Ist Deutschland unabhängig?

Wolfgang Bittner

interviewt von Alexander Sosnowski für World Economy.

World Economy: Ist Deutschland tatsächlich unabhängig? Es wird gerade sehr viel über den so genannten Kanzlerakt geschrieben. Es soll wohl jeder Kanzler vor seinem Amtsantritt etwas in den USA unterschreiben. Niemand hat das gesehen, viele haben darüber gesprochen. Ist da etwas dran? Ist das nur eine weitere Verschwörungstheorie oder sind wir wirklich dermaßen von den USA abhängig?

Wolfgang Bittner: Das wird geheim gehalten. Insofern weiß man das nicht, man ahnt aber einiges. Rein theoretisch ist Deutschland ein souveräner Staat, der allerdings unter den Bundeskanzlern Brandt, Kohl und Schröder schon souveräner war, um es mal so auszudrücken. Während Russland nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten Anfang der 90er Jahre seine Truppen aus der ehemaligen DDR, aber auch aus den Baltischen Staaten und Polen, zurückgezogen und seine Militärstützpunkte aufgegeben hat, ist das US-Militär geblieben, beziehungsweise sogar nachgerückt. Ich erinnere daran, dass beispielsweise in Büchel in der Pfalz Atomwaffen von den USA stationiert sind und von Ramstein aus die Drohnen gesteuert werden. Zudem nehmen die USA gerade in letzter Zeit massiv Einfluss auf die deutsche Außenpolitik. Dass das möglich ist, liegt nicht zuletzt an Frau Merkel. Wir sehen das besonders an der Ukraine-Krise und jetzt auch an ihren Stellungnahmen zum Krieg in Syrien. Zu beiden Konflikten vertritt Frau Merkel unreflektiert, wie ich meine, also völlig unkritisch die Position Washingtons, als ob Russland für den Krieg in der Ukraine oder den Krieg in Syrien verantwortlich wäre. Das ist ja nun nachweislich nicht so. Wird aber von der offiziellen Politik und den so genannten Leitmedien fälschlicherweise so dargestellt. Das ist doch alles furchtbar scheinheilig. Mossul darf gebombt werden – Aleppo nicht. Um die von den Terrormilizen als Schutzschild benutzte Zivilbevölkerung von Aleppo sorgt man sich – auf die Zivilbevölkerung von Mossul wird keine Rücksicht genommen. Daran wird doch schlagartig deutlich, wie verlogen das alles ist und dass nicht korrekt berichtet wird. Dass die USA und die NATO massiv Einfluss auf die deutschen Medien nehmen, ist ebenfalls bekannt und auch nachweisbar. Und soweit ich weiß, um auf ihre Anfangsfrage noch mal einzugehen, gibt es geheime Verträge nach denen die US-Geheimdienste legal in Deutschland tätig sein dürfen, die durften auch die Post kontrollieren, das hat der Freiburger Wissenschaftler Josef Foschepoth schon vor Jahren in einem seiner Bücher ausführlich dargelegt. Wenn also die NSA hier abhört und spitzelt, dann tut sie das offenbar legal.

WE: Das würde bedeuten, dass Deutschland in seinen Entscheidungen – vor allem die Außenpolitik betreffend – doch nicht ganz unabhängig ist?

B: Wie schon gesagt: theoretisch – ja, praktisch – offenbar nein. Wir merken es doch schon an der praktischen Politik. Ganz aktuell auch wieder an Syrien, wo die Position der USA von der deutschen Regierung vertreten wird, aber auch an der Ukraine – Frau Merkel empfängt Poroschenko, der meines Erachtens vor den Internationalen Strafgerichtshof gehört. Es ist also offensichtlich so, dass die Außenpolitik Deutschlands zum Teil in Washington gemacht wird.

WE: Es ging gerade eine Meldung durch die Ticker, dass Barack Obama ganz unerwartet nach Berlin kommen wird. Das ist höchst ungewöhnlich, dass ein Präsident am Ende seiner Amtszeit noch mal Berlin besucht. Was könnte der Grund für diesen plötzlichen Besuch sein?

B: Vielleicht soll es um das Freihandelsabkommen TTIP gehen. Oder auch um das Abkommen mit Kanada – das CETA – das ja jetzt in Frage gestellt worden ist. Vielleicht soll Deutschland, insbesondere Frau Merkel, nochmals darauf eingeschworen werden. Angeblich ist Frau Merkel ja mit Obama befreundet. Und das ist überhaupt ein Phänomen, dass Politiker meinen in dieser Weise miteinander befreundet zu sein. Die sollen Politik machen und Freundschaften pflegen wo immer sie hingehören. Das sind ganz seltsame Verhältnisse. Ich meine, dass Obama jetzt etwas zu besprechen hat, wie zum Beispiel das Freihandelsabkommen.

WE: Kommen wir zur Ostpolitik der NATO. Russland hat vor kurzem die so genannten Plutonium-Verträge aufgekündigt. Die NATO will ihrerseits weitere Panzerdivisionen nach Polen und ins Baltikum senden. Kommt eine neue Spirale der nuklearen Aufrüstung auf uns zu?

B: Die Regierungen in Washington und Moskau hatten das Abkommen schon im Jahr 2000 unterzeichnet, wonach über 30 Tonnen radioaktives Plutonium entsorgt oder entschärft werden sollten. Das Abkommen war 2010 in Kraft getreten. Präsident Putin hat das jetzt aufgekündigt. Er hat das mit unfreundlichen Handlungen der USA und einer Bedrohung der strategischen Stabilität begründet. Das ist meiner Ansicht nach berechtigt. In den USA werden schon länger begrenzte taktische Atomschläge erwogen, gegen wen auch immer. Ich habe das in meinem Buch „Die Eroberung Europas durch die USA“ schon mal geschrieben und aus einem Report des Washingtoner Center for Strategic and International Studies zitiert. Da heißt es, begrenzte taktische Atomschläge seien möglich oder erwägenswert und – man höre gut zu – ohne dass die amerikanische Heimat gefährdet würde. Das ist die Theorie, sozusagen die Planungsphase, aber in der Praxis des bislang noch Kalten Krieges ist es eine neue Stufe der Eskalation. Also die NATO hat sich immer mehr zu einem großen Problem entwickelt. Anstatt die Vereinbarungen und Versprechungen von 1989 einzuhalten, ist sie immer weiter an die Grenzen Russlands vorgerückt. Da ist eine Militärmaschinerie aufgebaut worden, die Russland real bedroht. Die westlichen Politiker sagen zwar, auch wieder sehr scheinheilig, dieses Szenario und die umfangreiche Aufrüstung dienten allein der Sicherheit Westeuropas, insbesondere der Baltischen Staaten und Polens, die einen Angriff Russlands befürchten. Aber das ist an Absurdität und antirussischer Propaganda kaum zu überbieten. Warum sollte Russland die Baltischen Staaten oder Polen angreifen? Das ist doch völliger Unsinn.

WE: Kommt eine neue Spirale der nuklearen Aufrüstung auf uns zu?

B: Die NATO hätte, meiner Ansicht nach, Anfang der 90er Jahre, als sich der Warschauer Pakt aufgelöst hat, ebenfalls aufgelöst werden müssen und zwar zu Gunsten eines gesamteuropäischen Verteidigungsbündnisses – einschließlich Russlands. Dann gäbe es viele der heutigen Probleme gar nicht. Denn die NATO hat sich von einem Verteidigungs- zu einem Angriffsbündnis gewandelt. Das ist im Interesse der US-Imperial-Politik – Weltmacht Nummer Eins zu sein und zu bleiben. Aber nicht im Interesse Europas. Ich will jetzt nicht auf die Thesen von Brzezinski vom Schachbrett Eurasien und von dem Hardliner George Friedman eingehen. Die USA haben die von ihnen veranlasste und weiter betriebene Spaltung Europas gegen die Interessen der westeuropäischen Länder und Russlands durchgesetzt. Es ist inzwischen bekannt, dass die USA mit allen Mitteln eine Kooperation Russlands mit der EU und insbesondere mit Deutschland verhindern wollen. Die NATO und ihr Bedrohungsszenario dienen dazu, die Spaltung Europas zu festigen. Das ist natürlich tragisch und für die Politik der europäischen Staaten, einschließlich Deutschlands, ein Armutszeugnis. Es ist dringend geboten, dass sich die europäischen Politiker wieder auf die Interessen ihrer Länder und die Bedürfnisse der Bevölkerung besinnen. Und dass sie die souveränen Rechte wahrnehmen, beziehungsweise, was Deutschland betrifft, einfordern.

WE: Wo wir gerade über die Osterweiterung der NATO sprechen. Diese könnte tatsächlich einen Krieg mit Russland zur Folge haben. Sehen Sie das auch so?

B: Ich glaube auch, dass die Situation außerordentlich gefährlich ist. Aber ich glaube nicht, dass sich Russland in Syrien auf einen Krieg mit den USA einlassen würde, Damaskus ist 2500 Kilometer von Moskau entfernt. Die Ukraine, Kiev – 700 Kilometer, Lettland – 700 Kilometer. Wenn dort Raketenstellungen gebaut oder Raketen mit Atomsprengköpfen stationiert werden, dann ist die Vorwarnzeit für das europäische Russland minimal. Und eigentlich kann Russland das gar nicht dulden. Deswegen jetzt auch die Kündigung des Vertrags zum Plutonium-Abbau. Der Vertrag wurde bis jetzt ganz einseitig von Russland eingehalten und von den USA nicht. Ich glaube, um auf ihre Frage zurückzukommen, dass Polen die USA gar nicht überzeugen musste. Polen ist den Vorgaben aus den USA gegenüber sehr aufgeschlossen. Noch offener als die deutsche Regierung, würde ich sagen. Wenn dieser Eiserne Vorhang, der schon besteht, jetzt auch militärisch weiter ausgebaut wird, dann bedeutet das, dass die Spaltung Europas manifestiert wird. Russland ist das größte Land Europas, und ich habe das schon mehrmals gesagt, auch in meinem Buch „Die Eroberung Europas durch die USA“ geschrieben: Westeuropa ist auf Russland angewiesen. Es geht dabei nicht nur um Öl oder Gas sondern auch um andere Bodenschätze, Erze usw. Auf die Dauer wird sich das nicht halten lassen. Die Frage ist: Wie lange können die USA ihren Einfluss ausüben, um die Spaltung Europas aufrechtzuerhalten.

WE: Herr Bittner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Dieses Interview wurde am 25.10.16 geführt und erschien am 27.10.16 auf der Seite „World Economy“.

Fotohinweis: Fotohinweis: wikimedia.commons.org, Urheber: WDKrause, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Danke an die Autoren für das Recht der Zweitverwertung.

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