Tagesdosis

Kein Nuklearkrieg in Europa! | Von Oskar Lafontaine

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Wir müssen uns aus der Vormundschaft der USA befreien. Exklusivabdruck aus „Ami, it’s time to go!“ Ein Kommentar von Oskar Lafontaine.

Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

Wenn wir ein friedliches Europa anstreben und uns aus den Konflikten der Atommächte heraushalten wollen, dann brauchen wir die Befreiung Europas von der militärischen Vormundschaft der USA durch eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dieses Ziel sollte unsere oberste Priorität sein. Exklusivabdruck aus „Ami, it’s time to go! ― Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“.

Langsam, aber sicher kippt die Stimmung in der Bundesrepublik. Von Tag zu Tag sind immer weniger Leute bereit, die anhaltende Kriegshetze so ohne Weiteres mitzumachen. Sie erfahren von dem großen Leid, das in der Ukraine verursacht wird, und hören die täglichen Forderungen des CDU-Vorsitzenden Merz, der FDP-Politikerin Strack-Zimmermann oder des Grünen-Abgeordneten Hofreiter, immer mehr Waffen in die Ukraine zu liefern.

Leider gibt der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz nach anfänglichem Zögern immer wieder klein bei und liefert. Den Vogel abgeschossen hat erneut unsere Außenministerin Annalena Baerbock, die ihre Forderung, die Ukraine mit weiteren Waffen und „Leopard“-Panzern auszustatten, damit begründete, dass deutsche Waffen Leben retten würden. Da fehlen einem die Worte.

Die Älteren erinnern sich noch daran, dass Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 27 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, darunter viele Millionen Russen und Ukrainer.

Am 27. Januar 2014 hatte der 95-jährige Überlebende der Belagerung Leningrads, Daniil Granin, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages an die Inschrift eines russischen Soldaten an den Wänden des Reichstages erinnert: „Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du nicht mehr zu uns kommst“ (1). Und jetzt sollen wir wieder Waffen liefern, damit das Morden in der Ukraine endlos weitergeht, mit deutschen Waffen Russen getötet werden und die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt?

Die Belesenen glauben ohnehin nicht an die Alleinschuld Russlands. Sie erinnern sich an das Gorbatschow gegebene Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Sie wissen, dass die USA 2014 einen Putsch auf dem Maidan organisiert und finanziert haben, um eine Marionettenregierung einzusetzen, die die endgültige Aufnahme der Ukraine in die NATO vorantreiben würde. Zu verlockend war für die Hardliner in Washington die Vorstellung, nach den Raketenbasen in Polen und Rumänien jetzt auch Raketen an der ukrainisch-russischen Grenze aufstellen zu können.

Unvergessen ist in diesem Zusammenhang das schamlose Märchen der USA, die Raketen in den osteuropäischen Staaten würden stationiert, um iranische Raketen abzufangen. Und selbstverständlich druckte die westliche Propagandapresse diese dämlichen Erklärungen ab, ohne sie infrage zu stellen, geschweige denn zu kritisieren. Das Pentagon kann jede Lüge verbreiten ― die westlichen Medien werden sie schlucken.

Raketen ohne Vorwarnzeiten sind so etwas wie das Messer am Hals des jeweiligen Gegners. Sie sind die glaubwürdige Drohung, mit einem Schlag die politische Führung und die militärischen Kommandozentralen des Gegners auszuschalten. „Nicht wer zuerst zu den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt“, schrieb schon vor 500 Jahren der Florentiner Nicolo Machiavelli.

Die von Willy Brandt geprägte Entspannungspolitik, die uns jahrzehntelang Frieden und Sicherheit gebracht hat, wurde Zug um Zug aufgegeben (2). Die Ampelregierung unterstützt seit ihrem Regierungsantritt vorbehaltlos die aggressive Politik der USA.

Ein Sanktionspaket nach dem anderen wurde beschlossen, um Putin zu bestrafen. Der mit Sanktionen geführte Wirtschaftskrieg gegen Russland begann spätestens 2017, lange vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Senat und Kongress in Washington beschlossen ein Gesetz, das zum Ziel hatte, den russischen Einfluss in Europa und Eurasien zurückzudrängen. 2018 nahmen die USA Nord Stream 2 in den Fokus (3). Gesetzlich wurde festgelegt, dass die Sanktionsbeschlüsse der USA in Zukunft internationales Recht seien und Verstöße dagegen zivilrechtlich und strafrechtlich in den USA verfolgt würden.

In der Klausel 257 dieses Gesetzes wurde bestimmt, dass es das Ziel dieses Gesetzes sei, dem Export von US-Energieressourcen Vorrang vor anderen Exportströmen zu verschaffen, um in den USA neue Jobs entstehen zu lassen. Schon im Dezember 2017 hatten Demokraten und Republikaner der Schweizer Firma „Allseas“, die die Rohre für Nord Stream 2 verlegte, mit der Vernichtung gedroht, wenn sie nicht binnen 48 Stunden die Arbeit an der Pipeline einstellen würde. Die Firma gab nach. Immerhin hatte der damalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern den Mut, diese US-Gesetze als einen „eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht“ zu brandmarken (4). Ein mutiger deutscher Bundeskanzler hätte die Sprengung von Nord Stream 2 jetzt eine Kriegserklärung an Deutschland genannt.

Mittlerweile merken viele Bundesbürger: Diese Sanktionen sind vor allem ein Schuss ins eigene Knie. Sicher, die russische Wirtschaft leidet und hat zunehmende Schwierigkeiten, aber hierzulande schießen die Energiepreise durch die Decke. Viele Leute können ihre Heizungskosten und die Strompreise nicht mehr bezahlen und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die deutsche Wirtschaft befürchtet eine Pleitewelle und fordert die Regierung auf, eine Lösung zu finden. Aber ― und das trauen sich die wenigsten auszusprechen: Ohne russische Rohstoffe und Energielieferungen werden wir unseren Wohlstand nicht halten können. Immer mehr Menschen werden verarmen und zahllose Betriebe werden schließen. Die Arbeitslosigkeit wird steigen.

Sehenden Auges fährt die Ampelkoalition die deutsche Wirtschaft an die Wand. Deshalb ist diese Regierung die dümmste, die wir hatten seit Bestehen der Bundesrepublik.

Ich möchte im Folgenden Wege aus dieser katastrophalen Lage aufzeigen. Dazu ist es notwendig, dass wir uns Klarheit darüber verschaffen, warum wir überhaupt in dieser Situation sind. Einen wichtigen Grund habe ich bereits genannt: Die Entspannungspolitik wurde aufgegeben und durch eine Politik der Konfrontation ersetzt. Das ist eine erstaunliche Entwicklung in einem Land, das so hervorragende Erfahrungen mit der Ostpolitik Willy Brandts gemacht hat.

Ich habe in meiner Jugend Physik studiert, da gingen wir nach folgender Methode vor: Man stellt eine Theorie auf und anschließend führt man ein Experiment durch. Das Experiment wird die Theorie entweder bestätigen oder widerlegen. Die Theorie, dass der Frieden in Europa nur durch Abrüstung und Annäherung dauerhaft gewährleistet werden kann, wurde durch das „Experiment Entspannungspolitik“ jahrzehntelang bestätigt, weil es in dieser Zeit keinen Krieg in Europa gab. Doch in der heutigen deutschen Politik- und Medienlandschaft scheint dies kaum noch einer zu wissen.

Die Abkehr von der Brandt’schen Entspannungspolitik begann bereits vor 30 Jahren, als Michail Gorbatschow die politische Bühne verließ und die Hardliner in Washington glaubten, jetzt könne man die Früchte des Zusammenbruchs der Sowjetunion ernten. Die USA brachen all ihre Versprechungen und weiteten die NATO nach Osten aus, obwohl US-Politiker wie George Kennan diese Osterweiterung den größten Fehler der US-Außenpolitik nach dem Kriege nannten (5). Die Osterweiterung, so der US-Diplomat, werde zu Militarismus und Nationalismus führen. Selten wurden die Folgen einer falschen Politik so präzise vorausgesagt.

Wenn es in der Bundesrepublik jetzt jüngere Politikerinnen und Politiker gibt, allen voran die jetzige Außenministerin Annalena Baerbock, die meinen, die aktuelle Politik der Waffenlieferungen in die Ukraine würde zum Frieden führen, dann ist das ein unverzeihlicher Irrtum. Diese Politik der Konfrontation führt zur Zerstörung der Ukraine und zu vielen Tausenden Toten und kann in einem Dritten Weltkrieg enden. Deshalb müssen wir sie unverzüglich aufgegeben und wieder zur Entspannungspolitik zurückkehren.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Deutscher Bundestag: „Rede von Daniil Granin“, 27. Januar 2014, online unter: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/rede_granin-261326 (2) Bei dem Text handelt es sich um eine erweiterte Version einer Rede, die Oskar Lafontaine am 17. September 2022 im Rahmen des 34. Pleisweiler Gesprächs der NachDenkSeiten hielt. Das Thema lautete: „Ende der Entspannungspolitik? Wer Frieden will, muss sich von den USA befreien“, online einzusehen unter: https://www.nachdenkseiten.de/?p=88304 (3) Atlantik-Brücke Dossier: „Die Sanktionsspirale der USA gegen Nord Stream 2“, in: Atlantik-Brücke, 2. November 2020, online unter: https://www.atlantik-bruecke.org/die-sanktionsspirale-der-usa-gegen-nord-stream-2/ (4) Auswärtiges Amt: „Außenminister Gabriel und der österreichische Bundeskanzler Kern zu den Russland-Sanktionen durch den US-Senat“, 15. Juni 2017, online unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/170615-kern-russland/290664 (5) George Kennan: „A Fateful Error“, in: New York Times, 5. Februar 1997, online unter: https://www.nytimes.com/1997/02/05/opinion/a-fateful-error.html

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst in ViER, Ausgabe 1/23. Auszug aus: Oskar Lafontaine: „Ami, it’s time to go! ― Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“. Am 14. Februar 2023 erscheint eine erweiterte Auflage des Buchs. +++ Dank an den Autor und den Rubikon für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 18.02.2023 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse. +++ Bildquelle: shutterstock / Pixel-Shot


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