Tagesdosis

NATO-Gipfel in Vilnius: Freifahrtschein für den Totalen Krieg | Von Hermann Ploppa

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Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

Keine Spur von Entspannung und De-Eskalation. Stattdessen haben die Regierungschefs beim großen Treffen des atlantischen Kriegsbündnisses eine noch radikalere Umwandlung des Westens in eine gigantische Kriegsmaschine abgesegnet.

Alle Jahre wieder trifft sich die Nordatlantische „Verteidigungs“allianz NATO auf höchster Regierungsebene. Letztes Jahr in Madrid. Und dieses Jahr in Vilnius. Vilnius ist die Hauptstadt der kleinen baltischen Republik Litauen. Und Vilnius liegt gerade einmal vierzig Kilometer entfernt von der Grenze zu Weißrussland. So nahe hat sich die westliche Waffengemeinschaft noch nie an den potenziellen Feind herangepirscht. Deshalb schickte unser Verteidigungsminister Boris Pistorius gleich 4.000 Bundeswehrsoldaten nach Vilnius, um die obersten Repräsentanten der 32 NATO-Mitgliedsstaaten angemessen gegen mögliche Raketenangriffe der bösen Russen oder Weißrussen zu schützen <1>.

Doch die Einschläge durch russische Kinchal-Raketen blieben überraschenderweise gänzlich aus. Der NATO-Gipfel liegt jetzt hinter uns, und alle Staats- und Regierungschefs sind wohlbehalten wieder zuhause eingetroffen. Es waren ja sogar schon die obersten politischen Repräsentanten der Nicht-NATO-Staaten Neuseeland, Australien, Südkorea und Japan anwesend. Und zudem der ukrainische Präsident Wolodomir Selenski. Er war der Hauptdarsteller in diesem Drama. Tatsächlich wurde allerorten in den Medien kolportiert, Selenski sei wütend und enttäuscht <2>. Szenisch wurde Selenskis Frustration durch seine gelernte Rolle als Stand-Alone-Comedian. Abseits schmollte Selenski vor sich hin. Während die NATO-Größen in ihren feinen Anzügen mit Sektgläsern Konversationskreise bildeten und die diversen First Ladies Bussi Bussi machten, stand Selenski abseits in klobiger Kampfuniform und seine Körpersprache signalisierte: „Das gildet nicht! Ich spiel’ nicht mehr mit!“ Es gibt genug Einfaltspinsel, die diese Pantomime für bare Münze genommen haben.

Gewiss: die feinen Pinkel aus dem NATO-Establishment wollten der Ukraine definitiv nicht die ersehnte NATO-Mitgliedschaft gewähren. Besonders Biden, Scholz und Macron schreckten bei aller Kriegsgeilheit denn doch vor einer solchen Risiko-Partie zurück. Denn eine Vollmitgliedschaft der Ukraine würde bedeuten, dass die gesamte NATO-Kriegsmaschine mit sofortiger Wirkung den Bündnisfall nach Paragraf 5 der NATO-Charta ausrufen müsste. Denn nach offizieller Lesart hat ja Russland völlig ohne Grund und ohne vorherige Provokationen durch die Ukraine eben dieses Land im Februar letzten Jahres militärisch angegriffen. Also muss die gesamte NATO sofort in voller Rüstung in den Krieg gegen Russland ziehen, um die angegriffene Ukraine zu verteidigen. Das ist denn doch eine Nummer zu groß für die westlichen Länder. Diverse Feldexperimente in offener Feldschlacht in der Ukraine haben gezeigt, dass die westlichen Waffen sich bis auf die Knochen gegen das russische Kriegsgeschirr blamiert haben. Und als Atom-Macht muss man die Russen sowieso schon seit längerem ernst nehmen.

Selenskis Recken und die von ihm zwangsrekrutierten Infanteristen müssen also weiterhin alleine den Kopf hinhalten in diesem schmutzigen Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland. Als Trost-Bonbon hat der Westen einen neuen NATO-Ukraine-Rat eingerichtet, dessen erste Sitzung in Vilnius Selenski denn auch leiten durfte. Es gab bis 2014 einen NATO-Russland-Rat, der zur Deeskalation regelmäßige Konsultationen zwischen den potenziellen Kriegsgegnern abhielt. Eine solche Konstruktion macht im Falle der Ukraine natürlich gar keinen Sinn. Denn das Militär der Ukraine ist taktisch und strategisch schon lange mit der NATO synchronisiert. Seriöser ist da schon das Angebot des US-Präsidenten Biden, der Ukraine langfristig eine Sicherheitsgarantie zu gewähren. Eine solche Sicherheitsgarantie besteht bereits von den USA für Israel und soll Israels wahrgenommene Schwäche gegenüber seinen Nachbarländern ausgleichen durch mächtige Geldleistungen der Amerikaner und einem militärischen Eingreifen zugunsten Israels, sollte Israel mal gegen militärische Gegner schwächeln. Doch können diese beiden Trösterchen in der Tat nicht vertuschen, dass die Ukraine einstweilen immer noch alleine gegen Russland kämpfen muss. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass die NATO Selenskis Krieg gegen Russland mit Söldnern, Kriegsgeschirr und taktischen Ratschlägen massiv unterstützt. Und selbstverständlich ist die heutige Ukraine auf westliche Veranlassung hin schon seit 2014 auf den Totalen Krieg umgebaut worden. Ein gigantischer Rüstungskonzern wurde seitdem aus der Masse der schwerindustriellen Unternehmen gezimmert. Was zur Folge hat, dass die einstmals hoch angesehene ukrainische zivile Luftfahrtindustrie vollkommen eingestellt wurde. Die einstmals blühende ukrainische Landwirtschaft wurde unter Selenski den US-amerikanischen und deutschen Agrokonzernen wie zum Beispiel Cargill und Monsanto übergeben. Und die gesamte Planung der Wirtschaft wurde vertraglich dem  globalen Vermögensverwalter Blackrock anvertraut <3>. So gut wie nichts außer den Kriegsopfern gehört in der Ukraine jetzt noch den Ukrainern.

Doch ist diese Umstellung auf den Totalen Krieg in der Ukraine ein Vorgriff auf die gesamte westliche Welt. Natürlich wurde eigentlich nichts in Vilnius entschieden. Schon lange vor dem NATO-Gipfel wurde die Weltordnung nach Vilnius festgeklopft. Vilnius ist nur dazu da, dass sich die Regierungschefs mal wieder von Angesicht zu Angesicht sehen und sprechen können. Ihre Sherpas haben alle Details schon vorher festgelegt. Klar ist, dass alle NATO-Mitgliedsländer mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zukünftig für Rüstung ausgeben sollen <4>. Um das noch einmal klar zu machen: zwei Prozent all dessen, was jeder Deutsche innerhalb eines Jahres mühsam erarbeitet hat, soll für Rüstung ausgegeben werden. Und das ist die absolute Untergrenze. Polens Staatsbürger dürfen bereits jetzt annähernd das Doppelte ihres ehrlich erarbeiteten Vermögens für den Krieg ausgeben, das meint: 3,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts! US-Bürger sind mit 3,49 Prozent dabei. Und die armen Griechen geben 3,01 Prozent für den Dritten Weltkrieg aus. Wir Deutschen müssen unsere Hausaufgaben allerdings noch machen. Denn wir geben gerade mal 1,57 Prozent für den Krieg aus. Was macht das denn, dass unsere Straßen und Brücken verrotten? Dass die Universitäten und Schulen kürzer treten müssen? Dass die Gesundheitsversorgung schon lange die Löffel abgegeben hat? Und dass Umwelt- und Klimaschutz angesichts der Fracking-Euphorie zu leeren Worthülsen verkommen sind? Vilnius ermahnt uns, unsere „Schlüsselfähigkeiten“ zu kultivieren und auf Panzer, Flugabwehr und Artillerie zu konzentrieren.

Und der makabre Feldversuch im Ukraine-Krieg macht uns überdeutlich, wie schlecht doch der Westen militärisch aufgestellt ist. Vilnius fordert, dass wir jetzt sofort 300.000 Soldaten in ständiger Einsatzbereitschaft halten müssen. Das heißt: 300.000 NATO-Soldaten stehen jetzt zu jeder Tag- und Nachtstunde Gewehr bei Fuß und können – wie Feuerwehrleute – aus dem Schlaf sofort los springen und kämpfen. Das ganze NATO-Revier wird ab sofort in drei bis an die Zähne bewaffnete Zonen aufgeteilt. Das ist zum Einen das Ursprungsgebiet der NATO, nämlich der Nordatlantik-Raum. Dann gibt es den Kommandoraum Deutschland plus Ostsee. Der wird von dem niederländischen Brunssum aus gesteuert. Und schließlich noch Südeuropa mitsamt dem Raum um das Schwarze Meer.

Nun ist die NATO seit Vilnius plötzlich auf 32 Mitglieder angeschwollen. Helfer war in diesem Zusammenhang ausgerechnet der vom Westen so heftig bekämpfte und gerade in seinem Land wiedergewählte türkische Präsident Erdogan. Zunächst ließ Erdogan fünf mutmaßliche ukrainische Kriegsverbrecher der Asow-Brigaden frei. Eigentlich hatte die Türkei diese Männer sozusagen treuhänderisch inhaftiert, um sie nach dem Ende des Ukraine-Kriegs einer internationalen Strafverfolgungsbehörde zu überstellen. Ihre Freilassung war ein Bruch der Vereinbarungen bei den türkisch-ukrainisch-russischen Verhandlungsrunden im Jahre 2022. Entsprechend erzürnt reagierte die russische Regierung auf diesen Vertrauensbruch. Dann empfing Erdogan den ukrainischen Präsidenten Selenski und äußerte dabei ganz locker vom Hocker, „selbstverständlich“ stünde der Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft zu. Schließlich erwies sich Erdogan noch als gewiefter Basarhändler, als er sein Ja-Wort zum Eintritt Schwedens in die NATO abhängig machte von der Zulassung der Türkei zur Europäischen Union. Die EU-Mitgliedschaft bekam Erdogan nicht. Und während in Schweden unter Polizeischutz Provokateure ein Exemplar des Korans rituell verbrannten, gab Erdogan seine Zustimmung zum Eintritt Schwedens in die NATO. Was er an Stelle  der ersehnten EU-Mitgliedschaft erhalten hat, ist jetzt noch nicht bekannt. Erdogans Stellung in der islamischen und zentralasiatischen Welt dürfte durch diesen Purzelbaum nicht unerheblich gelitten haben.

Als Ergebnis dieses Erdogan-Saltos ist jetzt der nordatlantische NATO-Raum lückenlos geschlossen. Schon mit Finnlands Eintritt in die NATO verlängerte sich die direkte Grenze der NATO zu Russland um eintausend Kilometer. Das NATO-Abschlusskommuniqué hält nun in kognitiver Verkehrung der Tatsachen fest, dass Russland sich immer dreister an die NATO-Grenzen herangepirscht habe. Und obendrein erdreiste sich Weißrussland, Russland logistisch zu unterstützen. Paragraf 8 der Abschlusserklärung hält fest:

„Die Unterstützung Weißrusslands war entscheidend, indem es sein Territorium und seine Infrastruktur zur Verfügung stellt, um den russischen Streitkräften zu erlauben, die Ukraine anzugreifen und Russlands Aggression aufrechtzuerhalten. Sowohl Weißrussland, aber genauso auch der Iran, müssen aufhören mit ihrem Komplizentum mit Russland und zurückkehren zu internationalem Recht.“ <5>

Eine unverhohlene Drohung gegen Weißrussland. Die Anzeichen mehren sich, dass jetzt auch der Westen der Ukraine zunehmend in den Abnutzungskrieg einbezogen werden soll. Und das bedeutet, dass auch Weißrussland in diesen Krieg gerissen wird. Wer sich einmal mit der Geschichte und dem Ablauf des Zweiten Weltkriegs beschäftigt hat, erkennt, dass aus regionalen Bränden planvoll und unausweichlich immer wieder verheerende Flächenbrände gemacht wurden. Dazu gehört auch, dass die NATO jetzt global ausgeweitet wird. Bereits an dem Großmanöver Air Defender 23 nahm die japanische Luftwaffe teil. In Vilnius waren auch, wie bereits gesagt, Neuseeland, Australien, Japan und Südkorea anwesend. Und das nicht als Beobachter, sondern als zukünftige Mitgliedsstaaten. Und vieles deutet darauf hin, dass sich dieser munteren Gesellschaft noch Singapur und sogar Vietnam anschließen könnten.

Immer wieder wird gemunkelt, der Ukraine-Krieg könnte noch in diesem Jahr beendet werden. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Bestenfalls könnte es zu einer kleinen Verschnaufpause kommen. Aber das Generation-übergreifende Projekt der Anglo-Amerikaner, die eurasische Kontinentalplatte zu erobern, wird seit über einhundert Jahren konsequent und beharrlich fortgeführt <6>. Nur eine Implosion dieses Machtgefüges kann diesen Dauerkrieg ein für alle mal beenden. Es liegt an uns, den Wechsel von der unipolaren Weltordnung in eine gerechte multipolare Weltordnung friedlich zu bewerkstelligen. Trotz aller von mir ausgeführten negativen Szenarien ist es dafür nie zu spät.

Quellen

<1> https://www.deutschlandfunk.de/robuste-brigade-pistorius-kuendigt-weitere-4-000-soldaten-fuer-litauen-an-100.html

<2> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-ukraine-perspektiven-102.html

<3> https://www.youtube.com/watch?v=GXqkWLxD7dM&t=1753s

<4> https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9295

<5> https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_217320.htm

<6> Hermann Ploppa: Der Griff nach Eurasien – Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland. Marburg 2019.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Ink Drop/ shutterstock


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