
Impressionen von der Reise in die russische Hauptstadt
Ein Kommentar von Tilo Gräser.
Nun bin ich zum zweiten Mal in diesem Jahr für etwa zwei Wochen in Moskau, nachdem ich im Mai aus Anlass des 80. Jubiläums des Tages des Sieges hier war. Die Rückkehr nach nicht ganz sechs Monaten war ursprünglich so nicht geplant. Aber zum einen dachte ich, dass ich ein privates Jubiläum in der russischen Hauptstadt begehen kann. Und zum anderen hatte ich das Bedürfnis, angesichts der russophoben deutschen Politik zu zeigen, dass nicht alle Deutschen so feindlich sind wie die derzeitige Bundesregierung. Besser noch: Überhaupt nicht feindlich gegenüber dem großen Land und seinen Menschen. Das nicht uns in Deutschland bedroht, sondern von einer deutschen Politik auf Kriegskurs bedroht wird, die alle geschichtlichen Erkenntnisse über Bord geworfen hat.
Was aber Folgen hat auch für die Menschen, die sich weiterhin begegnen wollen oder die wie meine Kollegin und ich weiter über und aus Russland berichten wollen. So stand ein Interviewwunsch von ihr mit jemand aus einer russischen Universität auf der Kippe. Die Leitung der Bildungseinrichtung hatte Bedenken, ob das so gut ist, weil wir ja aus einem nunmehr „feindlichen“ Land kommen. Aber inzwischen hat sich das geklärt und das Interview ist genehmigt.
Wir haben uns wie im Mai zu zweit auf den Weg gemacht, via Kaliningrad. Dorthin brachte uns ein Kleinbus des Leipziger Unternehmens Top Transfer von Konstantin Ermisch, das an der Stelle unbedingt erwähnt werden muss. Es hilft Menschen, nach Russland zu kommen, die aus verschiedenen Gründen dorthin wollen oder müssen und das nicht per teurem Flug via Istanbul oder anderswo machen wollen oder können. In Zeiten wie diesen sind solche Möglichkeiten und Angebote nicht hoch genug zu schätzen. Für uns war bisher auch jedes der drei Male, die wir auf diese Weise mit einem Kleinbus nach Russland kamen, eine Chance, andere Menschen kennenzulernen und zu erfahren, was sie in das große Land führt.
Angesichts der zunehmenden Konfrontation zwischen dem sogenannten Westen, dem sich auch ost- und mitteleuropäische Länder wie Polen angeschlossen haben, und Russland waren wir gespannt, ob sich beispielsweise beim Grenzübertritt von Polen nach Russland irgendetwas negativ verändert hat. Die kürzliche Drohnen-Hysterie mit kurzzeitigen Grenzschließungen hatte auch uns Sorgen gemacht. Im Mai 2024 und ein Jahr später dauerte der Übertritt von Polen nach Russland für uns jeweils nie länger als zwei bis drei Stunden. Da hatten wir von anderen, die ebenfalls auf der Straße den Weg nach Kaliningrad nahmen – ob mit eigenem Auto oder Bus –, von deutlich längeren Wartezeiten gehört. Dieses Mal mussten wir und die sechs anderen im Kleinbus, einschließlich dem Fahrer, zum Glück auch nicht länger warten. Und am schnellsten ging es auf der polnischen Seite, während die russischen Zöllner unser Fahrzeug und unser Gepäck wie das derjenigen vor uns etwas gründlicher kontrollierten. Etwas kritisch wurden die Exemplare des Magazins Hintergrund und die Bücher begutachtet, die ich im Koffer hatte. Aber am Ende war alles gut und auch der schnüffelnde Spürhund des russischen Zolls hatte bei uns nichts zu beanstanden.
Nach Russland wegen der Liebe und mit klarem Blick
Am Ende kamen wir nach etwa zehn Stunden Fahrt mit zwei kleinen Pausen im Hotel Salve in Kaliningrad an. Dort verbrachten wir eine Nacht, bevor es am nächsten Vormittag mit der Fluggesellschaft Aeroflot nach Moskau ging. Auf dem Flughafen trafen wir Ingo wieder, neben dem wir auf der Busfahrt nach Kaliningrad saßen. Sein Grund nach Russland zu fahren überraschte uns ein wenig, nachdem wir bei den beiden Reisen jeweils im Mai Menschen kennengelernt hatten, die hauptsächlich aus politischen Gründen unterwegs waren – heute ist ja schon der einfache Wunsch nach Frieden hochpolitisch.
Ingo aus dem hohen Norden liebt Russland, wie er der russischen Passkontrolleurin bei der Einreise an der Grenze verriet. Aber er liebt auch eine Frau aus Perm im Norden Russlands, an der Grenze zwischen Europa und Asien, die er in dieser Woche heiraten will. Sie hatten sich vor längerer Zeit in Moskau kennengelernt, erzählte der 53-Jährige. Und nachdem er mehrmals bei ihr war und sie aber bisher nie ein Visum für Deutschland bekam, hatten sie sich nun entschlossen zu heiraten – auch in der Hoffnung, dass sie dann doch noch zu ihm kommen kann.
Der in der alten Bundesrepublik Aufgewachsene, der als Polier auf dem Bau arbeitet, hat sich seinen klaren Blick auf die Welt und sein eigenes Denken nie abgewöhnen lassen. Und schon immer hat er an den Erzählungen vom „bösen Russen“, die er bereits als Kind hörte, gezweifelt, wie er uns erklärte. Das sei ihm auch in seiner Zeit als Zeitsoldat bei der Bundeswehr so gegangen, berichtete er während der Fahrt nach Kaliningrad. Und so machte er sich eines Tages vor Jahren auf den Tag Weg nach Russland, um das Land und seine Menschen kennenzulernen, von dem ihm vieles Schlechte erzählt worden war. Er hat festgestellt, dass nichts davon stimmt, und sagte uns: „Ich habe noch nie so freundliche Menschen kennengelernt wie in Russland.“
Während diese Zeilen geschrieben werden, organisiert Ingo seine Hochzeit mit Natalja in Perm und erlebt hoffentlich ein wunderbares Fest mit ihrer Familie. Beim Abschied auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjowo wünschten wir ihm viel Glück und alles Gute und dass beide auch in Deutschland zusammenleben können. Wenn das weiter nicht möglich gemacht wird, sei er auch bereit, nach Russland zu gehen, sagte er noch.
Und dann waren wir auch schon wieder zurück in der russischen Hauptstadt, mit ihrem pulsierendem Leben, das durchaus chaotisch erscheint, aber in dem vieles besser funktioniert als beispielsweise in der deutschen Hauptstadt. Erst am Dienstag erlebten wir, wie ein Metro-Zug aus technischen Gründen in der Metrostation Oktjabrskaja nicht weiter fahren konnte. Alle Passagiere mussten mitten im Feierabendverkehr aussteigen, aber brauchten nicht lange zu warten, weil die Züge im Minutentakt fahren. Der defekte Zug konnte immerhin die Station verlassen und die Gleise für den nachfolgenden frei machen.
Eingeholt und überholt
Der gute öffentliche Nahverkehr gehört zu den Dingen, bei den Russland den Westen und vor allem Deutschland nicht nur eingeholt, sondern längst überholt hat. Das hat zwar etwas gedauert seit der Zeit, als Nikita Chruschtschow das Ziel ausgab, die USA und den ganzen Kapitalismus zuerst ein- und dann zu überholen. Selbst die westlichen Sanktionen seit 2014 und der Stellvertreterkrieg in der Ukraine, der Russland in die Knie zwingen soll, haben das Land nicht aufgehalten. Die entstandenen Probleme wurden und werden meist mit neuen Lösungen und auch neuen Partnern bewältigt.
Und so zeigt sich Moskau mit seinen über 13 Millionen Einwohnern als moderne, lebendige und pulsierende Großstadt mit einem geschäftigen Leben, vielen Bauprojekten und einer modernen Infrastruktur sowie einer reichen kulturellen Vielfalt. Und in der kleine selbstfahrende Transporter Essen ausfahren wie anderswo Fahrradkuriere. Auch die gibt es noch in Moskau und auch hier fahren sie meist auf den Fußwegen, aber die kleinen Transportroboter sind immer häufiger zu sehen.
Es ist eine Hauptstadt, die auch immer wieder mit Problemen durch den Krieg in der Ukraine zu kämpfen hat, bis hin zu Drohnenangriffen. Aber sie wie das Land selbst wirken nicht, als seien sie in die Knie gezwungen worden, wie manche zum Beispiel in den USA meinen und anderswo immer noch erträumen. Dafür lassen sie die Ukrainer weiter kämpfen und sterben – und auch Russen.
Davon ist in der Hauptstadt wenig zu sehen und zu spüren, abgesehen von den Anzeigen, die mit mehr als fünf Millionen Rubel (umgerechnet mehr als 50.000 Euro) Vertragssoldaten werben, und vereinzelten Werbeständen dafür oder von Militärangehörigen immer wieder in Felduniform. Ob der junge Fallschirmjäger, der am Flughafen in seiner Ausgehuniform von seiner Familie begrüßt wurde, vom Krieg oder nur von der Ausbildung kam, weiß ich nicht. Sein Lachen wirkte noch glücklich, anders als die Blicke mancher Männer in Uniform, die eher wie Veteranen wirkten, die den Krieg gesehen und überlebt hatten.
Der Unterschied zum Mai ist nicht nur, dass die großen Feierlichkeiten zum 80. Jubiläum des Tages des Sieges über den Faschismus vorbei sind und wir Moskau im Normalmodus erleben – wenn es auch immer noch zahlreiche Sicherheitskontrollen vor allem in den Metrostationen, Kaufhäusern und anderen Orten mit vielen Menschen gibt. Der größte Unterschied ist natürlich, dass inzwischen Herbst ist. Allerdings zeigt der sich derzeit leider weniger golden, wofür er eigentlich bekannt ist, sondern grau und nass. Das trübt im wahrsten Wortsinn ein wenig den Eindruck und vor allem die Fotos, aber das ist nicht entscheidend.
Deutschland sorgt für Kopfschütteln
Wir erleben eine interessante und vielfältige Stadt und freuen uns, wieder hier sein zu können, trotz der deutschen Kriegshetzerei und -treiberei gegen Russland, die ich auch beschämend finde. Erneut sind wir freundlich und zuvorkommend unterstützt und behandelt worden, als wir unsere Reise organisierten, ob bei der russischen Botschaft oder vom russischen Außenministerium, das unsere Presse-Visa ausstellte. Wir haben auch unseren russischen Kollegen bereits wieder getroffen, mit dem wir einst in Berlin bei Sputniknews zusammengearbeitet haben. Er wurde von der Berliner Ausländerbehörde als vermeintliche „Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in Deutschland“ ausgewiesen, weil er angeblich russische Propaganda verbreiten würde. Das tat und tut er bis heute nicht, kann ich nur bezeugen. Er hat eher einen kritischen Blick auf die russische Politik. Das, was er erlebte, ist nicht nur beschämend, sondern ebenso wider alle rechtsstaatlichen Regeln. Aber davon lassen wir unsere Freundschaft nicht beeinträchtigen und so kommen wir eben nach Moskau, um ihn zu sehen – so lange das noch geht.
Wie lange das noch möglich ist, ist unklar, angesichts der politischen Entwicklungen in Deutschland, wo Kanzler Friedrich Merz (CDU) Aussagen des russischen Präsidenten Wladimir Putin verfälscht und davon spricht, Deutschland müsse sich „wieder“ gegen Russland verteidigen. Das wird auch in Moskau wahrgenommen und beobachtet sowie mit Kopfschütteln bedacht, wie wir in den ersten Tagen erfuhren. Dazu gehört auch, dass wahrscheinlich erst eine andere Politik und eine Rückkehr zu einem vernünftigen Verhältnis mit Russland möglich ist, wenn die AfD mitregieren darf.
Vielleicht wird diese Partei auch gebraucht, um eine Kurskorrektur begründen zu können. Denn die derzeit Regierenden scheinen dazu auch deshalb nicht in der Lage, weil sie ihr „Gesicht nicht verlieren“ wollen. Dieses gebräuchliche Argument für das Festhalten an einer gescheiterten Politik, egal welcher Schaden mit dieser angerichtet wird, zeigt aus meiner Sicht, wie asozial und gefährlich Politik ist, um es deutlich zu sagen. Die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einem vernünftigen Verhältnis zwischen beiden Ländern gibt es noch bei russischen Beobachtern, wie wir erfuhren.
Aber zurück zum Leben in Moskau, wie ich es seit Samstag erlebe und sehe. Unser Hotel liegt recht zentral, was die Wege kürzer macht, aber wir kommen vor allem mit der Metro immer relativ schnell dahin, wo wir hin wollen oder müssen. So zum Beispiel zu unseren Interviewterminen mit interessanten Gesprächspartnern vor allem aus dem politikwissenschaftlichen Bereich. Genaueres kann ich dazu noch nicht preisgeben, wie ich meiner Kollegin versprochen habe. Die ersten Gespräche, die wir führten, zeigten unter anderem, dass Russland nicht auf den Westen angewiesen ist und längst nach Osten und Süden schaut, wo es auch neue Partner sucht und gefunden hat. Dabei wird auch ein Selbstbewusstsein deutlich, das nicht blind ist für die eigenen Probleme, aber nicht vor dem Westen in die Knie geht und darum bettelt, wieder vernünftig behandelt zu werden.
Normalität wie anderswo
Wir sehen und erleben hier Menschen, die gewissermaßen ganz normal leben, wie die in anderen Städten Europas beispielsweise auch. Auf den Rolltreppen der Metro und in den Zügen, die unter Moskau unterwegs sind, schauen die meisten auf ihre Smartphones. In den Straßen im Zentrum vor den Bürogebäuden von Firmen, Banken und Institutionen stehen die geschäftigen Menschen in ihren Raucherpausen wie anderswo auf der Welt auch – und sehen nicht anders aus als jene in Paris, London, Berlin oder wo auch immer. Sie eilen durch die Straßen, entweder unterwegs zum Termin oder erst ins Büro – immer wieder ebenso vorbei an Menschen, die zu den sogenannten Verlierern gehören.
Neben zum Teil protzig zur Schau gestellten Reichtum ist ebenso Armut in Moskau zu sehen, wenn auch nicht so deutlich wie beispielsweise in Berlin. Aber es gibt sie, die beiden Bettler mit ihrer wenigen Habe auf einer Bank, die Frau in einer Straße mit Geschäften und Restaurants, die um Hilfe bittet, oder die schwangere Bettlerin in einer Unterführung. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich in der russischen Hauptstadt zeigen sich ebenfalls dadurch, dass im Dienstleistungsbereich vor allem Menschen tätig sind, die offensichtlich als Migranten nach Russland kamen. Aber auch insofern ist Moskau „normal“, denn auch das ist in westeuropäischen Haupt- und Großstädten nicht anders.
Aber es gibt hier genauso Menschen wie den Transvestiten in der Metro-Station, der geschminkt auf die nächste Bahn wartet, den jungen Mann, der aus der Metro kommend schnell noch seinen kunstvoll gepflegten Schnurrbart zwirbelt oder die jungen Straßenmusiker, die meist abends vor den Metro-Stationen spielen. Es ist ein normales Leben in einer normalen Stadt, die bloß etwas größer ist – und die Hauptstadt des größten Landes der Erde ist. In dem Moment, wo ich das schreibe, kommt es mir absurd vor, dass manche echte und eingebildete Russland-Experten dem Land vorwerfen, Großmacht sein zu wollen. Was erwarten wir denn von solch einem Land, das so groß und so reich an Ressourcen und Potenzial ist wie Russland?
Aber das soll es für heute erst einmal an Eindrücken und Gedanken von meiner zweiten Reise nach Moskau in diesem Jahr gewesen sein. In einer Woche werden weitere hinzugekommen sein, von denen ich dann wieder schreiben werde.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Die "Sieben Schwestern" – stalinistischer Bau in Moskau
Bildquelle: Parilov / shutterstock
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