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Pseudo-Hilfen mit Ätsch-Effekt | Von Prof. Dr. Martin Schwab

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Ein Standpunkt von Prof. Dr. Martin Schwab.

Eine Kosmetikerin bekommt im ersten Lockdown 9.000 Euro Soforthilfe. Einen großen Teil fordert das Land NRW später zurück. Die Kosmetikerin klagt und bekommt in beiden Instanzen Recht. Vorerst. Denn das dicke Ende könnte erst noch kommen.

Lädt man das Urteil des OVG Münster vom 17. März 2023 – 4 A 1986/22 von der Datenbank OpenJur herunter, bekommt man ein pdf-Dokument mit 29 eng bedruckten Seiten. Viel Mühe hat man sich in Münster gegeben, um die folgenden rechtlichen Aussagen zu begründen:

  1. Der Empfänger dürfe die Hilfsgelder nicht schon dann behalten, wenn er Lockdown-bedingten Umsatzausfall in entsprechender Höhe nachweisen könne. Das Geld diene nur dazu, einen Liquiditätsengpass oder eine wirtschaftliche Notlage zu überbrücken – die natürlich ihrerseits ebenfalls durch den Lockdown bedingt sein müssten.
  2. Wer die Soforthilfe bis zum 1. April 2020 »gegen 13.30 Uhr« bewilligt bekommen habe, habe das Geld außer für betriebliche Ausgaben auch für seinen Lebensunterhalt verwenden dürfen. Daran habe auch eine spätere Neuformulierung der Förderrichtlinien nichts mehr ändern können. Wer die Bewilligung später erhalten habe, habe demgegenüber für den Lebensunterhalt ALG II beantragen müssen.
  3. Das Land NRW hatte einen Liquiditätsengpass angenommen, soweit die Ausgaben im Förderzeitraum die Einnahmen überstiegen. Die Praxis, jene Hilfen zurückzufordern, die nicht benötigt wurden, um einen so verstandenen Liquiditätsengpass zu überbrücken, sei im Bewilligungsbescheid nicht angelegt gewesen und daher rechtswidrig.

Das Land NRW dürfe aber jetzt einen neuen Anlauf nehmen und von allen Empfängern den Nachweis fordern, wofür genau die Soforthilfen verwendet worden seien. Diese Entscheidung enthält für die Empfänger der Corona-Hilfen zwei gefährliche Fallstricke:

Zum einen erwartet das OVG Münster von den Empfängern offenbar, dass sie minütlich im Internet nach aktuellen Änderungen der Förderrichtlinien fahnden. Denn wie kam die Zäsur »1. April 2020 gegen 13.30 Uhr« zustande? Das Land NRW hatte eine Internetseite »Allgemeine Fragen und Antworten zur Antragstellung« bereitgestellt. Diese wurde zwischen dem 25. März und dem 31. Mai 2020 insgesamt 15-mal geändert. Die Förderrichtlinien mutierten also schneller als das Virus. Und ausgerechnet am 1. April 2020 gegen 13.30 Uhr – genauer ließ sich das offenbar nicht rekonstruieren – wurde jene Veränderung veröffentlicht, die es den Empfängern untersagte, Hilfen für den eigenen Lebensunterhalt zu beantragen.

Die Klägerin hatte im konkreten Fall Glück: Sie hatte die Hilfe am 1. April 2020 um 10.11 Uhr beantragt und am 1. April 2020 um 10.14 Uhr, also drei Minuten später, bekommen. Also alles klar vor 13.30 Uhr. Natürlich automatisiert – aber immerhin war es dem Wirtschaftsministerium NRW in dieser kurzen Zeit gelungen, das Antragsverfahren in dieser Weise einzurichten. Wie sieht es aber mit einem Antragsteller aus, der um 14.20 Uhr letztmals die besagte Frage-und-Antwort-Seite konsultierte, dann das Antragsformular ausfüllte, um 14.35 Uhr abschickte und um 14.40 Uhr den Bewilligungsbescheid erhielt? Ist er auf einmal ein Subventionsbetrüger, wenn er das Geld für Essen und Wohnen verbraucht? Nur weil er vor Antragstellung, also eine Viertelstunde später, nicht erneut die gesamte Internetseite noch einmal studiert hat? Vom OVG Münster hätte ein solcher Antragsteller vermutlich keine Hilfe zu erwarten. Und wird sich, wenn der Rückforderungsbescheid ins Haus flattert oder gar der Staatsanwalt sich meldet, mit Recht verschaukelt fühlen.

Zum anderen stellt das OVG Münster ausdrücklich klar, dass das Land NRW gute Chancen hat, die Hilfsgelder doch noch zurückzubekommen, wenn es ein neues Verfahren zur Berechnung derjenigen Mittel etabliert, die eben nicht zur Behebung einer wirtschaftlichen Notlage oder eines Liquiditätsengpasses benötigt wurden. Das Land müsse, so das OVG, einfach nur einen Nachweis anfordern, wie der Empfänger die Corona-Hilfen verwendet hat.

Stellen wir uns das einmal bildlich vor: Die Hilfsgelder werden auf das Geschäftskonto überwiesen. Dort wird die Summe als Zahlungseingang gebucht. Die Hilfsgelder sind jetzt Teil des Kassenbestandes, der auf dem Konto liegt und können vom restlichen Vermögen des Empfängers nicht mehr unterschieden werden. Wie soll der Empfänger jetzt nachweisen, dass er bestimmte Ausgaben gerade mithilfe der Corona-Gelder bestritten hat? Zu allem Überfluss mussten die Hilfen auch noch versteuert werden. Muss der Empfänger jetzt seinen Steuerberater bitten, auszurechnen, wie hoch die Steuer 2020 ohne die Corona-Hilfen ausgefallen wäre?

Einer meiner Mandanten hatte 15.000 Euro Soforthilfe bekommen und gegen die Rückforderung geklagt. Das Land NRW hat einen Vergleich angeboten: Er zahlt 6.500 Euro und der Fall ist erledigt. Oder das Land hebt den Rückforderungsbescheid auf und fordert einen Nachweis über die Mittelverwendung. Ich habe meinem Mandanten geraten, das Vergleichsangebot anzunehmen. Denn niemand weiß, wie das künftige Verfahren um Verwendungsnachweis und Rückforderung von überzahlten Hilfen aussehen wird.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Avi Rozen / shutterstock


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