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Kein anti-russisches Abkommen | Von Sabiene Jahn

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Die Fehleinschätzung des Westens im Südkaukasus

In den Hauptstädten des Westens klang es in den letzten Tagen wie ein diplomatisches Freudenfest. „Neue Ära im Südkaukasus“, titelten Analysten und Kommentatoren. Aus Washington und Brüssel drangen Botschaften des Triumphes, als sei eine geopolitische Zäsur gelungen. Die Tinte unter dem von den USA vermittelten Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan war kaum getrocknet, da überschlugen sich Politiker und große Medien in Lobeshymnen. Was als „historischer Durchbruch“ inszeniert wird, ist bei näherem Hinsehen vor allem eines: eine Fehlinterpretation.

Ein Standpunkt von Sabiene Jahn.

Diese kritische Einordnung stammt nicht allein von Prof. Pascal Lottaz, Politikwissenschaftler aus der Schweiz, sondern ebenso von seinem Co-Autor Lasha Kasradze, einem georgischen Analysten, der im Podcast Neutrality Studies bereits mehrfach mit Lottaz über geopolitische Balancepolitik diskutiert hat.

In seiner jetzigen Form ist das Abkommen nichts weiter als eine Absichtserklärung – und dazu noch eine ausgesprochen vage. Mediennarrativ und Vertragsrealität klaffen weit auseinander: Während westliche Schlagzeilen von einem „strategischen Ausschluss Russlands“ sprachen, findet sich im Originaltext kein einziger Satz, der Russland explizit erwähnt – geschweige denn ausschließt. Stattdessen heißt es:

„Die Parteien erkennen die Souveränität, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der internationalen Grenzen und politische Unabhängigkeit des jeweils anderen an und bestätigen, dass keine territorialen Ansprüche bestehen und künftig keine erhoben werden“ (Art. I–II, Peace Agreement, MFA Azerbaijan).

Der in manchen Medien gefeierte „99-Jahre-Pachtvertrag“ für eine Autobahn- und Bahntrasse im Zangezur-Korridor? Er steht nicht im Text. Weder Zeitrahmen noch Eigentumsfrage sind dort geregelt. Der Vertrag beschränkt sich darauf, „eine Verkehrsverbindung zwischen dem aserbaidschanischen Festland und der Enklave Nachitschewan herzustellen“ (sinngemäß aus Art. X, Peace Agreement) – ohne Präzisierung, wer baut, wer zahlt oder wer dauerhaft kontrolliert. Die „99 Jahre“ sind eine reine Hinzufügung aus dem medialen Raum, ohne vertragliche Grundlage.

Bemerkenswert ist dagegen eine Passage, die Armenien verpflichtet,

„mit den Vereinigten Staaten von Amerika und einvernehmlich bestimmten Dritten […] einen Rahmen für das ‚Trump Route for International Peace and Prosperity‘-Projekt (TRIPP) festzulegen“ (Art. X).

Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen westlicher Interpretation und Vertragstext: In Kommentaren wurde oft der Eindruck erweckt, die USA hätten sich alleinige Deutungshoheit gesichert. Tatsächlich steht im Abkommen die explizite Offenheit für „bestimmte Dritte“ – und das können in der Praxis auch Russland oder China sein.

In westlichen Analysen wird oft unterschätzt, wie stark Ankara in dieser Gleichung ist. Die Türkei hat nicht nur enge kulturelle und sprachliche Bande zu Aserbaidschan, sie ist auch militärisch ein entscheidender Partner – nicht zuletzt durch Unterstützung in den Kriegen um Berg-Karabach. Medienkommentare stellen diese Dimension oft als „Türkei im Schlepptau der USA“ dar. Der Vertragstext sagt dazu nichts – und lässt Ankara alle Freiheiten, den Korridor in eigenem Interesse zu nutzen. Ein funktionierender Zangezur-Korridor würde die direkte Verbindung zwischen der Türkei und den turksprachigen Staaten Zentralasiens stärken. Das erhöht Ankaras regionalen Einfluss erheblich – unabhängig davon, wie Washington oder Brüssel den Deal interpretieren. Für Russland ist diese Rolle der Türkei kein neues Phänomen. Moskau hat in Syrien, Libyen und im Südkaukasus gelernt, mit Ankara konkurrierend und kooperierend zugleich umzugehen. Auch hier der Kontrast: Während westliche Leitartikel vom „russischen Kontrollverlust“ sprachen, enthält das Abkommen keinen Passus, der Russland als Akteur im Südkaukasus einschränken würde.

Der einzige Staat, der sich bislang eindeutig gegen das Abkommen stellt, ist der Iran. Teheran sieht den Zangezur-Korridor als potenzielle Bedrohung für seine Anbindung an Armenien und damit für seinen Zugang zu den Märkten im Norden. Jede dauerhafte infrastrukturelle Verschiebung zugunsten der Türkei und Aserbaidschans könnte die iranische Position schwächen. Anders als Russland und China reagiert der Iran daher nicht mit abwartendem Pragmatismus, sondern mit klarer Ablehnung – ein Punkt, den die meisten westlichen Analysen nur am Rande erwähnten. Trotz wirtschaftlicher Schwächung durch Sanktionen hält Russland entscheidende Hebel in der Region – wirtschaftlich, politisch und sicherheitspolitisch. Präsident Ilham Aliyev weiß, dass sein Land weder militärisch noch wirtschaftlich ohne Rücksicht auf Moskau agieren kann. Hier zeigt sich erneut der Unterschied: Medienberichte rahmten Aliyev als „neuen, vom Westen gestützten Machtfaktor“, der Russland umgeht. Der Vertrag selbst gibt dafür keinerlei Anhaltspunkte. Kasradze und Lottaz erinnern an die 1990er:

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wendeten sich Georgien und Aserbaidschan dem Westen zu. Doch Anfang der 2000er Jahre war Russland unter Putin wieder in voller Stärke präsent – politisch und militärisch. Was wie Schwäche aussah, war oft nur eine Phase der Reorganisation.

Timing und Ukraine-Connection

Für Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan ist die Lage besonders prekär. Der Verlust von Berg-Karabach 2023 hat das Vertrauen in seine Politik erschüttert. Viele Armenier fühlen sich von westlichen Partnern im Stich gelassen. Medienberichte zeichneten oft das Bild eines „durch den US-Deal rehabilitierten Paschinjan“. Doch im Vertrag findet sich kein Mechanismus, der Armenien automatisch wirtschaftliche oder sicherheitspolitische Vorteile garantiert.

Brisant ist der Zeitpunkt des Abkommens. Parallel dazu leitete die Trump-Regierung in Washington ein Treffen mit Wladimir Putin ein, um über eine Lösung des Ukraine-Konflikts zu verhandeln. In der internationalen Politik gibt es keine Zufälle. Es wäre strategisch unklug, Russland im Kaukasus zu provozieren, während man es im Ukraine-Krieg als Verhandlungspartner braucht. Ein solches komplexes Netz aus geopolitischer Feinjustierung kennt man auch aus der Ukraine – dort wurde lange vor 2014 umfassende Soft Power des Westens eingesetzt: durch milliardenschwere NGO-Förderprogramme, Medienprojekte und Bildungsinitiativen, die langfristig das politische Klima beeinflussten. Und Strategiepapiere aus US-Thinktanks wie dem Atlantic Council zeigen, dass ein vergleichbarer Mechanismus auch gegen den Iran erwogen wird – gezielte Unterstützung etwa von Frauenrechtsbewegungen oder zivilgesellschaftlichen Initiativen soll den gesellschaftlichen Wandel fördern. Immer wieder auch dabei ist das National Endowment for Democracy (NED) - eine private, gemeinnützige Stiftung, die sich dem Ausbau und der Stärkung demokratischer Institutionen weltweit widmet. Jedes Jahr vergibt NED über 1.900 Zuschüsse zur Unterstützung von Projekten nichtstaatlicher Organisationen im Ausland, die sich in über 90 Ländern für „demokratische Ziele“ einsetzen. Ziel war und ist es, langfristig eine prowestliche Grundhaltung in den Köpfen zu verankern und so den politischen Kurs eines ganzen Landes zu beeinflussen, ohne formale Abkommen oder offene militärische Präsenz.

Wer diese Entwicklung kennt, erkennt, dass auch im Südkaukasus nicht allein das geschriebene Wort im Vertrag zählt, sondern ebenso die begleitenden Narrative, Versprechen und flankierenden Programme. Sie prägen das politische Klima oft nachhaltiger als die nüchternen Klauseln auf dem Papier. Der Vertrag selbst liefert für die These einer gezielten „Eindämmungsstrategie“ gegenüber Russland keine belastbaren Belege. Vielmehr eröffnet er eine breite Interpretationsspanne, die politisch unterschiedlich gefüllt werden kann. Vor diesem Hintergrund wirkt das TRIPP-Projekt nicht länger wie ein isoliertes Wirtschaftsabkommen, sondern wie das infrastrukturelle Fundament möglicher Soft-Power-Strategien im Südkaukasus. Kasradze und Lottaz sehen hierin keine isolierten Entwicklungen, sondern miteinander verbundene Schauplätze. Selbst wenn Moskau das TRIPP-Projekt nicht aktiv gefördert hat, dürfte es stillschweigend zugestimmt haben – in der Erwartung, dass dies den Verhandlungsprozess über die Ukraine nicht stört.

Westliche Euphorie – gefährlich kurzsichtig

Die größte Gefahr liegt nicht in einem angeblichen Rückzug Russlands, sondern in einer Fehleinschätzung westlicher Politik. In Georgien und Armenien drängen Kräfte auf schnelle Integration mit dem Westen – oft in der Annahme, Russlands Einfluss sei geschwächt. Der Verlust von Berg-Karabach sollte jedoch eine ernüchternde Lektion sein: Westliche Schutzversprechen haben in dieser Region Grenzen.

Aus journalistischer Sicht ist bemerkenswert, wie bereitwillig große Teile der westlichen Öffentlichkeit Narrative übernehmen, die mehr Wunschdenken als Analyse sind. Ein geoökonomisches Projekt wird automatisch als geopolitischer Sieg verbucht – auch wenn der Text des Abkommens diese Deutung nicht stützt. Der Kontrast ist frappierend: Wo die Primärquelle offen lässt, wer am TRIPP-Projekt beteiligt wird, schließt das Mediennarrativ Russland kurzerhand aus. Wo der Vertrag lediglich von einer Verkehrsverbindung spricht, erfindet der Kommentarraum einen „99-Jahre-Deal“.

Das Abkommen mag Teil einer langfristigen US-Strategie sein, den Südkaukasus stärker an westliche Wirtschaftsnetze zu binden. Doch ohne militärische Ausschlussklausel für Russland und mit offener Einladung an „bestimmte Dritte“ (Art. X, Peace Agreement) bleibt es ein flexibles Rahmenpapier. Wer darin bereits den geopolitischen Gamechanger sieht, hat entweder den Text nicht gelesen oder die Region nicht verstanden. Das Friedensabkommen verdient Anerkennung, weil es ein weiteres Blutvergießen stoppt. Doch es ist weder ein antirussisches Meisterstück noch eine geopolitische Wende. Die Euphorie in Washington und Brüssel wirkt wie der Jubel eines Marathonläufers nach dem ersten Kilometer – laut, aber verfrüht. Wenn der Westen klug ist, erkennt er die realen Kräfteverhältnisse im Südkaukasus und baut darauf eine Politik auf, die Stabilität fördert, statt Illusionen. Andernfalls droht die „neue Ära“ schneller zu enden, als sie begonnen hat – und das Terrain fällt zurück in alte Muster von Einflusszonen, Blockaden und Stellvertreterkonflikten.

Quellen und Anmerkungen

1) https://time.com/7308564/trump-peace-deal-armenia-azerbaijan/

2) https://mfa.gov.az/files/Birge%20Beyanname-ABS/Peace%20Agreement%20AZ%20translation.pdf

3) https://www.primeminister.am/en/press-release/item/2025/08/09/Nikol-Pashinyan-visit-US-declaration/

4) https://president.az/en/articles/view/69572

5) https://www.reuters.com/world/azerbaijan-armenia-publish-text-us-brokered-peace-deal-2025-08-11/

6) https://www.politico.com/news/2025/08/07/us-deal-armenia-azerbaijan-00499285

7) https://time.com/7308564/trump-peace-deal-armenia-azerbaijan/

8) https://armenpress.am/en/article/1226785

9) https://www.atlanticcouncil.org/wp-content/uploads/2024/10/The-future-of-US-strategy-toward-Iran.pdf

10) https://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_reports/RR3000/RR3063/RAND_RR3063.pdf

11) https://www.ned.org/region/central-and-eastern-europe/ukraine-2014/

12) https://neutralitystudies.com/

13) https://carnegie-production-assets.s3.amazonaws.com/static/files/files__Remler_Caucasus_v2.pdf

14) https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-welcomes-strategic-transit-corridor-after-azerbaijan-armenia-peace-deal-2025-08-09/

15) https://www.mfa.gov.tr/ankara-declaration-turkiye-azerbaijan-and-uzbekistan.en.mfa

16) https://trt.global/world/article/12787367

17) https://trt.global/world/article/12786333

18) https://www.britannica.com/place/Zangezur

19) https://www.britannica.com/place/Naxcivan-Azerbaijan

20) https://www.crisisgroup.org/europe-central-asia/caucasus/azerbaijan

21) https://english.news.cn/20250809/27c8d321b83942c2bba06719406d510d/c.html

22) https://www.fmprc.gov.cn/eng./xw/fyrbt/lxjzh/202503/t20250314_11576059.html

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Dank an den Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Foto: Flagge Armeniens Flagge Aserbaidschans

Bildquelle: Svet foto / shutterstock


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