Nie genug | Von Jens Fischer Rodrian

Raymond Unger erzählt vom Leben und Sterben Gunnar Kaisers auch in Form einer Anklage gegen die desaströse politische Entwicklung im Land.

„Es beginnt mit dem oft nur halb eingestanden Bewusstsein, dass man ein Recht darauf hat, eine eigene Sicht auf die Dinge zu haben und sein Leben auf seine Weise führen zu wollen. Was als Ahnung beginnt, wird zu dem immer tiefer verankerten Wunsch, hier heraus zu wollen.“— Gunnar Kaiser („Der Kult“, Rubikon 2022)

Raymond Unger lässt in seinem Nachruf an Gunnar Kaiser den Protagonisten seines Buches selbst zu Wort kommen. Doch nach ein paar Seiten wird eines sehr deutlich: Das Buch ist viel mehr als ein Nachruf auf einen Autor, Philosophen und Freund. Gunnar Kaiser war eine der wichtigsten Stimmen seiner Zeit, vor allem in den letzten vier Jahren seines Lebens. Jemand, der in seiner oft leisen Art sehr laut war. Er ist nach wie vor lebendig bei allen, die durch seine Beiträge Orientierung, Hoffnung und Halt gefunden haben, die wissen wollten, wie es möglich war, dass wir in diese große Krise ohne große Not hereinschlittern konnten.

„Habe ich genug getan?“ ist Nachruf, Chronik einer sich im Eiltempo befindlichen Gesellschaftsveränderung, kritischer Dialog mit einem geliebten Freund und vieles mehr.

Das Buch ist gut für alle, die sich in den letzten Jahren gegen den Zeitgeist und das Regierungsnarrativ der Alternativlosigkeit gewehrt haben, die eine komprimierte verschriftlichte Abhandlung der letzten Jahre lesen wollen — quasi eine Inhaltsangabe ihres eigenen Lebens, die sich nicht mit bekannten Details der Krise aufhält, sondern einzuordnen versucht. Es dürfte den Neugierigen gefallen, die in den letzten Jahren mit all den Veränderungen überfordert waren, aber jetzt bei dem so wichtigen Thema Krieg und Frieden verwundert Fragen stellen und jetzt — im Rückblick — die Corona-Jahre neu bewerten und verstehen wollen.

Vor allem aber ist es ein wichtiges Zeitdokument, um in ein paar Jahren oder Jahrzehnten verstehen zu können, wie uns das passieren konnte, wie wir uns von ein paar Wahnsinnigen haben derart an der Nase herumführen lassen und darüber hinaus der so offensichtlichen Spaltung fast hilflos gegenüber standen.

Der erste Teil des Buchs beleuchtet den ungewollten, aber unvermeidlichen Ausstieg Kaisers aus den Mainstream-Medien. Es geht auch um den gescheiterten Versuch, ihn mundtot zu machen. Sehr früh in der Krise fand Gunnar Kaiser Inhalt und Form, die ihn einzigartig machten und ihm eine große Zuhörerschaft bescherten. Seine hochkarätigen Interviewpartner, die Vielfalt der Themen, die er behandelte, die guten Bilder seines Kamerateams, seine schöne Stimme, vor allem aber seine offene und zugewandte Art, sprachen für sich und setzten Standards. Weg vom Zoom-Call-Look, hin zur hochwertigen Bildsprache.

Das Buch arbeitet sich durch Aufklärung, Biographie und Reflexion einer Freundschaft zu dem Teil vor, in dem Gunnar selbst zu Wort kommt. Nicht Auszüge aus seinen Büchern — einige davon Spiegel-Bestseller — sind das Herzstück, sondern der Text des Videos „Meine Grenze ist erreicht“. Dass die Schriftform eines frei gesprochenen Textes mit dem geschriebenen Wort in seiner Perfektion nicht mithalten kann, spielt keine Rolle, denn der Leser ist zu dem Zeitpunkt, mit all den neu erworbenen Informationen, zu Gast bei Gunnar Kaiser, ganz privat. Der Philosoph sitzt mit dem Leser im selben Raum, er spricht mit ihm, wie in einem Dialog, bei dem man für eine Zeit nur zuhört, während der andere spricht, und das zu einem Zeitpunkt, an dem es Gunnar gar nicht gut geht.

Er ist verzweifelt, erschöpft, suchend und fragend, vor allem aber wahrhaftig und authentisch. Man erfährt so einiges über den Istzustand des Philosophen, dem man beim Denken zuhört. Wie die letzten Jahre an Körper und Geist zerrten, wie man an dem Zustand der Welt kaputtgehen kann, wenn man die Balance zwischen Verstehen wollen, aber nicht können, verliert, wie man vor die Hunde gehen kann, wenn man nicht auf sich aufpasst, wie man akzeptieren muss, dass der Preis, den man für seine Art zu leben zahlen wird, hoch sein kann. Er spricht mit dem Leser und warnt ihn indirekt, nicht denselben Fehler zu machen wie er. Unger geht kritisch, aber liebevoll mit dem Anspruch Kaisers ins Gericht, die Krise sowohl persönlich wie auch für alle anderen gleich mit lösen zu wollen — ein Anspruch, an dem man nur scheitern kann. Gunnar hat das mit dem Leben bezahlt, auch wenn, gerade bei der Krankheit Krebs, eine eindeutige Kausalität nicht herstellbar ist, da diese Krankheit, wie so viele andere auch, wahrscheinlich immer multifaktorielle Ursachen hat. Die Vermutung, dass es einen Zusammenhang geben könnte, liegt auf der Hand.

Der Zustand des Protagonisten und sein körperlicher Abbau werden beleuchtet, ohne dabei voyeuristisch zu sein. Die Arbeit, die im Kopf wie im Tun nie aufzuhören scheint, hilft Kaiser auf dem Leidensweg und ist doch zugleich Nährboden für die große Erschöpfung, die sich anbahnt.

„Can‘t live with you, can’t live without you“ — hier auf den Auftrag der Aufklärung bezogen, trifft es vielleicht am besten. Denn nicht nur die Verzweiflung über das Nichtverstehen der Menschen, sondern die immer wieder bedrohenden Szenarien einer willkürlich agierenden gesellschaftspolitischen Landschaft treffen den Philosophen hart. Auch die neu gewonnene Existenz wurde immer wieder mal erschüttert. Nichts schien zuverlässig Halt zu bieten. Nachdem man den sicheren Lehrer-Job an den Nagel gehängt hat, weil man Kinder nicht unter die Maske zwingen wollte, war auch Kaiser TV, seine Sendung, immer wieder Opfer von Zensur und Cancel Culture, wie zuvor schon bei einigen Kollegen wie Kayvan Soufi-Siavash, einem seiner Weggefährten, der sich trotz aller Vernichtungsversuche nicht brechen ließ.

Der Autor überrascht immer wieder. Wenn man als Leser Form und Ablauf denkt begriffen zu haben, kommt etwas Unerwartetes, ein Blick hinter die Kulissen, eine persönliche Note oder Anekdote, eine kritische Betrachtung, ein Zitat aus den eigenen Werken und vieles mehr. So auch am Ende. Er überlässt das Schlusswort der Journalistin Lilly Gebert, die sich in gekonnter und klarer Sprache von Gunnar verabschiedet, ein starkes, weibliches Statement, dem eigenen Gefühl, der eigenen Trauer nah, ohne kitschig zu schwelgen, eher dem Herz und dem Verstand im Austausch folgend.

In diesem für Raymond Unger ungewöhnlich kurzen Buch — 179 Seiten plus Quellenangaben — kommen die großen Themen unserer Zeit, die großen Themen des Lebens an sich zu Wort. Themen, die Unger und Kaiser immer verbanden. Freiheit, Frieden, Schuld, Endlichkeit — und letztendlich Spiritualität. Was mit jemanden passieren kann, der den Tod vor Augen hat, und das in der Blüte seines Lebens und seiner Schaffenskraft, ist ein weiteres Kernstück des Werkes. Hier möchte ich bewusst nicht vorweggreifen, da ich den vielen Interpretationsmöglichkeiten des Philosophen im Weg wäre und nicht gerecht werden könnte.

Raymond Unger ist ein Gründlicher, der Sprache und Dramaturgie beherrscht, Informationen mit seriösen Quellen belegt und spannend erzählt. Nie mit dem Anspruch an eine absolute Wahrheit, eher mit dem Wunsch nach Vielfalt im Geiste der Aufklärung, bei dem der oft schmerzhafte Weg der Selbstreflexion in den Denk- und Schreibprozess miteinfließt. Er gehört zu den Autoren, die einen, wenn man seine Werke mit derselben Gründlichkeit liest, mit der er sie schreibt, immer wieder überraschen, da er seine Erkenntnisse erweitert, hinterfragt, und das Leben als das annimmt, was es ist: ein Rätsel. Da man es nicht lösen kann, sollte man sich damit anfreunden, dass es reicht, es lösen zu wollen. Man muss nicht gut beten, wie Gunnar Kaiser fragte, oder gut meditieren — es zu versuchen reicht. Sich der immer allgegenwärtigen Möglichkeit des Scheiterns bewusst zu sein, aufzustehen, um zu denken, die Neuronen im Hirn immer wieder neu zu verknüpfen, ohne sein Herz und seine Gesundheit zu überfordern, an Humor nie sparen, aber vor allem nicht zu vergessen, das Leben zu leben, anstatt nur darüber nachzudenken. Und sind die Zeiten noch so düster, so darf man sich dennoch erlauben, eine Spur Leichtigkeit zu bewahren.

Es gibt so viele Gründe an der Welt zu verzweifeln, aber es gibt genauso viele Gründe, das Leben zu lieben. Diese Balance zu erhalten, sich nicht zu überfordern und zu überschätzen, ist mein ganz persönliches Fazit aus dem Buch, auch wenn einem dieser Aspekt nicht so deutlich anspringt wie die biographischen Details.

Gunnar Kaiser hat sich aufgerieben, für sich, für uns, aber vor allem, weil er sich dafür entschieden hatte, weil er nicht anders konnte. Wie wichtig sein Schaffen war, vor allem in den Jahren 2020 bis 2023, wird — auch dank dieses Buches — nicht in Vergessenheit geraten.

Hier können Sie das Buch bestellen: „Habe ich genug getan? In memoriam Gunnar Kaiser 

Anmerkungen

 

Jens Fischer Rodrian ist Musiker, Lyriker, freier Publizist und Bürgerrechtsaktivist. Seit vielen Jahren arbeitet er als Kreativdirektor und MD für die Blue Man Group, produzierte Alben für diverse Künstler wie Konstantin Wecker und schrieb Musik für zahlreiche Dokumentationen und Kurzfilme. Er ist Autor des Gedichtbandes „Sich kurz fassen — ach“. Seit 2017 ist er mit seinem Slam-Poetry-Konzertabend „Wahn und Sinn“ auf Tournee. Er begleitet die Demokratie- und Friedensbewegung auf Demonstrationen mit Soloauftritten und der Flashmob-Band BBB. 2022 erschien sein Buch „Die Armada der Irren“, in dem er widerständischer Kunst eine Stimme gibt. Er leitet auf Manova die Kolumnen „Friedensnoten“ (mit Marcus Klöckner) und „Poesienoten“ (mit Alexa Rodrian). In den nächsten Monaten erscheint sein neues Album und sein zweiter Gedichtband „Alles nur geliehen“.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 07. März 2024 auf dem Blog manova.news

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Bildquelle: Pressmaster / shutterstock

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Kommentare (3)

3 Kommentare zu: “Nie genug | Von Jens Fischer Rodrian

  1. Mauricio sagt:

    Seltsam fainde ich, daß im deutschen Wikipedia nichts von Gunar Kaiser eingetragen ist?!

    • tulopa - ich denke selbst sagt:

      @Mauricio
      Ja, das ist wirklich seltsam! Woher hatte ich dann die Information, dass er für die "Jüdische Allgemeine" gearbeitet hat? Ich dachte, aus der Wiki. Sei´s drum – wenn dort stünde, dass er verstorben ist, dann wäre das ja auch eine Lüge!

  2. Sturesel sagt:

    Ich vermisse Gunnar Kaiser und seinen hellen Geist

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