größeren Regionalkrieg (Major Regional Conflict) und dem begrenzten Regionalkrieg (Limited Regional Conflict) auch die Einflussnahme durch OOTW (Operations Other Than War) vor. Der Weg in den beabsichtigten Krieg führt über die gezielte Destabilisierung des Staates, bei dem man zum eigenen Vorteil einen „Regime Change“ herbeiführen will. Die in dem TRADOC-Dokument von 1994 beschriebenen Stufen sind in der Ukraine gut zu beobachten: Aufruhr (Maidan), Krise (Slawjansk) und Konflikt (Krim) und schließlich der Krieg.

Der unter Präsident Donald Trump eingesetzte US-Sondergesandte für die Ukraine und Russland, General Keith Kellogg – er hat im März 2025 auf Druck Putins seine Zuständigkeit für Russland verloren – agiert nun hauptsächlich als Verbindung zwischen den USA und der ukrainischen Führung. In der Senatsanhörung vom 28. Februar 2023 hat sich General Kellogg über den Fall, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld in die Knie gezwungen werden sollte, dahingehend geäußert, dass sich der Krieg dann zu einem umfassenderen regionalen Konflikt ausweiten könnte, in den auch andere europäische Verbündete der Vereinigten Staaten verwickelt werden.

Senator Rick Scott befragte den 3-Sterne-General Keith Kellogg:

„Aber warum hat Deutschland nicht seinen Teil zur tödlichen Hilfe beigetragen?“

Die Antwort des Generals:

„Ich glaube, Deutschland spielt in Europa im Moment keine Rolle mehr“.

Anschließend schwärmte der General dem Senator vor:

„Wenn man einen strategischen Gegner besiegen kann und dabei keine US-Truppen einsetzt, ist man auf dem Gipfel der Professionalität, denn wenn man die Ukrainer siegen lässt, ist ein strategischer Gegner vom Tisch, und wir können uns auf das konzentrieren, was wir gegen unseren Hauptgegner tun sollten, und das ist im Moment China... wenn wir dabei scheitern, … müssen wir vielleicht einen weiteren europäischen Krieg führen, das wäre dann das dritte Mal.“ (17)

Nun, die USA scheitern gerade in der Ukraine!

Könnte nun laut General Keith Kellogg der dritte große europäische Krieg kommen?
Die USA scheinen in einer Situation zu sein, in der als Ausweg nur noch der umfassende Krieg gesehen werden kann. Die militärischen und infrastrukturellen Vorbereitungen laufen zumindest auf Hochtouren. Vor diesem Hintergrund wurde die KI (Perplexity/Deep Seek) befragt:

Welche Relevanz hat heute das US-Langzeitstrategie-Papier „Win in a Complex World 2020-2040“? Die Antwort war deutlich:

„… hat heute große Relevanz für die Ausrichtung und Entwicklung der US-Armee und ihrer operationellen Konzepte. Nach Punkt 2.4 und Kernabschnitten des US-Strategiepapiers 'Win in a Complex World 2020–2040' ist das explizite Ziel der US-Streitkräfte, im Verbund mit Alliierten und multinationalen Kräften den von Russland und China ausgehenden Bedrohungen aktiv zu begegnen, sie abzubauen und im Ernstfall militärisch zu siegen. Das Dokument nimmt dabei eine klare sicherheitspolitische Ausrichtung auf die Möglichkeit auch großangelegter Konflikte und Kriege gegen technologische und militärische Gleiche oder annähernd Gleichwertige wie eben Russland und China.“

Während in Deutschland die Leitmedien dieses Dokument kaum oder gar nicht thematisieren, ist es in der restlichen Welt durchaus von Bedeutung. China scheint sich der drohenden Gefahr bewusst zu sein und macht einen – militärisch wie mental – verteidigungsbereiten Eindruck. Das war für die Welt am 3. September 2025 – dem 80. Jahrestag des Sieges über Japan und damit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sichtbar. In seiner Rede ging Xi Jinping auf die 5.000-jährige Geschichte Chinas ein – im Logo die stilisierte Mauer – und auf die beiden japanischen Angriffskriege (1894 mit Annexion Taiwans und von 1937-45). Unvergessen auch die 200 Jahre Leid und Demütigungen durch den Westen (Opiumkriege und ungleiche Verträge). Und nun droht wieder ein Angriff auf China durch den Westen und Japan. Angesichts dieser Geschichte muss China nicht kriegstüchtig gemacht werden, es ist vorbereitet.

Von dieser Einstellung konnte sich Wolfgang Effenberger während seiner Reise überzeugen. Zu Zig-tausenden strömen die Chinesen zu den Höhepunkten ihrer eindrucksvollen Geschichte: die Verbotene Stadt, der Mauer, der Ausgrabungsstätte der Terrakotta-Armee. An den Gesichtern ist der Stolz auf diese Vergangenheit abzulesen.

Weitere Informationen dazu finden Sie in den apolut-Artikeln:

Die Überwachung funktioniert: Kaum Kriminalität, keine erfolgreichen Umsturzversuche von außen

Davon konnte sich Wolfgang Effenberger überzeugen: Am 16. September 2025 wollte er auf dem Platz des Himmlischen Friedens eine Grußbotschaft aufnehmen. Nach der Begrüßung und einem Kameraschwenk rund um den Platz unterbrachen nach 43 Sekunden 2 Polizisten das Vorhaben – am Rücken die vorbereiteten Sprechnotizen. Nachdem der Text übersetzt war und es keine Beanstandungen gab, konnte er weiter fotografieren und auch Videoaufnahmen machen, aber ohne gesprochenes Wort.

Platz des Himmlischen Friedens am 16.9.25 - Bildquelle: Wolfgang Effenberger

Die Kameraüberwachung scheint bei den meisten Chinesen kein großes Problem zu sein, liegen doch die sichtbaren Vorteile auf der Hand: Kaum Kriminalität, überall rücksichtsvolle Sauberkeit, und das auch in den zahlreichen öffentlichen Toiletten. Was in den Städten und auf den Autobahnen auffällt, ist der sichtbare Wohlstand eines breiten Mittelstands, der auch gern gezeigt wird.

Bestimmten vor fünfzig Jahren in China und der Sowjetunion noch von zentralen Planern entworfene Fünfjahrespläne die Produktion, so ist China heute der weltweit größte Exporteur und fest in den globalen Marktkapitalismus eingebunden: „Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten“?

Der große Stern in der chinesischen Staatsflagge symbolisiert die Kommunistische Partei Chinas. Sie gibt lediglich die große strategische Richtung vor. Ein dynamisches Zusammenspiel zwischen privaten Firmen, Staatsbetrieben und lokalen Behörden – alle im Wettbewerb, ehrgeizige Vorgaben zu erreichen – hat die Leistungsfähigkeit in den letzten Jahren sichtbar unter Beweis gestellt und China wirtschaftlich zu einem der dynamischsten Schauplätze weltweit gemacht. Inzwischen arbeiten auch Staatsbetriebe nach marktwirtschaftlichen Regeln.

Gleichzeitig verfolgt die KPC das Ziel, Wohlstandsunterschiede zu verringern und eine „gemeinsame Prosperität“ zu erreichen. (18) Jensen Huang, Gründer und CEO von NVIDIA, dem unbestrittenen Marktführer für Mikrochips, die für Künstliche Intelligenz und Deep Learning eingesetzt werden, bezeichnete China sogar als „unterreguliert“ – sprich: Unternehmer genießen dort mehr Freiheit als in den USA, von Deutschland ganz zu schweigen“. (19) John L. Thornton, ehemaliger Vorsitzender von Goldman Sachs Asia, sagt:

„Die KPCh funktioniert eher wie eine meritokratische Elite als wie eine traditionelle Partei – vergleichbar mit der historischen Mandarinenklasse. Sie ist leistungsorientiert, ähnlich wie das US-Militär.“ (20)

Im Unterschied zur stetig wachsenden und prosperierenden chinesischen Mittelschicht – der größten der Welt – schrumpft die Mittelschicht im Westen, und die Demokratie driftet Richtung Oligarchie.

Hatte 1977 Wolfgang Effenberger nach seiner Erkundungsfahrt Russland als unfähig, einen längeren Krieg zu führen, eingeschätzt, so hält er China heute für absolut verteidigungsbereit. Die USA werden ihr Ziel „Win in a Complex World 2020-2040“ daher mit Sicherheit verfehlen.

Quellen und Anmerkungen

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete "atomare Gefechtsfeld" in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm: „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022)

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(1) Von Altkanzler Helmut Schmidt bereits im Spiegelinterview vom 11.6.2001 behauptet.

(2) 1985 listete das „US-Army Field Manual 5-102“ Tunnel, Autobahnen und große Brücken, Dämme, Kanäle, Flugplätze, Häfen, Industrieanlagen, Verschiebebahnhöfe, Kraftwerke und schmale Täler als mögliche Einsatzorte auf. „Doch nicht nur zum Stoppen des Vormarsches feindlicher Verbände, sondern auch zum Angriff sind Mini-Nukes eine feine Sache“, schwärmten die Autoren uner Field Manual No. 5-102, 14.3.1985

(3) Vgl. Reiner Pommern: General Trettner und die Atom-Minen. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Jahrgang 39 (1991), Heft 4, S. 640 sowie Fußnote 12: NHP-Zeitzeugenbefragung “Die Nuklearpolitik der Bundesrepublik Deutschland“ vom 13.Juli 1987 in Bonn, Unveröffentlichte Abschrift des Tonbandprotokolls, S. 17.

(4) So im Operationsplan 33001 (GDP) V. Armeekorps/USA vom 1. Januar 1981.

(5) Für den Fall, daß den BRD-Behörden die Kontrolle über die Bevölkerungsbewegen verloren geht, wurden die Kommandeure ermächtigt, die direkte militärische Kontrolle über diese Bewegungen zu übernehmen

(6) Auf der NATO-Schule in Oberammergau wurden sogar noch 1983 (und vermutlich darüber hinaus) Kommandeure im taktischen Einsatz von ADM unterrichtet.

(7) Vgl. Bielefeldt/Krell/Tiedtke: Aufrüstung durch Rüstungsvergleiche. In Bielefeldt et al. 1973

(8) https://de.statista.com/themen/5811/kalter-krieg/

(9) https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/download/1537/1479/2930

(10) https://www.studiosus.com/ueber-studiosus/unternehmensgeschichte

(11) https://adminpubs.tradoc.army.mil/pamphlets/TP525-3-1.pdf

(13) TRADOC-Dokumente 525-5 (vom 1. August 1994) bis 52-7-7 (vom 22. Februar 2010)

(14) Wolfgang Effenberger/ Willy Wimmer: Wiederkehr der Hasardeure. 2014 Höhr-Grenzhausen, S. 407

(15) Ebda.

(17) https://www.congress.gov/118/crec/2023/02/28/169/38/CREC-2023-02-28-dailydigest.pdf; https://www.youtube.com/watch?v=tmmPHvlbdwI

(18) https://forumgeopolitica.com/de/artikel/china-neu-denken-weder-kommunismus-noch-kapitalismus-eine-leistungsmeritokratie-mit-chinesischem-charakter

(19) Ebda.

(20) Ebda.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Transsibirische Eisenbahn
Bildquelle: ZekeriyaSen / shutterstock


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