Lichte Wesen in Dunkeldeutschland

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Mitte der achtziger Jahre war ich mit einer Freundin auf einem Wochenendausflug im Landkreis Lüchow-Dannenberg unterwegs, als mir eine Geschichte einfiel, die mir meine Eltern dreißig Jahre zuvor erzählt hatten. Sie musste sich ganz in der Nähe abgespielt haben, in einem kleinen Nest namens Starrel. Das Dorf, so war es mir berichtet worden, bestand lediglich aus drei Bauernhäusern. Ich wollte ihm seit Jahren einen Besuch abstatten, hatte mich aber nie getraut. Doch jetzt, wo wir schon einmal in der Göhrde rumturnten, konnte ich nicht anders, als das Auto nach Starrel umzulenken. Fünfhundert Meter waren es noch, als die Fahrt erkennbar langsamer wurde, ohne dass ich mich dafür verantwortlich fühlte. Es war, als hätte der Strich/Achter, den ich damals fuhr, auf meinen schneller werdenden Herzschlag reagiert. Nach weiteren vierhundert Metern fuhr der Wagen rechts ran. Da waren sie, die drei im Halbkreis angeordneten Bauernhäuser. Unangetastet und wie aus der Zeit gesprungen. Näher ran zu fahren war mir unmöglich, es fühlte sich an, als würden zwei Magnete aneinander abgleiten.

Warum erzähle ich das? Weil ich dort, wo ich jetzt stand, niemals gestanden hätte, wenn es diese eine Familie nicht gegeben hätte, deren Namen ich nicht kannte und von der ich nicht einmal wusste, welches der drei Häuser ihres war. Von der ich nicht wusste, ob sie überhaupt noch existierte. Aber zum Kern der Geschichte. Mein Großvater war Jude, er starb im KZ. Mein Vater war „Halbjude“. Als ruchbar wurde, dass er mit einer Arierin liiert war und sie sogar heiraten wollte, wurde er in Hamburg zur Gestapo bestellt, wo man ihm eine sogenannte „Trennungsauflage“ aushändigte. Sie besagte, dass er meine Mutter nicht mehr sehen, geschweige denn heiraten durfte. Damals war meine Mutter aber bereits mit mir schwanger, was den Behörden auf keinen Fall bekannt werden durfte. Einige Monate später erblickte ich das düstere Licht der Welt. Illegal. Ich musste also versteckt werden, aber wo?

Meine Großmutter mütterlicherseits wusste von einer Schulfreundin in der Göhrde, die mit den Nazis nichts am Hut hatte. Also fuhr sie nach Starrel und versuchte herauszufinden, ob sie sich dieser Freundin und ihrem im Krieg schwer verwundeten Mann anvertrauen könnte. Konnte sie. Mit dem Ergebnis, dass mich diese beiden Menschen vierzehn Monate in ihrem Haus versteckt hielten, was den Nachbarsfamilien natürlich verborgen bleiben musste.

Das gab es eben auch in Dunkeldeutschland. Und nicht zu knapp. Überall im Land, vor allem in den Großstädten, fanden sich selbstlose „Engel“, die sich in einem Volk von potentiellen Denunzianten kaum vorstellbaren Risiken aussetzten. Mit ihrer Hilfe überlebten tausende Juden den Nazi-Terror – auf Dachböden, in Kellern und Scheunen, hinter aufgebrochenen und wieder zugestellten Mauern. Dieser Teil der deutschen Geschichte wird kaum erzählt. Das liegt auch daran, weil ein Großteil derjenigen, die ihr Gewissen nicht im Gleichschritt verloren hatten, anonym geblieben sind.

Stellvertretend für sie alle möchte ich Michael und Cäcilia Köhldorfner in die Riege meiner Heroes aufnehmen. Am 23. September 2019 wurden die beiden in ihrer oberbayerischen Heimatgemeinde Schnaitsee von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem posthum für die Rettung verfolgter Juden zur Nazizeit geehrt. Die beiden gelten damit offiziell als

“Gerechte unter den Völkern”.

Es war der 3. Mai 1945, wenige Tage vor Kriegsende, als Michael Köhldorfner im alten Sägewerk von Stangern, einem Ortsteil der Gemeinde Schnaitsee, verdächtige Geräusche hörte. Mit der geladenen Pistole kletterte der Zimmerer zum Dachboden hinauf. Die zwei Gestalten, die er dort entdeckte, boten ein Bild des Jammers. „Ich sehe die beiden heute noch vor mir“, erzählt Köhldorfners Sohn Michael, der den Vater als Siebenjähriger auf den Boden begleitet hatte.

„Sie trugen nur noch Fetzen am Körper, waren verlaust und zum Skelett abgemagert. Anstelle von Schuhen trugen sie abgeschnittene Zementsäcke an den Füßen, die sie mit Schnüren zugebunden hatten. So ein Elend habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen.“

Bei den Gestalten handelte es sich um die aus Polen stammenden Juden Henrick Gleitman und Bernhard Hampel. Ihnen war es gelungen, einem Todesmarsch zu entfliehen, der die Häftlinge des Konzentrationslagers Flossenbürg ins KZ Dachau führte. Wer von den geschundenen Kreaturen unterwegs schlapp machte, wurde von der SS an Ort und Stelle liquidiert. Als das Ehepaar Köhldorfner sich verpflichtet sah, den Flüchtigen zu helfen, gingen sie ein tödliches Risiko ein. Deutsche wurden schon für weitaus geringere „Vergehen“ standrechtlich erschossen oder gehenkt.

Henrick Gleitmann war ein junger Mann, erst 18 Jahre alt, Hampel war 30. Noch tagelang blieben sie den Köhldorfners gegenüber misstrauisch, sie fürchteten, am Ende doch verraten zu werden. Dass Deutsche sie freundlich behandelten und ihnen sogar halfen, waren sie nicht gewohnt.

„Alle Deutschen, denen ich zuvor begegnet war, haben nur schikaniert, gefoltert und gemordet“, sagte Gleitman später, „ich habe nicht geglaubt, dass es auch andere Deutsche gibt“.

Doch, gab es. Unter anderem in Starrel, einem kleinen Dorf im Südwesten des Landkreises Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen, das zur Gemeinde Schnega in der Samtgemeinde Lüchow (Wendland) gehört. Zurzeit wohnen dort 15 Einwohner in 3 Bauernhäusern.

In meinem Buch HEROES, an dem ich gerade arbeite und in dem ich 50 Persönlichkeiten aus den letzten 150 Jahren ein Andenken setzen möchte, ist das Ehepaar Köhldorfner ebenfalls vertreten. Meine Helden sind Menschen, die sich dem zu allen Zeiten galoppierenden Wahnsinn unter hohen Risiken entzogen oder widersetzt haben. Menschen, die Auswege aufgezeigt haben, hin zu einer Gesellschaft, deren Zusammenhalt durch Toleranz und Verständnis geprägt ist. Wobei ich darauf achte, nicht ins oberste Regal zu greifen, wo die prominenten Namen lagern. Ich möchte auf Menschen aufmerksam machen, deren Geschichte nicht schon überall erzählt wurde.

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Smeerjewegproducties / Shutterstock.com

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Kommentare (7)

7 Kommentare zu: “Lichte Wesen in Dunkeldeutschland

  1. TriMartolod sagt:

    Herr Fleck,

    Ernst Lossa darf in Ihrem Buch nicht fehlen!

    • dirkfleck sagt:

      Herzlichen Dank für diesen Hinweis. Sie haben recht, eigentlich gehört Ernst Lossa, von dem ich jetzt durch Sie erfahre, in das Buch. Wie viele, viele andere auch. Ich werde noch einmal darüber nachdenken. Allerdings bin ich fast fertig, 41 der 50 HEROES sind geschrieben.

    • TriMartolod sagt:

      Auch wenn Ernst Lossa keinen Einzug in Ihr Buch finden sollte, so hat er doch Einzug in mind. ein weiteres Herz gefunden, Ihres.
      Und die Helden aus Ihrem Buch finden Einzug in meines.

  2. TriMartolod sagt:

    Herr Fleck, danke dass wir an diesem rührenden Abschnitt Ihrer Lebensgeschichte teilhaben dürfen.

    "Die Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden jähen Bach des Lebens, hundertmal von Gischt verschlungen und sich immer von neuem zusammensetzend, und mit zarter schöner Kühnheit ihn überspringend, dort wo er am wildesten und gefährlichsten braust."

    Friedrich Nietzsche

  3. Nevyn sagt:

    Danke für diese berührende Geschichte. Sie zeigt mir erneut, dass die Hoffnung für diesen Planeten nicht von den Krakeelern, „Aktivisten“ und sonstigen Rambos ausgeht, auch nicht von den vielen Gutmenschen-NGOs, sondern von den meist unbekannt bleibenden Stillen im Lande, die ihre ganz persönliche Verantwortung auf ihrem Weg erkennen und annehmen, statt einer wie auch immer gearteten „Bewegung“ nachzulaufen.

  4. coronistan.blogspot.com sagt:

    Was sagt Dirk C. Fleck zu "Judea Declares War On Germany"?

    • AmokKoma1945 sagt:

      Der Herr Dirk C. Fleck ist viel zu intelligent um auf Ihr "Anliegen" einzugehen. Worauf Ihr "Anliegen" hinausläuft, ist so was von klar und Sie mitsamt Ihren Anhängern würde ich gerne eine Reise mit der NASA sponsern, allerdings mit Ein-Weg-Ticket – Reisethema und -ziel: Schweine ins Weltall!

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