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HIStory: Der Begriff “Aufklärung”

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Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe von HiStory!

Mein Name ist Hermann Ploppa und wir wollen uns heute mal etwas genauer anschauen, was man unter dem Begriff „Aufklärung“ versteht.

Da gibt es zunächst einmal verschiedene Dinge, die mit dem Prädikat „Aufklärung“ bezeichnet werden. Als Heranwachsender war ich mit der Kampagne der „Sexuellen Aufklärung“ konfrontiert. Damals bestand dringender Nachholbedarf. Immer noch herrschte in den Fünfziger und Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein schamhaftes Schweigen über „das Eine“. Gemeint waren sexuelle Aktivitäten unter Erwachsenen oder Pubertierenden. Immer wieder kam es zu ungewollten Teenager-Schwangerschaften, weil die Erwachsenen ihren Nachwuchs nicht offen und realistisch über die Sexualität und ihre Konsequenzen aufgeklärt hatten. Die negativen Folgen der christlichen Prüderie mussten jetzt schleunigst beseitigt werden. Im großen Stil ging eine Aufklärungswelle durch die ganze Gesellschaft.Erst später erfuhr ich dann in der Schule, dass es im Achtzehnten Jahrhundert eine Bewegung politisch-kultureller Art gab, die sich die Aufklärung der ganzen Gesellschaft zum Ziel gesetzt hatte.

Die Bewegung der Aufklärung war eine große geschichtliche Errungenschaft. Sie war im Achtzehnten Jahrhundert etwas revolutionär Neues.

Denn bis zu jenen Zeiten war es allgemein üblich, dass nur eine ganz klitzekleine Elite über Bildung verfügte. Der Rest der Bevölkerung wurde in viehischer Dummheit gehalten. Das Volk hatte zu arbeiten und ansonsten das Maul zu halten. Die Auserwählten wenigen Herrenmenschen sprachen untereinander nur Latein, damit der dumme Pöbel nicht mitbekam, was „die da oben“ so miteinander ausheckten. Selbst im Gottesdienst in der Dorfkirche wurde sonntags nur Latein gesprochen. Der zum Sitzen auf der harten Sünderbank verdonnerte Bauer sah nur den Priester in seinem bunten Fummel, wie er anscheinend irgendwelche Zauber-Rituale aufführte. Wenn der Priester auf Latein murmelte: „Hoc est corpus meus!“, dann verstand der Bauer nur: „Hokuspokus Fidibus!“ Und das sollte auch noch für lange Zeit so bleiben. So lange nämlich, wie der Adel und der mit ihm organisch verbundene Klerus die alleinige Macht in ihren Händen hielten. Doch dann trat das Bürgertum immer stärker in Erscheinung. Und das Bürgertum schuf reale Werte. Während der Adel nur die Früchte der Arbeit seiner Untertanen parasitär verbrauchte. Und je mehr Werte das Bürgertum schuf, umso selbstbewusster wurden die Bürger.

Um den Geist jener Zeiten der Aufklärung gleich einmal tief zu inhalieren, führen wir uns ein Stück aus Immanuel Kants wegweisendem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ zu Gemüte. Kant schreibt im Jahre 1784:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern in der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ <1>

Ja, wieso denn nun eigentlich „selbstverschuldete Unmündigkeit“?

Der Königsberger Philosoph Kant sah, dass die Möglichkeiten jetzt vorhanden waren, sich selbst durch Aneignung entsprechender Bildung aus dem Sumpf der Unmündigkeit zu ziehen. Man musste es doch nur sehen! Sozusagen, wie Jesus dereinst zum Lahmen sagte: „Nimm Dein Bettlein und wandle!“ So sagte nun Kant seinen Lesern: die Zeiten der Bevormundung sind ein für allemal vorbei! Es gibt nichts mehr, was Dich aufhalten kann!

Schauen wir mal, wie es dazu kam, dass der Königsberger Philosoph Kant so etwas Ungeheures offen aussprechen konnte, ohne gleich auf dem Scheiterhaufen zu landen. Wie gesagt: vor der Aufklärung galt als in Stein gemeißelt, dass nur ein ganz kleiner Personenkreis über Wissen verfügen durfte. Wenn wir durch Platon dem Sokrates bei seinen Debatten zuhören, sollte klar sein: an diesen Debatten durften nur freie Männer teilnehmen, die über Besitz verfügen. Frauen und Sklaven durften nicht mitreden. Auch der Apostel Paulus verordnete: „Mulier taceat in Ecclesia!“ Zu deutsch: das Weib schweige in der Versammlung! Als die christliche Kirche sich so langsam über ganz Europa ausbreitete, wurden alle angestammten Strukturen der heidnischen Kultur zerschlagen. Alle Entscheidungsstränge führten jetzt direkt nach Rom. Wer überhaupt irgendetwas verändern wollte, musste als Kleriker über kirchliche Orden wirksam werden. Die Äbtissin, Komponistin und Heilkräuter-Expertin Hildegard von Bingen war zwar eine bedeutende Politikberaterin aller zu ihrer Zeit in Europa mächtigen Männer. Doch sie war schlau genug, ihre Politikberatung nicht als ihr eigenes Werk auszugeben, sondern immer zu sagen, letzte Nacht sei ihr wieder Jesus Christus persönlich erschienen und habe ihr gesagt, was zu tun sei. Hätte sie gesagt, dass jene Ideen aus ihrem eigenen Kopf erwachsen waren, dann wäre sie als Hexe verbrannt worden.

Das gemeine Volk hatte zu schweigen und stumm zu schuften für das lustige Lotterleben der Mönche und Kleriker. Doch bereits im Zwölften Jahrhundert, im Hochmittelalter, regen sich innerhalb der Klostermauern und an den Universitäten erste Keime des Widerstands. Und auch die einfache Bevölkerung wird schon ganz schön rebellisch. Die Menschen probieren neue Lebensformen aus und basteln sich selber Religionen zusammen. Die Kirche beauftragt daraufhin das Militär, diese neuen sozialen Bewegungen mit aller Härte zu vernichten. Unter den neuen selbstgebastelten Religionen findet sich auch die christliche Gemeinschaft der Waldenser. Die Waldenser legen Wert darauf, ihr Verhältnis zu Gott selber zu bestimmen. Um das in aller Ruhe tun zu können, schaufeln sie sich tiefe Gruben, in denen sie ihre eigenen Gedanken ungestört entfalten können. Von daher stammt das Wort „grübeln“. Es handelt sich also um ein intensives Nachdenken über ein ganz bestimmtes Problem.

Es gelang der Obrigkeit zwar, Waldenser und Ketzer und die unzähligen sozialen Bewegungen mit militärischer Gewalt zu zerschlagen. Doch die Gesellschaft hatte sich nun einmal radikal verändert. Das Bürgertum und die Handwerker hatten jetzt mehr Wohlstand erarbeitet. Mit dem massenhaften Drucken von Büchern gelangten diese Kreise jetzt in den Besitz von komprimiertem Wissen. Und als dann auch noch Martin Luther auf den Plan trat und die Bibel ins Deutsche übersetzte, gab es kein Halten mehr. Die fleißigen Autodidakten in den Bürgerhäusern und sogar in den Bauernhöfen lasen jetzt auf einmal, was wirklich in der Bibel stand. Und sie verglichen jetzt die biblischen Forderungen mit der Wirklichkeit. Die Folge war eine Abspaltung eines erheblichen Teils der europäischen Christenheit von der katholischen Kirche in Rom. Luther formulierte auf gut Deutsch, dass man den Klerus nicht länger benötigt. Denn ab jetzt bestimmt jeder Christenmensch seine Beziehung zu Gott selber. Und dazu braucht er keine kirchlichen Vermittler. Denn niemand kann die göttliche Gnade erkaufen. Gottes Wille ist unerforschlich, und jeder Mensch ist in seiner Beziehung zu Gott absolut selbständig.

Damit war der Weg frei für ein aufkeimendes Individuum. Denn was jetzt richtig war in der Beziehung zu Gott, das konnte ja in der Beziehung zur Obrigkeit nicht ganz falsch sein. Als die Bauern massenhaft rebellieren, ist das allerdings Luther auch nicht recht. Der Kirchenrebell predigt plötzlich bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Landesherrn. Doch auch Luthers Schwenk zur Obrigkeit kann den Prozess der Selbstbefreiung des Individuums nicht aufhalten. Und so ist es kein Wunder, dass sich innerhalb des Protestantismus unglaublich viele unterschiedliche Richtungen herausbildeten. Da waren zum Beispiel die Pietisten. Den Pietisten war das konventionelle protestantische Gemeindeleben noch nicht radikal genug. Die Pietisten legten an sich selber geradezu unmenschlich strenge religiöse Regeln an. Peinlich genau beobachteten sie sich und ihre Familienmitglieder, ob sie auch glaubensfest genug waren. Um das tagtäglich zu überprüfen, führten sie Tagebücher. Ihre Kämpfe mit sich selbst, ihren Begierden, ihren Trieben, ihren abschweifenden Bedürfnissen und ihrem sehnsüchtigen Streben nach einem gottgefälligen Lebenswandel. Paradoxerweise war genau diese Selbstüberwachung der Schlüssel zum modernen Individuum. Denn was hier festgehalten wurde, offenbarte zum ersten Mal die Abgründe und Tiefen des bürgerlichen Individuums. Das pietistische Tagebuch wurde zum Vorläufer der modernen Psychoanalyse und – der Aufklärung! <2>

Denn die Technik der tagtäglichen Selbstbeobachtung, der Niederschrift des inneren Monologs wurde nun auch von weitaus weltlicheren Zeitgenossen übernommen. Das bürgerliche Individuum breitete sich aus in tausend klugen Selbstgesprächen. Der Mensch, der sich selber schriftlich Zeugnis ablegt über seine Person, sein Leben und seinen Lebensplan, kann nun auch klarer seinen Platz und seinen Anspruch in der Gesellschaft behaupten.

Zu dem weit aufgeschlagenen Buch der eigenen Seele kommt nun der Anspruch, bei allen wichtigen Angelegenheiten auf dieser Welt mitreden zu wollen. Zu diesem Zweck muss man aber in puncto Informiertheit mit den gelehrten Klerikern gleichziehen. Das Wissen, das der Klerus den Bürgern vorenthält, muss sich der Bürger nun selber aneignen. Denn: Wissen ist Macht! Also beginnen kluge Bürger, möglichst das gesamte Wissen ihrer Zeit in dicken Büchern zu versammeln und dieses Weltwissen ihren Mitbürgern zur Verfügung zu stellen. Es ist wahrlich ein revolutionärer Akt, dem Klerus das Wissensmonopol zu entreißen!

Der Engländer John Harris unternahm als Erster den Versuch, das Wissen im Bereich der Technik im Jahre 1704 mit seinem Lexicon technicum zusammenzutragen und der Öffentlichkeit vorzulegen. Aufbauend auf dem Pionierwerk von John Harris legte der Globusmacher Ephraim Chambers bereits im Jahre 1728 seine Cyclopaedia vor. Cyclopädie oder Enzyklopädie leitet sich zum einen ab aus dem griechischen Wort „enkyklios“, was so viel bedeutet wie: „kreisförmig“ und meint in diesem Zusammenhang: „umfassend“. Der zweite Teil vom Wort „Enzyklopädie“ leitet sich ab aus „paideia“, was so viel wie Unterricht, Lehre heißt. Also die umfassende Unterrichtung der bildungsbeflissenen Bürger. Diese kolossale Leistung von Ephraim Chambers beeindruckte die französische Bildungs-Szene derart, dass man versuchte, sein Werk ins Französische zu übersetzen. Was allerdings scheiterte. Doch fassten die später so genannten Enzyklopädisten den Entschluss, in einer öffentlichen Ausschreibung Autoren anzuwerben für ein eigenes, neues Lexikon. Der Verleger André Francois Le Breton verpflichtete als Herausgeber und Projektleiter zum einen den Intellektuellen und Unternehmer Denis Diderot, und zum anderen den Philosophen Jean Baptiste Le Rond d’Alembert. Die beiden Herausgeber versammelten sodann sage und schreibe 144 Autoren, Kupferstecher und Zeichner für die Enzyklopädie. Eine gigantische finanzielle und organisatorische Leistung für damalige Zeiten. Es gelang Diderot und d’Alembert, zwischen den Jahren 1751 und 1765 sage und schreibe siebzehn Bände mit 18.000 Seiten herauszubringen, in denen 71.818 Einzelartikel untergebracht waren. Elf zusätzliche Bildtafel-Bände mit Illustrationen und Karten vervollständigen das Werk.

Doch der Bildungshunger der Bürger war unersättlich. In neu eröffneten Klubs und Kaffeehäusern lasen die Bürger die neuesten „Intelligenz-Anzeiger“. Intelligenz hieß damals, wie heute noch im Englischen, Nachrichten. Bescheid zu wissen, was in der Welt passiert. Nichts verpassen. Die Bürger saßen zusammen und „räsonnierten“ über das Weltgeschehen. Da sind wir schon bei dem anderen Kernbegriff der Aufklärung, nämlich: der Vernunft. Heute ist das Wort ja reichlich verengt im Gebrauch, also in etwa so: „nun nimm doch mal endlich Vernunft an!“ Das Wort Vernunft im Zusammenhang der Aufklärung ist die deutsche Übertragung des französischen Wortes „Raison“, das wiederum aus dem lateinischen Wort „ratio“ abgeleitet ist. Und das heißt im Kontext der Aufklärung: in der Lage sein, aus eigener Kraft wahrgenommene Phänomene so miteinander zu verknüpfen, dass sich daraus ein Sinn ergibt, der dann auch wiederum das Werkzeug ist, um die Welt in positiver Weise, nämlich auf den Weg zur Freiheit und zur persönlichen Vollendung zu führen. Die denkenden Bürger dieser Zeit nutzen jede arbeitsfreie Minute, um kluge Bücher zu lesen. Hamburger Kaufleute spazierten, bevor sie in ihr Kontor schlichen, das Elbufer entlang und lasen laut griechische Klassiker – in Originalsprache, versteht sich.

Es gab eine Reihe von Ereignissen, die dem naiven Glauben an einen gütigen Gott ein Ende setzte. Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz hatte behauptet, diese Welt, in der wir leben, sei die beste aller möglichen Welten. Gott selber habe sie in seiner Güte in einer so genannten prästabilierten Harmonie höchstselbst erschaffen. Jedoch fand am 1. November 1755 ein so grässliches Erdbeben statt, das als Zentrum die portugiesische Hauptstadt Lissabon komplett vernichtete und unter einer gigantischen Tsunami-Welle begrub. Die seismische Erschütterung war bis Finnland wahrnehmbar. Der Zweifel an der gütigen Vorbestimmung durch Gott war schwersten Zweifeln ausgesetzt. Zum einen ereignete sich die Katastrophe ausgerechnet am katholischen Feiertag Allerheiligen. Zweitens wurde die Stadt Lissabon weitgehend zerstört. Jedoch das Bordellviertel Alfama blieb komplett von der Zerstörung verschont. Wie konnte es denn sein, dass der gütige Herrgott alle frommen Menschen ausgelöscht hatte, jedoch das Zentrum des satanischen Lasters verschonte? Dem Aufklärer und Mitarbeiter an der grandiosen Enzyklopädie, Voltaire, ging die prästabilierte Harmonie von Leibniz derart auf den Geist, dass er im Jahre 1759, also vier Jahre nach der Katastrophe in Lissabon, den garstigen Satire-Roman „Candide oder die beste der Welten“ schrieb. Candide, der von einem Desaster in das andere gerät, und der trotzdem immer sagt: „Dies ist die beste aller Welten!“ <3>

Auch Immanuel Kant in Königsberg war als junger Mann sehr erschüttert über die Katastrophe in Lissabon. Auch Kant hat ausführlich über dieses Verhängnis gegrübelt. Kant hatte immerhin achtzig Lebensjahre zur Verfügung, um sein Lebenswerk zu schaffen. Um sein gigantisches Euvre zu bewältigen, verordnete sich der Königsberger Ordinarius ein absolut gleichförmiges, beinahe klösterlich-asketisches Leben. Er hat versucht, die Möglichkeiten menschlicher Vernunft – im Sinne der Aufklärer – in allen ihren Winkeln auszuloten. Kant war noch ein Universalgelehrter, der zu allen möglichen Themen sein Statement abgeliefert hat. Aber sein wichtigster Beitrag ist seine gründliche Durchleuchtung menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Inwieweit ist der Mensch durch seine eigene intellektuelle Beschaffenheit überhaupt in der Lage, die reale Außenwelt angemessen zu erfassen und zu be-greifen? Was kann der Mensch überhaupt wissen von der Welt und von den Bereichen, die das Sichtbare überschreiten, also transzendieren?

Auf dieser kolossalen Erkenntnistheorie bauten alle nachfolgenden Philosophen auf. Allerdings war mit Kant auch der Gipfelpunkt der Aufklärung erreicht. Denn die allgemeine Euphorie der Befreiung des Menschengeschlechts durch eine Revolution des Wissens erfuhr bald einen empfindlichen Dämpfer. Fünf Jahre nach Immanuel Kants Aufsatz über die Aufklärung, also 1789, brach in Frankreich die Revolution aus. Zunächst ist der Freiheitsrausch grenzenlos. Auch Kant begrüßt die Französische Revolution enthusiastisch. Doch bald weicht die Begeisterung einem blanken Entsetzen. Das große Fest der Menschheitsbefreiung artet schnell aus in ein gigantisches Blutbad, in dem die Revolution ihre eigenen Kinder frisst und auf die Guillotine schubst. Der große Vernunftentwurf ist grauenhaft gescheitert. Zudem geht die Französische Revolution stufenweise über in die Despotie des Kaisers Napoleon. Und jenes Kind der Französischen Revolution, der Korse Napoleon, schickt sich dann auch noch an, Deutschland zu demütigen und zu unterwerfen. Das Label „Aufklärung“ ist politisch kompromittiert.

In Europa ziehen sich die Bürger in die sicheren Salons zurück und pflegen jetzt ihr Gefühlsleben. Bis zur Revolution von 1848 ist Stillschweigen erste Bürgerpflicht. 1819 erscheint eine Karikatur, die die Stimmung ganz gut wiedergibt. Die Karikatur heißt: „Der Denkerclub“. Man sieht eine erlauchte Runde von Herrschaften an einem Konferenztisch. Alle Herren tragen Masken, wie wir sie aus der Corona-Zeit kennen. Während der Sitzungen schweigen die Herrschaften bedeutungsvoll. Das Bürgertum pflegt immer heftiger einen offenen Subjektivismus. Es kommt in der Sturm-und-Drang-Periode nur noch auf die spontanen Impulse des jungen Genies an. Der baltische Philosoph Johann Gottfried Herder kritisiert, dass in der Aufklärung nur die besitzenden Bürger ihr Artikulationsorgan finden. Das einfache Volk soll jetzt mal zu Wort kommen – mit Märchen und Sagen. Die Romantik breitet ausgiebig das Gefühlsleben aus. In den Werken dieser Zeit kommt eine große Einsamkeit und unerfüllte Sehnsucht zum Ausdruck.

Und obwohl auch Karl Marx und Friedrich Engels die Aufklärung sehr kritisch sehen, findet jetzt die Aufklärung in der Weltanschauung der Arbeiterbewegung ihre Fortsetzung. Die Betonung von Rationalität, Logik und diskursivem Denken retten viele Elemente der Aufklärung in die sozialistische Bewegung hinüber. Im Laufe der Jahrzehnte wird allerdings auch die Arbeiterbewegung immer bürokratischer und statischer. Und damit verkommen auch ihre Lehrsätze zu knöchernen Dogmen.

Aus der Distanz von zwei Jahrhunderten begann die Wissenschaft, die Ambivalenz der Aufklärung aufzuarbeiten. Die Soziologen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben in dem Aufsatz „Dialektik der Aufklärung“ herausgearbeitet, dass die Aufklärung im Laufe der Zeiten in ihr Gegenteil umgeschlagen sei <4>. Aus dem Vehikel der Befreiung der Menschheit sei ein perfide aufgeklärtes Instrument zur noch besseren Unterjochung der Menschen geworden. Zu dieser Erkenntnis gelangten Horkheimer und Adorno im amerikanischen Exil. Die USA waren ebenso wie die französische Republik aus dem Geist der Aufklärung entstanden. Über die Jahrhunderte war auch das Experiment USA aus dem Geist der Toleranz und Aufklärung in ein besonders raffiniertes Unterdrückungssystem mutiert.

Der französische Philosoph Michel Foucault erforschte intensiv die Mechanismen der Unterdrückung von Menschen durch Menschen, die besonders in der Blütezeit der Aufklärung immer perfider und raffinierter wurden. So hatte man Menschen mit abweichendem Verhalten im Mittelalter entweder hingerichtet oder verjagt. Seit der Neuzeit ging man dazu über, die Menschen leben zu lassen. Sie wurden aber stattdessen jetzt eingesperrt mit dem Ziel, sie sozusagen gerade zu biegen, um sie für die gesellschaftliche Verwertung nutzbar zu machen. „Überwachen und Strafen“ hieß ein wichtiges Werk von Foucault <5>. Genau in der Zeit der Aufklärung entstanden nämlich Gefängnisse und Irrenhäuser, aber auch Schulen, die wie Kasernen konstruiert waren und die optimale Beobachtung der Umerziehungsobjekte ermöglichten. Der Mensch sollte „gerade“ gemacht werden. Der Orthopäde Moritz Schreber hat eine ganze Reihe von Folterinstrumenten gebaut, um Kindern die richtige Körperhaltung beizu“biegen“. Das geschah alles in vermeintlich bester Absicht, in unerschütterlichem Fortschrittsglauben.

Das Zwanzigste Jahrhundert war eine gigantische Katastrophe. Ausbrüche von entfesselter Irrationalität wechselten sich ab mit knüppelharter, gnadenloser Rationalität. Die Aufklärung ist dabei unter die Räder gekommen. Es ist sicher eine wichtige Herausforderung unserer Zeit, Emotion und Ratio miteinander zu versöhnen. Allerdings haben wir in den letzten vierzig Jahren eine massive Welle der Disqualifikation des Menschen erlebt. Man kann es auch weniger vornehm als systematische Verblödung durch Missbrauch der Massenmedien bezeichnen. Damit einher geht ein Verlust des autobiographischen Gedächtnisses. Sowie einem totalen Ausfall jeder Kreativität. Bildung war gestern. Das festzustellen bedarf es keines altersbedingten Kulturpessimismus. Leider. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die meisten Menschen, wenn sie die Wahl haben, zwischen Freiheit oder Bequemlichkeit zu wählen, sich definitiv für die Bequemlichkeit entscheiden. Gehirn an der Garderobe abgeben und sich anonymen Anweisungen beugen. Das ist die moderne Antwort zum Denkerclub.

Für diese Leute haben wir als Abschluss dieser Sendung noch treffende Sätze von Immanuel Kant aus seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ parat, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Kant schreibt im Jahre 1784:

„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.“ <6>

Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.

Quellen und Anmerkungen

<1> https://www.projekt-gutenberg.org/kant/aufklae/aufkl001.html

<2> Dieser Gedanke des pietistischen Tagebuchs als Vorläufer der Psychoanalyse findet sich bei

Robert Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz. Frankfurt 1974

<3> Voltaire: Candide oder die beste der Welten. Stuttgart 1971

<4> https://giuseppecapograssi.files.wordpress.com/2013/08/dialektik_aufklaerung.pdf

<5> Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt/Main 1977; ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt/Main 1977

<6> siehe FN 1

Bildquellen:

https://commons.wikimedia.org

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