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Parallelen zum Kleinen Piks | Von Anke Behrend

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Schlafmittel des Jahrhunderts , harmlos wie Zuckerplätzchen. Contergan war als freiverkäufliches Mittel gegen Übelkeit und Schlafstörungen besonders für Schwangere angepriesen worden. Als immer mehr schreckliche Folgewirkungen zu Tage traten, hieß es, es sind nur Vermutungen.

Ein Standpunkt von Anke Behrend.

Wann immer es in Deutschland Probleme mit Medikamenten gibt, ob Duogynon, Lipobay, Vioxx oder HIV-verseuchte Blutkonserven und viele andere mehr: Eine Blaupause wird als Referenz herangezogen. Der Contergan-Skandal der 1950er und 1960er Jahre. Die historische Betrachtung muss vom damaligen Wissen und Standpunkt aus erfolgen. Parallelen zu heutigen Ereignissen sind allerdings augenfällig.

Contergan-Skandal könnte um Vielfaches übertroffen werden

Contergan, das thalidomidhaltige Schlaf- und Beruhigungsmittel war von 1957 bis 1961 auf dem deutschen und internationalen Markt. Entwickelt worden war der Wirkstoff Thalidomid, ein teratogener – das heißt, Missbildungen verursachender – Stoff, 1954 von Wilhelm Kunz und Herbert Keller unter der Leitung des deutschen Pharmakologen und ehemaligen KZ-Arztes Heinrich Mückter (vgl. Kirk, Contergan-Fall, 1999).

Seit 1933 war Mückter Mitglied der SA, trat 1937 in die NSDAP ein und betätigte sich später als Stabsarzt und stellvertretender Direktor des Instituts für Fleckfieber und Virusforschung in Krakau. Dort beteiligte er sich an der Herstellung von Fleckfieber-Impfstoff unter Anwendung medizinischer Experimente an polnischen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, die zur Zucht von Erregerläusen missbraucht worden waren und nicht selten dabei zu Tode kamen. Dem Haftbefehl der Krakauer Staatsanwaltschaft 1946 entzog Mückter sich durch Flucht und wurde noch im gleichen Jahr bei der soeben gegründeten Stolberger Firma Chemie Grünenthal GmbH eingestellt, zunächst um die Penicillinproduktion aufzubauen.

Thalidomid verursacht bei chronischem Gebrauch Nervenschädigungen und überdies innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate verschiedene Fehlbildungen vor allem der Gliedmaßen. Dafür ursächlich ist unter anderem die Blockierung eines Wachstumsfaktors (VEGF) für Blutgefäßbildung und ein Protein des Ubiquitin-Ligase-Komplexes, an welches Thalidomid bindet. Im Zuge dessen wird ebenfalls die Bildung der Gliedmaßen beeinträchtigt.

2018 konnte ein weiterer Wirkmechanismus erkannt und damit aufgeklärt werden, warum die teratogene Wirkung im Tierversuch nur bei Kaninchen und Primaten auftrat und die Versuche der Entwickler keine Missbildungen bei Mäusen und Ratten hervorrufen konnten.

Die Komplexität der Wirkungsweise von Thalidomid zeigt die mangelnde Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen. Mittlerweile sind mehr als 2.000 Arbeiten und dreißig Hypothesen zur fruchtschädigenden Wirkung von Thalidomid verfasst worden.

Harmlos wie ein Zuckerplätzchen

Contergan war als freiverkäufliches Schlafmittel und gegen Übelkeit gezielt für schwangere Frauen beworben worden und gelangte neben Deutschland in 60 Länder Osteuropas, Asiens, die USA und Australien, verschreibungspflichtig in Österreich und der Schweiz. Neben Aspirin galt Contergan als das zweithäufigst verwendete Medikament in Deutschland.

Ende 1959 griffen nach Schätzungen der Firma täglich 350.000 Einwohner der Bundesrepublik zu Contergan, 1960 waren es bereits 700.000 und ein Jahr später eine Million. Contergan generierte Millionenumsätze und erreichte einen Marktanteil von 46 Prozent bei barbituratfreien Schlafmitteln. Wohlfühlwerbung suggerierte Harmlosigkeit, Entspannung und gesunden Schlaf mit dem Schlafmittel des Jahrhunderts.

Erwacht ist Deutschland in einer Katastrophe, wie die Nachrichtenillustrierte Der Spiegel im Dezember 1962, elf Monate nach der Marktrücknahme von Contergan resümiert: Nirgendwo waren die Auswirkungen so verheerend wie in der Bundesrepublik, wo das erfolgreichste Medikament der Firma Grünenthal schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Kindern zum Verhängnis wurde.

Von diesen lebten nach Schätzungen noch rund 2.400 Menschen. Weltweit werden Opferzahlen von bis zu 10.000 genannt. Die Zahl an Todgeburten ist nicht abschätzbar.

In den 1950er Jahren existierte in Deutschland keine staatlich geregelte Arzneimittelkontrolle. Hersteller prüften ihre Produkte nach Gutdünken. Nach dem vermehrten Auftreten der Missbildungen wurde in den Medien zunächst abgewiegelt und andere Ursachen diskutiert. Atombombenversuche, schlechte Luft in Industriegebieten, Zufall. Missbildungen gab es schließlich schon immer. Und schließlich sei es nicht gerechtfertigt, breite Bevölkerungskreise mit Nachrichten zu beunruhigen, deren Stichhaltigkeit vorerst keiner statistischen Prüfung standhält , so der Kölner Stadtanzeiger vom 2. Dezember 1961 unter dem Titel Es sind nur Vermutungen.

Mutige Ärzte deckten auf

Doch Ärzte und Wissenschaftler begannen, die Fehlbildungen zu untersuchen. Unter ihnen Dr. Widukind Lenz in Hamburg. Er hatte das Auftreten von Fehlbildungen in seinem Umfeld beobachtet und forschte daraufhin in Geburtsregistern, führte Befragungen der Mütter nach ihren Lebens- und Ernährungsgewohnheiten durch und inspizierte die Hausapotheken. Schließlich informierte Lenz am 13. November 1961 seine ärztlichen Kollegen in der Universitätskinderklinik über seine Analysen und konnte mit Hilfe seiner Kollegen die Ergebnisse soweit verifizieren, dass Contergan in der Frühschwangerschaft als Ursache der Fehlbildungen möglich erschien. Bereits drei Tage später informierte Lenz den Leiter der Entwicklungsabteilung von Chemie Grünenthal, Heinrich Mückter, über seine Ergebnisse.

Da Grünenthal nicht bereit war, Thalidomid vom Markt zu nehmen, veröffentlichte Lenz auf einer Tagung einer Kinderärztevereinigung seine Daten, die noch nicht den wissenschaftlichen Anforderungen entsprachen. Lenz hielt es für seine Pflicht, damit an die Öffentlichkeit zu gehen:

"Als Mensch und Staatsbürger kann ich es daher nicht verantworten, meine Beobachtungen zu verschweigen."

Es ist seinem engagierten Handeln zu verdanken, dass thalidomidhaltige Produkte Ende 1962 vom Markt genommen wurden.

Contergan in hohen Dosen wurde vor 1960 an über 300 Säuglingen und Kindern getestet, wie Recherchen von Report Mainz erst 2020 anhand von Studienunterlagen aus der Caritas-Lungenheilanstalt Maria Grünewald in Wittlich, Rheinland-Pfalz, belegen konnten. Über Schäden für die Kinder ist nichts bekannt. Die Studienergebnisse wurden 1960 veröffentlicht.

Der heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bezeichnete diese Studien als Menschenversuche und bestürzendes Zeitdokument: Die Studie hätte so niemals durchgeführt und publiziert werden dürfen. Man ist quasi volles Risiko gegangen, wie man es sonst nur in Tierversuchen wagen kann.

Bis 1961 gab es trotz langjähriger Bemühungen kein Arzneimittelgesetz. Zwar hatte es schon im Deutschen Reich seit 1876 immer wieder Bestrebungen gegeben, den Umgang mit Arzneimitteln zu regeln, doch waren alle Versuche am Widerstand des Wirtschaftsministeriums und der pharmazeutischen Industrie gescheitert. Erst 1957 besann man sich, denn Deutschland war ohne ein solches Gesetz international nicht mehr konkurrenzfähig.

Im Februar 1961 wurde das erste bundesdeutsche Arzneimittelgesetz verabschiedet. Doch dieses Gesetz hätte die Contergan-Katastrophe nicht verhindern können. Die Verschreibungspflicht für neue Arzneistoffe wurde 1964 eingeführt. Eine Regelung zur zentralen Erfassung von Nebenwirkungen wurde erst 1976 getroffen. Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts sollte in der Lage sein, eine ähnliche Katastrophe wie den Contergan-Skandal zu verhindern.

Arzneimittelrecht und Pharmalobby

Neun Verantwortliche der Chemie Grünenthal, unter anderem Heinrich Mückter, wurden angeklagt wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung, fahrlässiger Tötung und schweren Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz. Jedoch nach über zwei Jahren im Dezember 1970 stellte man das Verfahren ein. Das Gericht bewertete die individuelle Schuld der Angeklagten als zu gering. Überdies hätten die Geschädigten sich mit Grünenthal bereits auf Entschädigungszahlungen geeinigt.

Staatsanwalt Hans Helmut Günter erinnerte sich 2010 in einem Interview bei n-tv: "100 Millionen waren damals eine Menge Geld. Weitere 100 Millionen kamen vom Bund. Damals sind wir davon ausgegangen, dass die Kinder eine kürzere Lebenserwartung haben. Heute wissen wir, die werden so alt wie wir", so Günter.

Das Stiftungsgesetz, welches die Vergabe des Geldes durch die 1972 eigens für die Conterganopfer gegründete Stiftung regelt, verhindert, dass deutsche Contergan-Opfer selbst gegen Grünenthal klagen können. Die Anfangs zur Verfügung gestellten Mittel sind längst aufgebraucht, es wird mittlerweile aus Steuermitteln gezahlt.

Der Contergan-Skandal hat die bundesdeutsche Geschichte nachhaltig geprägt. Er beeinflusst bis heute dem Umgang mit Medikamenten und Chemikalien besonders in der Schwangerschaft und ebenso unseren Blick und unsere Solidarität für Menschen mit Behinderung.

Andere Einsatzfelder, weiterhin Gefahren

Inzwischen hat sich Thalidomid durch weiterführende Forschung als hochpotenter Arzneistoff erwiesen. Ausgerechnet seine Wirkung, die Bildung von Blutgefäßen zu verhindern, macht ihn zu einer Waffe gegen Tumore. Thalidomid wird als Arzneimittel für seltene Leiden bei Lepra und Morbus Cron eingesetzt. Allerdings kam es beim Einsatz gegen Lepra in Brasilien durch mangelnde Aufklärung erneut zu Missbildungen.

Überdies existiert mittlerweile sogar ein Wirkstoff mit ähnlicher Teratogenität wie Thalidomid: Isotretinoin, enthalten in Medikamenten gegen schwere Akne. Es wird in Deutschland nur unter strengen Auflagen verschrieben.

Heute, im Januar 2022, sehen wir uns einer Situation gegenüber, die den Contergan-Skandal um ein Vielfaches übertreffen könnte. Wieder waren es zunächst wenige Wissenschaftler und Ärzte, die sich mit Daten an die Öffentlichkeit wenden, die noch nicht den wissenschaftlichen Standards entsprechen. Es steht zu befürchten, dass die Akteure dieses Skandals sich ihrer Verantwortung entziehen werden wegen "zu geringer individueller Schuld", und die Geschädigten und Hinterbliebenen mit Almosen abgespeist werden. Die Gesetzgebung zur Arzneimittelsicherheit kann diesen möglichen Skandal im Augenblick nicht verhindern.

Dieser Text erscheint als Titelbeitrag der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand Nummer 78.

+++Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: Dietmar Rauscher / shutterstock


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