Zur Aktualität von Albert Camus gestern und heute
Ein Meinungsbeitrag von Rudolf Hänsel.
Einführung in Thematik
Auf der Suche nach einer aufbauenden Lektüre, die in diesen finsteren Zeiten Orientierung bieten kann, stieß ich – wie bereits in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts – auf die Werke und Gedanken von Albert Camus.
Camus Wirkungsgeschichte geht weit über die Literatur hinaus. Als Repräsentant des französischen Existentialismus atheistischer Prägung beeinflusste er nicht nur im vergangenen Jahrhundert das Denken über die Grundfragen der menschlichen Existenz, die Rolle der Intellektuellen und das Engagement des Individuums für Freiheit und Gerechtigkeit (1), er bietet noch heute eine grundlegende Orientierung. Die Forschungsergebnisse der naturwissenschaftlichen Tiefenpsychologie hat er dabei mitberücksichtigt.
Zwar erlangte das umfangreiche literarische Werk des Literatur-Nobelpreisträgers (1957) weltweite Anerkennung, sein journalistisches Schaffen, seine Artikel in libertär-sozialistischen Zeitschriften sowie sein Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1961) sind jedoch weniger bekannt. Sie inspirierten anarchistische Bewegungen weltweit, führten zu einer Neuorientierung in der Nachkriegszeit und waren 1952 Anlass für die Auseinandersetzung und den Bruch mit Jean-Paul Sartre (2).
Einen guten Überblick über das Denken und Wirken Camus‘ und das umfassende Verständnis des Menschen in der Revolte ermöglicht das Buch „Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960)“, das der französische Journalist und Übersetzer Lou Marin 2013 herausgegeben hat (3).
Am besten lässt sich die tapfere Diesseitsbejahung im Werk Camus‘ mit den Satz Pindars beschreiben, der der Abhandlung von Camus‘ „Der Mythos von Sisyphos“ vorangestellt ist:
„Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus.“ (4)
Camus‘ letzte Botschaft: „Geben, wenn man kann. Und nicht hassen, wenn das möglich ist.“
Camus‘ letzte Nachricht, die die nachkommende Generation inspirieren sollte (5), wurde in der libertären Zeitschrift „Reconstruir“ (Wiederaufbau) auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom Januar/Februar 1960 veröffentlicht. Es war Camus‘ Antwort auf einen Fragebogen über das Problem der internationalen Beziehungen.
So fragte die Zeitschrift: „Geben Ihnen die Gipfeltreffen zwischen den Vertretern der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion irgendeine Hoffnung, was die Möglichkeiten der Überwindung des Kalten Krieges und der Teilung der Welt in zwei antagonistisch sich gegenüberstehende Blöcke betrifft?“ Camus‘ Antwort:
„Nein. Die Macht macht denjenigen verrückt, der sie innehat.“ (6)
Die letzte Frage von „Reconstruir“ lautete: „Wie sehen Sie die Zukunft der Menschheit? Was müsste man tun, um zu einer Welt zu kommen, die weniger von der Notwendigkeit unterdrückt und freier wäre?“ Darauf antwortete Camus mit der bekannten „Botschaft“ an die nachfolgende Generation:
„Geben, wenn man kann. Und nicht hassen, wenn das möglich ist.“ (7)
Auf den Frieden hoffen und für ihn kämpfen
Für Camus war nichts unentschuldbarer als der Krieg und der Aufruf zum Völkerhass. Seiner Meinung nach hätte der Westen Besseres zu tun, als sich in Kriegen und Streitereien selbst zu zerfleischen. Aber wenn der Krieg einmal ausgebrochen ist, meinte er, sei es zwecklos und feige, sich unter dem Vorwand, man sei nicht für ihn verantwortlich, abseits zu stellen (8).
In der französischen Zeitschrift „Défence de l’homme“ vom 10. Juni 1949 ergänzte er auf deren Feststellung hin, dass die Zukunft düster aussehe:
„Warum? Es gibt nichts mehr zu fürchten, denn wir haben das Allerschlimmste kennengelernt. Es gibt daher von nun an nur noch Gründe dafür, zu hoffen und zu kämpfen.“
Auf die Frage: „Mit welchem Ziel?“ antwortete er: „Für den Frieden.“
„Ich setze auf den Frieden. Darin liegt mein ganz eigener Optimismus. Aber man muss für ihn etwas tun und das wird schwer. Darin liegt mein Pessimismus. Jedenfalls bekenne ich mich heute einzig und allein zu den Friedensbewegungen, die versuchen, sich auf internationaler Ebene zu verbreiten. Auf ihrer Seite finden sich die wahren Realisten. Und ich bin mit ihnen.“ (9).
In seinen Tagebucheintragungen von 1939 meinte Camus, dass nichts festgelegt sei und man alles ändern könne; auch Kriege könne man verhindern:
„Es gibt ein einziges Verhängnis, nämlich den Tod, und darüber hinaus gibt es keines mehr. In dem Zeitraum, der von der Geburt bis zum Tod reicht, ist nichts festgelegt: man kann alles ändern und sogar dem Krieg Einhalt gebieten und sogar den Frieden erhalten, wenn man inständig, stark und lange genug will. Grundsatz: Zuerst nach dem suchen, was jeder Mensch an Wertvollem in sich trägt.“ (10).
In den „Seiten aus dem Tagebuch (1939)“ in Lou Marins Buch gibt es auch einen Brief, in dem sich Camus an einen „Verzweifelten“ wendet:
„Sie schreiben, dass dieser Krieg Sie bedrückt, dass Sie bereit wären zu sterben, dass sie aber diese weltweite Dummheit nicht ertragen können, diese blutrünstige Feigheit und diese verbrecherische Naivität, die immer noch glaubt, menschliche Probleme könnten mit Blut gelöst werden. Ich lese Ihre Zeilen, und ich verstehe Sie. (…)
Ich verstehe Sie, aber ich kann Ihnen nicht mehr folgen, wenn sie aus dieser Verzweiflung eine Lebensregel machen und sich hinter Ihrem Ekel zurückziehen wollen, weil ja doch alles unnütz sei. Denn die Verzweiflung ist ein Gefühl und kein Zustand. Sie können nicht darin verharren. Und das Gefühl muss einer klaren Erkenntnis der Dinge weichen. (…).
Heute sind Sie überzeugt, dass Sie nichts mehr verhindern können. Dies ist der springende Punkt. Aber zunächst müssen Sie sich fragen, ob Sie wirklich alles getan haben, um diesen Krieg zu verhindern. Wenn ja, könnte dieser Krieg Ihnen als ein Verhängnis vorkommen und Sie könnten die Meinung vertreten, dass nichts mehr zu machen sei. Aber ich bin sicher, dass Sie nicht alles getan haben, was nötig war, genau so wenig wie wir alle. Sie haben es nicht verhindern können? Nein, das stimmt nicht. Dieser Krieg war nicht unabwendbar, das wissen Sie. (…).
Sie haben eine Aufgabe, zweifeln Sie nicht daran. Jeder Mensch besitzt einen mehr oder weniger großen Einflussbereich. Er verdankt ihn seinen Mängeln ebenso sehr wie seinen Vorzügen. Aber wie dem auch sei, er ist vorhanden und er kann unmittelbar genutzt werden. Treiben sie niemanden zum Aufruhr. Man muss mit dem Blut und der Freiheit der anderen schonend umgehen. Aber Sie können zehn, zwanzig, dreißig Menschen davon überzeugen, dass dieser Krieg weder unabwendbar war noch ist, dass noch nicht alle Mittel versucht worden sind, ihm Einhalt zu gebieten, dass man es sagen, es wenn möglich schreiben, es wenn nötig hinausschreien muss! Diese zehn oder dreißig Menschen werden es zehn anderen weitersagen, die es ihrerseits wieder verbreiten. Wenn die Trägheit Sie zurückhält, nun gut, so fangen sie mit anderen wieder von vorne an. (…).
Individuen sind es, die uns heute in den Tod schicken. Warum sollte es nicht anderen Individuen gelingen, der Welt den Frieden zu schenken? Nur muss man beginnen, ohne an so große Ziele zu denken. Vergessen Sie nicht, dass der Krieg ebenso sehr mit der Begeisterung derer geführt wird, die ihn wollen, wie mit der Verzweiflung derer, die ihn mit der ganzen Kraft ihrer Seele ablehnen.” (11)
Camus‘ Werke sind eine Schulung im Geiste der Revolte
Camus‘ Denken kulminiert in der Aufforderung zur Revolte im Sinne eines unablässigen Kampfes um ein höheres Maß an Freiheit. Der zum Bewusstsein seiner selbst gelangte Mensch kann nichts anderes tun, als sich gegen die Bedingungen der Sozialordnung aufzulehnen. Die ihm entsprechende Lebensform ist die permanente Empörung.
Wenn der Mensch in seiner Verlassenheit zu sich kommt, kann er gemäß Camus‘ entweder den Selbstmord wählen oder sich entschlossen diesem Dasein zuwenden, das nur durch diese Zuwendung Sinn bekommt. Gleichgültigkeit ist ausgeschlossen. Das Ich hat die Welt absurd genannt und bekennt sich somit zum Willen, diese Welt zu verändern. Die Absurdität der Welt zur Kenntnis zu nehmen heißt: sich gegen sie auflehnen. In diesem Akt der Empörung findet der Mensch zu sich selbst – in Abwandlung der Formel von Descartes: „Ich empöre mich – deshalb bin ich!“ Der hellsichtig gewordene Mensch, der sich als Herr seines Schicksals weiß, verschreibt sich dem Geist der Revolte.
Einmal auf dem Standpunkt der Revolte stehend, erblickt der Mensch in seinen Mitmenschen Bedrückte seiner Art und sieht sich in der Gemeinschaft der Leidenden, zu der er sich selbst als zugehörig betrachtet. Die Auflehnung im Namen von Menschenrecht und Menschenwürde kann aber nie für den einzelnen alleine geschehen – sie geschieht für alle Menschen: „Ich empöre mich – also sind wir!“
Für den freien Menschen gibt es kein höheres Ziel, als die Verwirklichung der Freiheit aller. Gerade das ist die eigentliche Hingabe an die Menschen der Zukunft. Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft bestehet darin, alles der Gegenwart zu geben.
Quellen und Anmerkungen:
Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Schul-Rektor, Erziehungswissenschaftler und Diplom-Psychologe. Nach seinen Universitätsstudien wurde er wissenschaftlicher Lehrer in der Erwachsenenbildung. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zu Gemeinsinn und Frieden. Für seine Verdienste um Serbien bekam er 2021 von den Universitäten Belgrad und Novi Sad den Republik-Preis „Kapitän Misa Anastasijevic“ verliehen.
(1) Bouchentouf-Siagh, Zohra und Kampits, Peter (2001). Zur Aktualität von Albert Camus. Wiener Vorlesungen. Wien
(2) Marin, Lou (Hrsg.). (2013). Albert Camus-Libertäre Schriften (1948-1960). Hamburg. Buchumschlag Innenklappe
(3) A. a. O.
(4) Camus, Albert (1959). Der Mythos von Sisyphos. Hamburg, S. 7
(5) Marin, Lou (Hrsg.). (2013). Albert Camus-Libertäre Schriften (1948-1960). Hamburg, S.363
(6) A. a. O., S. 363f.
(7) A. a. O., S. 364
(8) A. a. O., S. 197
(9) A. a. O., S. 81
(10) A. a. O., S. 267
(11) A. a. O., S. 271ff.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Benjavisa Ruangvaree Art / Shutterstock.com
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