HIStory: Der Begriff “Aufklärung”

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Mein Name ist Hermann Ploppa und wir wollen uns heute mal etwas genauer anschauen, was man unter dem Begriff „Aufklärung“ versteht.

Da gibt es zunächst einmal verschiedene Dinge, die mit dem Prädikat „Aufklärung“ bezeichnet werden. Als Heranwachsender war ich mit der Kampagne der „Sexuellen Aufklärung“ konfrontiert. Damals bestand dringender Nachholbedarf. Immer noch herrschte in den Fünfziger und Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein schamhaftes Schweigen über „das Eine“. Gemeint waren sexuelle Aktivitäten unter Erwachsenen oder Pubertierenden. Immer wieder kam es zu ungewollten Teenager-Schwangerschaften, weil die Erwachsenen ihren Nachwuchs nicht offen und realistisch über die Sexualität und ihre Konsequenzen aufgeklärt hatten. Die negativen Folgen der christlichen Prüderie mussten jetzt schleunigst beseitigt werden. Im großen Stil ging eine Aufklärungswelle durch die ganze Gesellschaft.Erst später erfuhr ich dann in der Schule, dass es im Achtzehnten Jahrhundert eine Bewegung politisch-kultureller Art gab, die sich die Aufklärung der ganzen Gesellschaft zum Ziel gesetzt hatte.

Die Bewegung der Aufklärung war eine große geschichtliche Errungenschaft. Sie war im Achtzehnten Jahrhundert etwas revolutionär Neues.

Denn bis zu jenen Zeiten war es allgemein üblich, dass nur eine ganz klitzekleine Elite über Bildung verfügte. Der Rest der Bevölkerung wurde in viehischer Dummheit gehalten. Das Volk hatte zu arbeiten und ansonsten das Maul zu halten. Die Auserwählten wenigen Herrenmenschen sprachen untereinander nur Latein, damit der dumme Pöbel nicht mitbekam, was „die da oben“ so miteinander ausheckten. Selbst im Gottesdienst in der Dorfkirche wurde sonntags nur Latein gesprochen. Der zum Sitzen auf der harten Sünderbank verdonnerte Bauer sah nur den Priester in seinem bunten Fummel, wie er anscheinend irgendwelche Zauber-Rituale aufführte. Wenn der Priester auf Latein murmelte: „Hoc est corpus meus!“, dann verstand der Bauer nur: „Hokuspokus Fidibus!“ Und das sollte auch noch für lange Zeit so bleiben. So lange nämlich, wie der Adel und der mit ihm organisch verbundene Klerus die alleinige Macht in ihren Händen hielten. Doch dann trat das Bürgertum immer stärker in Erscheinung. Und das Bürgertum schuf reale Werte. Während der Adel nur die Früchte der Arbeit seiner Untertanen parasitär verbrauchte. Und je mehr Werte das Bürgertum schuf, umso selbstbewusster wurden die Bürger.

Um den Geist jener Zeiten der Aufklärung gleich einmal tief zu inhalieren, führen wir uns ein Stück aus Immanuel Kants wegweisendem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ zu Gemüte. Kant schreibt im Jahre 1784:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern in der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ <1>

Ja, wieso denn nun eigentlich „selbstverschuldete Unmündigkeit“?

Der Königsberger Philosoph Kant sah, dass die Möglichkeiten jetzt vorhanden waren, sich selbst durch Aneignung entsprechender Bildung aus dem Sumpf der Unmündigkeit zu ziehen. Man musste es doch nur sehen! Sozusagen, wie Jesus dereinst zum Lahmen sagte: „Nimm Dein Bettlein und wandle!“ So sagte nun Kant seinen Lesern: die Zeiten der Bevormundung sind ein für allemal vorbei! Es gibt nichts mehr, was Dich aufhalten kann!

Schauen wir mal, wie es dazu kam, dass der Königsberger Philosoph Kant so etwas Ungeheures offen aussprechen konnte, ohne gleich auf dem Scheiterhaufen zu landen. Wie gesagt: vor der Aufklärung galt als in Stein gemeißelt, dass nur ein ganz kleiner Personenkreis über Wissen verfügen durfte. Wenn wir durch Platon dem Sokrates bei seinen Debatten zuhören, sollte klar sein: an diesen Debatten durften nur freie Männer teilnehmen, die über Besitz verfügen. Frauen und Sklaven durften nicht mitreden. Auch der Apostel Paulus verordnete: „Mulier taceat in Ecclesia!“ Zu deutsch: das Weib schweige in der Versammlung! Als die christliche Kirche sich so langsam über ganz Europa ausbreitete, wurden alle angestammten Strukturen der heidnischen Kultur zerschlagen. Alle Entscheidungsstränge führten jetzt direkt nach Rom. Wer überhaupt irgendetwas verändern wollte, musste als Kleriker über kirchliche Orden wirksam werden. Die Äbtissin, Komponistin und Heilkräuter-Expertin Hildegard von Bingen war zwar eine bedeutende Politikberaterin aller zu ihrer Zeit in Europa mächtigen Männer. Doch sie war schlau genug, ihre Politikberatung nicht als ihr eigenes Werk auszugeben, sondern immer zu sagen, letzte Nacht sei ihr wieder Jesus Christus persönlich erschienen und habe ihr gesagt, was zu tun sei. Hätte sie gesagt, dass jene Ideen aus ihrem eigenen Kopf erwachsen waren, dann wäre sie als Hexe verbrannt worden.

Das gemeine Volk hatte zu schweigen und stumm zu schuften für das lustige Lotterleben der Mönche und Kleriker. Doch bereits im Zwölften Jahrhundert, im Hochmittelalter, regen sich innerhalb der Klostermauern und an den Universitäten erste Keime des Widerstands. Und auch die einfache Bevölkerung wird schon ganz schön rebellisch. Die Menschen probieren neue Lebensformen aus und basteln sich selber Religionen zusammen. Die Kirche beauftragt daraufhin das Militär, diese neuen sozialen Bewegungen mit aller Härte zu vernichten. Unter den neuen selbstgebastelten Religionen findet sich auch die christliche Gemeinschaft der Waldenser. Die Waldenser legen Wert darauf, ihr Verhältnis zu Gott selber zu bestimmen. Um das in aller Ruhe tun zu können, schaufeln sie sich tiefe Gruben, in denen sie ihre eigenen Gedanken ungestört entfalten können. Von daher stammt das Wort „grübeln“. Es handelt sich also um ein intensives Nachdenken über ein ganz bestimmtes Problem.

Es gelang der Obrigkeit zwar, Waldenser und Ketzer und die unzähligen sozialen Bewegungen mit militärischer Gewalt zu zerschlagen. Doch die Gesellschaft hatte sich nun einmal radikal verändert. Das Bürgertum und die Handwerker hatten jetzt mehr Wohlstand erarbeitet. Mit dem massenhaften Drucken von Büchern gelangten diese Kreise jetzt in den Besitz von komprimiertem Wissen. Und als dann auch noch Martin Luther auf den Plan trat und die Bibel ins Deutsche übersetzte, gab es kein Halten mehr. Die fleißigen Autodidakten in den Bürgerhäusern und sogar in den Bauernhöfen lasen jetzt auf einmal, was wirklich in der Bibel stand. Und sie verglichen jetzt die biblischen Forderungen mit der Wirklichkeit. Die Folge war eine Abspaltung eines erheblichen Teils der europäischen Christenheit von der katholischen Kirche in Rom. Luther formulierte auf gut Deutsch, dass man den Klerus nicht länger benötigt. Denn ab jetzt bestimmt jeder Christenmensch seine Beziehung zu Gott selber. Und dazu braucht er keine kirchlichen Vermittler. Denn niemand kann die göttliche Gnade erkaufen. Gottes Wille ist unerforschlich, und jeder Mensch ist in seiner Beziehung zu Gott absolut selbständig.

Damit war der Weg frei für ein aufkeimendes Individuum. Denn was jetzt richtig war in der Beziehung zu Gott, das konnte ja in der Beziehung zur Obrigkeit nicht ganz falsch sein. Als die Bauern massenhaft rebellieren, ist das allerdings Luther auch nicht recht. Der Kirchenrebell predigt plötzlich bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Landesherrn. Doch auch Luthers Schwenk zur Obrigkeit kann den Prozess der Selbstbefreiung des Individuums nicht aufhalten. Und so ist es kein Wunder, dass sich innerhalb des Protestantismus unglaublich viele unterschiedliche Richtungen herausbildeten. Da waren zum Beispiel die Pietisten. Den Pietisten war das konventionelle protestantische Gemeindeleben noch nicht radikal genug. Die Pietisten legten an sich selber geradezu unmenschlich strenge religiöse Regeln an. Peinlich genau beobachteten sie sich und ihre Familienmitglieder, ob sie auch glaubensfest genug waren. Um das tagtäglich zu überprüfen, führten sie Tagebücher. Ihre Kämpfe mit sich selbst, ihren Begierden, ihren Trieben, ihren abschweifenden Bedürfnissen und ihrem sehnsüchtigen Streben nach einem gottgefälligen Lebenswandel. Paradoxerweise war genau diese Selbstüberwachung der Schlüssel zum modernen Individuum. Denn was hier festgehalten wurde, offenbarte zum ersten Mal die Abgründe und Tiefen des bürgerlichen Individuums. Das pietistische Tagebuch wurde zum Vorläufer der modernen Psychoanalyse und – der Aufklärung! <2>

Denn die Technik der tagtäglichen Selbstbeobachtung, der Niederschrift des inneren Monologs wurde nun auch von weitaus weltlicheren Zeitgenossen übernommen. Das bürgerliche Individuum breitete sich aus in tausend klugen Selbstgesprächen. Der Mensch, der sich selber schriftlich Zeugnis ablegt über seine Person, sein Leben und seinen Lebensplan, kann nun auch klarer seinen Platz und seinen Anspruch in der Gesellschaft behaupten.

Zu dem weit aufgeschlagenen Buch der eigenen Seele kommt nun der Anspruch, bei allen wichtigen Angelegenheiten auf dieser Welt mitreden zu wollen. Zu diesem Zweck muss man aber in puncto Informiertheit mit den gelehrten Klerikern gleichziehen. Das Wissen, das der Klerus den Bürgern vorenthält, muss sich der Bürger nun selber aneignen. Denn: Wissen ist Macht! Also beginnen kluge Bürger, möglichst das gesamte Wissen ihrer Zeit in dicken Büchern zu versammeln und dieses Weltwissen ihren Mitbürgern zur Verfügung zu stellen. Es ist wahrlich ein revolutionärer Akt, dem Klerus das Wissensmonopol zu entreißen!

Der Engländer John Harris unternahm als Erster den Versuch, das Wissen im Bereich der Technik im Jahre 1704 mit seinem Lexicon technicum zusammenzutragen und der Öffentlichkeit vorzulegen. Aufbauend auf dem Pionierwerk von John Harris legte der Globusmacher Ephraim Chambers bereits im Jahre 1728 seine Cyclopaedia vor. Cyclopädie oder Enzyklopädie leitet sich zum einen ab aus dem griechischen Wort „enkyklios“, was so viel bedeutet wie: „kreisförmig“ und meint in diesem Zusammenhang: „umfassend“. Der zweite Teil vom Wort „Enzyklopädie“ leitet sich ab aus „paideia“, was so viel wie Unterricht, Lehre heißt. Also die umfassende Unterrichtung der bildungsbeflissenen Bürger. Diese kolossale Leistung von Ephraim Chambers beeindruckte die französische Bildungs-Szene derart, dass man versuchte, sein Werk ins Französische zu übersetzen. Was allerdings scheiterte. Doch fassten die später so genannten Enzyklopädisten den Entschluss, in einer öffentlichen Ausschreibung Autoren anzuwerben für ein eigenes, neues Lexikon. Der Verleger André Francois Le Breton verpflichtete als Herausgeber und Projektleiter zum einen den Intellektuellen und Unternehmer Denis Diderot, und zum anderen den Philosophen Jean Baptiste Le Rond d’Alembert. Die beiden Herausgeber versammelten sodann sage und schreibe 144 Autoren, Kupferstecher und Zeichner für die Enzyklopädie. Eine gigantische finanzielle und organisatorische Leistung für damalige Zeiten. Es gelang Diderot und d’Alembert, zwischen den Jahren 1751 und 1765 sage und schreibe siebzehn Bände mit 18.000 Seiten herauszubringen, in denen 71.818 Einzelartikel untergebracht waren. Elf zusätzliche Bildtafel-Bände mit Illustrationen und Karten vervollständigen das Werk.

Doch der Bildungshunger der Bürger war unersättlich. In neu eröffneten Klubs und Kaffeehäusern lasen die Bürger die neuesten „Intelligenz-Anzeiger“. Intelligenz hieß damals, wie heute noch im Englischen, Nachrichten. Bescheid zu wissen, was in der Welt passiert. Nichts verpassen. Die Bürger saßen zusammen und „räsonnierten“ über das Weltgeschehen. Da sind wir schon bei dem anderen Kernbegriff der Aufklärung, nämlich: der Vernunft. Heute ist das Wort ja reichlich verengt im Gebrauch, also in etwa so: „nun nimm doch mal endlich Vernunft an!“ Das Wort Vernunft im Zusammenhang der Aufklärung ist die deutsche Übertragung des französischen Wortes „Raison“, das wiederum aus dem lateinischen Wort „ratio“ abgeleitet ist. Und das heißt im Kontext der Aufklärung: in der Lage sein, aus eigener Kraft wahrgenommene Phänomene so miteinander zu verknüpfen, dass sich daraus ein Sinn ergibt, der dann auch wiederum das Werkzeug ist, um die Welt in positiver Weise, nämlich auf den Weg zur Freiheit und zur persönlichen Vollendung zu führen. Die denkenden Bürger dieser Zeit nutzen jede arbeitsfreie Minute, um kluge Bücher zu lesen. Hamburger Kaufleute spazierten, bevor sie in ihr Kontor schlichen, das Elbufer entlang und lasen laut griechische Klassiker – in Originalsprache, versteht sich.

Es gab eine Reihe von Ereignissen, die dem naiven Glauben an einen gütigen Gott ein Ende setzte. Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz hatte behauptet, diese Welt, in der wir leben, sei die beste aller möglichen Welten. Gott selber habe sie in seiner Güte in einer so genannten prästabilierten Harmonie höchstselbst erschaffen. Jedoch fand am 1. November 1755 ein so grässliches Erdbeben statt, das als Zentrum die portugiesische Hauptstadt Lissabon komplett vernichtete und unter einer gigantischen Tsunami-Welle begrub. Die seismische Erschütterung war bis Finnland wahrnehmbar. Der Zweifel an der gütigen Vorbestimmung durch Gott war schwersten Zweifeln ausgesetzt. Zum einen ereignete sich die Katastrophe ausgerechnet am katholischen Feiertag Allerheiligen. Zweitens wurde die Stadt Lissabon weitgehend zerstört. Jedoch das Bordellviertel Alfama blieb komplett von der Zerstörung verschont. Wie konnte es denn sein, dass der gütige Herrgott alle frommen Menschen ausgelöscht hatte, jedoch das Zentrum des satanischen Lasters verschonte? Dem Aufklärer und Mitarbeiter an der grandiosen Enzyklopädie, Voltaire, ging die prästabilierte Harmonie von Leibniz derart auf den Geist, dass er im Jahre 1759, also vier Jahre nach der Katastrophe in Lissabon, den garstigen Satire-Roman „Candide oder die beste der Welten“ schrieb. Candide, der von einem Desaster in das andere gerät, und der trotzdem immer sagt: „Dies ist die beste aller Welten!“ <3>

Auch Immanuel Kant in Königsberg war als junger Mann sehr erschüttert über die Katastrophe in Lissabon. Auch Kant hat ausführlich über dieses Verhängnis gegrübelt. Kant hatte immerhin achtzig Lebensjahre zur Verfügung, um sein Lebenswerk zu schaffen. Um sein gigantisches Euvre zu bewältigen, verordnete sich der Königsberger Ordinarius ein absolut gleichförmiges, beinahe klösterlich-asketisches Leben. Er hat versucht, die Möglichkeiten menschlicher Vernunft – im Sinne der Aufklärer – in allen ihren Winkeln auszuloten. Kant war noch ein Universalgelehrter, der zu allen möglichen Themen sein Statement abgeliefert hat. Aber sein wichtigster Beitrag ist seine gründliche Durchleuchtung menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Inwieweit ist der Mensch durch seine eigene intellektuelle Beschaffenheit überhaupt in der Lage, die reale Außenwelt angemessen zu erfassen und zu be-greifen? Was kann der Mensch überhaupt wissen von der Welt und von den Bereichen, die das Sichtbare überschreiten, also transzendieren?

Auf dieser kolossalen Erkenntnistheorie bauten alle nachfolgenden Philosophen auf. Allerdings war mit Kant auch der Gipfelpunkt der Aufklärung erreicht. Denn die allgemeine Euphorie der Befreiung des Menschengeschlechts durch eine Revolution des Wissens erfuhr bald einen empfindlichen Dämpfer. Fünf Jahre nach Immanuel Kants Aufsatz über die Aufklärung, also 1789, brach in Frankreich die Revolution aus. Zunächst ist der Freiheitsrausch grenzenlos. Auch Kant begrüßt die Französische Revolution enthusiastisch. Doch bald weicht die Begeisterung einem blanken Entsetzen. Das große Fest der Menschheitsbefreiung artet schnell aus in ein gigantisches Blutbad, in dem die Revolution ihre eigenen Kinder frisst und auf die Guillotine schubst. Der große Vernunftentwurf ist grauenhaft gescheitert. Zudem geht die Französische Revolution stufenweise über in die Despotie des Kaisers Napoleon. Und jenes Kind der Französischen Revolution, der Korse Napoleon, schickt sich dann auch noch an, Deutschland zu demütigen und zu unterwerfen. Das Label „Aufklärung“ ist politisch kompromittiert.

In Europa ziehen sich die Bürger in die sicheren Salons zurück und pflegen jetzt ihr Gefühlsleben. Bis zur Revolution von 1848 ist Stillschweigen erste Bürgerpflicht. 1819 erscheint eine Karikatur, die die Stimmung ganz gut wiedergibt. Die Karikatur heißt: „Der Denkerclub“. Man sieht eine erlauchte Runde von Herrschaften an einem Konferenztisch. Alle Herren tragen Masken, wie wir sie aus der Corona-Zeit kennen. Während der Sitzungen schweigen die Herrschaften bedeutungsvoll. Das Bürgertum pflegt immer heftiger einen offenen Subjektivismus. Es kommt in der Sturm-und-Drang-Periode nur noch auf die spontanen Impulse des jungen Genies an. Der baltische Philosoph Johann Gottfried Herder kritisiert, dass in der Aufklärung nur die besitzenden Bürger ihr Artikulationsorgan finden. Das einfache Volk soll jetzt mal zu Wort kommen – mit Märchen und Sagen. Die Romantik breitet ausgiebig das Gefühlsleben aus. In den Werken dieser Zeit kommt eine große Einsamkeit und unerfüllte Sehnsucht zum Ausdruck.

Und obwohl auch Karl Marx und Friedrich Engels die Aufklärung sehr kritisch sehen, findet jetzt die Aufklärung in der Weltanschauung der Arbeiterbewegung ihre Fortsetzung. Die Betonung von Rationalität, Logik und diskursivem Denken retten viele Elemente der Aufklärung in die sozialistische Bewegung hinüber. Im Laufe der Jahrzehnte wird allerdings auch die Arbeiterbewegung immer bürokratischer und statischer. Und damit verkommen auch ihre Lehrsätze zu knöchernen Dogmen.

Aus der Distanz von zwei Jahrhunderten begann die Wissenschaft, die Ambivalenz der Aufklärung aufzuarbeiten. Die Soziologen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben in dem Aufsatz „Dialektik der Aufklärung“ herausgearbeitet, dass die Aufklärung im Laufe der Zeiten in ihr Gegenteil umgeschlagen sei <4>. Aus dem Vehikel der Befreiung der Menschheit sei ein perfide aufgeklärtes Instrument zur noch besseren Unterjochung der Menschen geworden. Zu dieser Erkenntnis gelangten Horkheimer und Adorno im amerikanischen Exil. Die USA waren ebenso wie die französische Republik aus dem Geist der Aufklärung entstanden. Über die Jahrhunderte war auch das Experiment USA aus dem Geist der Toleranz und Aufklärung in ein besonders raffiniertes Unterdrückungssystem mutiert.

Der französische Philosoph Michel Foucault erforschte intensiv die Mechanismen der Unterdrückung von Menschen durch Menschen, die besonders in der Blütezeit der Aufklärung immer perfider und raffinierter wurden. So hatte man Menschen mit abweichendem Verhalten im Mittelalter entweder hingerichtet oder verjagt. Seit der Neuzeit ging man dazu über, die Menschen leben zu lassen. Sie wurden aber stattdessen jetzt eingesperrt mit dem Ziel, sie sozusagen gerade zu biegen, um sie für die gesellschaftliche Verwertung nutzbar zu machen. „Überwachen und Strafen“ hieß ein wichtiges Werk von Foucault <5>. Genau in der Zeit der Aufklärung entstanden nämlich Gefängnisse und Irrenhäuser, aber auch Schulen, die wie Kasernen konstruiert waren und die optimale Beobachtung der Umerziehungsobjekte ermöglichten. Der Mensch sollte „gerade“ gemacht werden. Der Orthopäde Moritz Schreber hat eine ganze Reihe von Folterinstrumenten gebaut, um Kindern die richtige Körperhaltung beizu“biegen“. Das geschah alles in vermeintlich bester Absicht, in unerschütterlichem Fortschrittsglauben.

Das Zwanzigste Jahrhundert war eine gigantische Katastrophe. Ausbrüche von entfesselter Irrationalität wechselten sich ab mit knüppelharter, gnadenloser Rationalität. Die Aufklärung ist dabei unter die Räder gekommen. Es ist sicher eine wichtige Herausforderung unserer Zeit, Emotion und Ratio miteinander zu versöhnen. Allerdings haben wir in den letzten vierzig Jahren eine massive Welle der Disqualifikation des Menschen erlebt. Man kann es auch weniger vornehm als systematische Verblödung durch Missbrauch der Massenmedien bezeichnen. Damit einher geht ein Verlust des autobiographischen Gedächtnisses. Sowie einem totalen Ausfall jeder Kreativität. Bildung war gestern. Das festzustellen bedarf es keines altersbedingten Kulturpessimismus. Leider. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die meisten Menschen, wenn sie die Wahl haben, zwischen Freiheit oder Bequemlichkeit zu wählen, sich definitiv für die Bequemlichkeit entscheiden. Gehirn an der Garderobe abgeben und sich anonymen Anweisungen beugen. Das ist die moderne Antwort zum Denkerclub.

Für diese Leute haben wir als Abschluss dieser Sendung noch treffende Sätze von Immanuel Kant aus seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung“ parat, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Kant schreibt im Jahre 1784:

„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.“ <6>

Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.

Quellen und Anmerkungen

<1> https://www.projekt-gutenberg.org/kant/aufklae/aufkl001.html

<2> Dieser Gedanke des pietistischen Tagebuchs als Vorläufer der Psychoanalyse findet sich bei

Robert Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz. Frankfurt 1974

<3> Voltaire: Candide oder die beste der Welten. Stuttgart 1971

<4> https://giuseppecapograssi.files.wordpress.com/2013/08/dialektik_aufklaerung.pdf

<5> Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt/Main 1977; ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt/Main 1977

<6> siehe FN 1

Bildquellen:

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Kommentare (24)

24 Kommentare zu: “HIStory: Der Begriff “Aufklärung”

  1. _Box sagt:

    Es ist im Grunde schon recht einfach zu erläutern, weshalb die frz. Revolution in die Despotie eines neuen Adels führte. Herr Ploppa gibt bei seinem historischen Diskurs die Antwort bereits selbst, anhand eines Vorläufers und eines peronalen Beispiels, der Reformation und Luther. Bei solchen revolutionären Ereignissen sind stets Jene zugegen, denen eine Emanzipation für alle oder zumindest die Meist möglichen ein ernstes Anliegen ist, für Andere wiederum ist es schlichter Opportunismus um sich selbst in eine vorteilhafte Position hieven zu lassen, um dann das Ganze zu einem ihnen genehmen Zeitpunkt abzublasen.
    So war es auch in der frz. Revolution, vielen der Revolutionäre ging es nicht um eine Emanzipation für alle, sondern allein um die eigene Gleichstellung mit Adel und Klerus. Zu diesem Zweck werden die zur Schau vorneweg getragenen Ideale natürlich geopfert, was bei diesen Heuchlern nicht wirklich ein Opfer ist, und Konkurrenten, sowie jene denen Emanzipation für alle ein echtes Anliegen ist, guillotiniert. Und auch heute wieder ist das nicht anders, wenn man sich verschiedene der Akteure genauer anschaut. Nur haben sie noch nicht die Macht, und werden sie wohl auch nie haben, wenn man sich die verschiedenen Farcen anschaut, ihnen Unbequeme zu guillotinieren oder sonstwie zum Schweigen zu bringen.

  2. Nevyn sagt:

    »Ich werde mir das in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

    Das könnte ein guter Anfang sein, werter Quin Igitur. Ich bin durchaus auch der Auffassung von Kant, dass sich der Mensch seines Verstandes bedienen soll. Für mich stellt es allerdings nur die halbe Miete dar.

    Was wirklich überzeugen kann, ist das eigene Erleben. So mache ich in gewisser Weise aus meinem Körper und meiner Persönlichkeit es Experimental-Labor, ungefähr im Sinne von Heinrich Kunrath:
    https://3.bp.blogspot.com/_VChlnV7tA7o/TBqnadU12II/AAAAAAAABUY/AHNbj5JKVwU/s1600/Alchemist's_Laboratory,_Heinrich_Khunrath,_Amphitheatrum_sapientiae_aeternae,_1595.jpg

    Von Kunrath stammt, nebenbei gesagt auch das Bild des Alchetron, das in der Serie „Dark“ Verwendung findet.
    Aber wenn ich selbst dieses Labor bin, wer experimentiert dann eigentlich???
    Oh!

    Wenn Sie also einen Weg finden, immer ein bisschen mehr Kind und Erwachsener zu werden, dann würde mich das freuen. Versuch macht klug.
    Im übrigen, und auch das ist ein tiefes Geheimnis, das ich hier mal sagen darf, weil wir ja ganz unter uns sind:)
    Nicht jede Erfahrung, die der Mensch braucht, um einen Ausgleich zu schaffen, sollte er auch leben. Man kann sich unter Umständen ein paar Jahrzehnte Gefängnis oder Schlimmeres ersparen, wenn man die Ebene wechselt. Eben dafür gibt es den Tempelschlaf. Hier darf man z. B. auch mal morden, rauben und vergewaltigen auf der Bildebene, wenn das eigene Leben viel zu harmlos verläuft und einen dafür diverse Entzündungen plagen, weil die eigene Aggression in den Schatten geraten ist.
    Es können auch ganz andere Dinge passieren. Der Atheist fängt in der Trance plötzlich heftig an zu beten und treibt sich in seinen Seelenbildern als Kreuzritter oder Pfarrer herum oder arbeitet am Bau von Kathedralen mit. So ging es mir am Anfang dieser Reise ins neue Land.

    Wie auch immer, aus diese Art gerät das Leben zu einer spannenden Pilgerreise, wo hinter jeder Ecke Überraschungen lauern. Nicht immer angenehme, aber immer die, die man für sein weiteres Voranschreiten benötigt.

    Mit einem freundlichen Gruß
    Nevyn

    • Quin Igitur sagt:

      "Aber wenn ich selbst dieses Labor bin, wer experimentiert dann eigentlich???"

      Noch so eine Frage zum lieb Haben, Nevyn…

      Da das Thema hier Aufklärung ist sowie der Verstand im kantianischen Sinne, in diesem Kontext von Erziehung die Rede war und Sie die Serie „Dark“ erwähnen, die von vorn bis hinten mit Symbolik durchzogen ist (und mich tief beeindruckt hat), greife ich mal kurz eine Szene aus ihr heraus, ich glaube, es war in der fünften Folge.

      Das Krankenhausgespräch zwischen Noah und Mikkel, an dessen Ende der Erstgenannte sagt: „Dein Vater weiß sicherlich viel, aber er weiß nicht alles. Es ist gut, dass er dich dazu erzogen hat, Dinge in Frage zu stellen. Aber von Zeit zu Zeit sollte man auch mal die Fragesteller in Frage stellen.“

      Wenn wir nun – ähnlich wie bei Mulier taceat in Ecclesia – symbolisch an die Aussage herantreten – Vater –> das Männliche –> Intellekt bzw. Verstand – und anstelle von „Vater“ „Verstand“ einsetzen – wie müsste die Aussage dann lauten?

      Und wie fügt sich das in den Kontext der bisherigen Gesamtdiskussion hier ein? Und was hat das alles mit dem Liniengleichnis zu tun?

    • Nevyn sagt:

      »Wenn wir nun – ähnlich wie bei Mulier taceat in Ecclesia – symbolisch an die Aussage herantreten – Vater –> das Männliche –> Intellekt bzw. Verstand – und anstelle von „Vater“ „Verstand“ einsetzen – wie müsste die Aussage dann lauten?«
      Nun, der Film enthält einige wesentliche Elemente kosmischer Weisheit, ist aber „vergiftet“, was sich an mehreren Stellen zeigt. Z. B. Wird das weibliche (im Film Chawa oder Eva, die belebte Materie), der hellen Seite und das Männliche (im Film Adam, der geistige Mensch) der dunklen Seite zugeordnet. Es fehlt auch an den wirklich tiefen Einsichten, wie sie in Matrix 1 bis 3 gezeigt werden. „Dark“ ist eine Psy-Op. Definitiv.
      Ich lerne gerade beim Lesen im „Law of one“ dass es die typische Vorgehensweise der Orion-Gruppe ist, stark positiv ausgerichtete dritte Dichte Wesen mit solchen Aussagen zu vergiften und zu verwirren. Das passiert immer dann, wenn das Unterscheidungsvermögen noch unzureichend ausgebildet ist. Dagegen hilft nach meiner Erkenntnis nur eine gute Mysterienschule oder, noch besser aber eben nicht leicht zu erlangen, eine bereits vorhandene Ein-Weihung, bei der man vom luftigen, merkurialen Schwert der Unterscheidung (Verstand, Intellekt) direkt zur „Waffe“ des Speeres wechselt, dem reinen, feurigen (väterlichen) Geist.
      Im Gegensatz zum Schwert, das eine Schneide besitzt und teilt und damit immer Zwei-Fel erzeugt, hat der Speer nur einen Spitze, mit dem der eine Punkt zu treffen ist. Es wäre das, was Platon „direkte Einsicht“ nennt.
      In diesem Fall kann es keinen Zweifel geben, er wird abgelöst durch innere Gewissheit und nicht umsonst bekämpft Georg den Schattendrachen mit genau diesem Speer.
      Wir begeben uns aber an dieser Stelle in den Bereich der Mysterien oder der Religon, also Rückbindung an die Quelle allen Seins und der nur polar lebende Mensch kann diese Erfahrung nicht verstehen, weil sie ihm noch fehlt.
      Dass jemand Dinge ohne Zweifel wissen und tun kann, weil er Verbindung zu seinem „Vater“ hat, bleibt dem rein weltlich verhafteten Menschen nicht nur unverständlich, es erscheint ihm geradezu wahnhaft. Man kann die Einheit nicht in der Zweiheit erfahren.
      Hier wäre eine Vertiefung der Themen der Zwilling – Schütze -Achse hilfreich, um das besser zu verstehen. Ich kann es nur anreißen.

    • Quin Igitur sagt:

      Puh… Jetzt bin ich mal wieder baff.

      Danke auf jeden Fall für die Einordnung, Nevyn. Ich merke gerade, ich habe noch nicht einmal den Hauch eines Ansatzes einer Vorstellung, wie tief der Kaninchenbau geht. Dabei liegt ja schon der Eingang jenseits des literalen Alltagsbewusstseins…

      Im Sinne meiner vorherigen Gedanken zu Grenzen des Sprachlichen und Ihrer Betonung des Stellenwerts eigenen Erlebens kommen wir hier mit einer merkurial-analytischen Austausch wohl nicht viel weiter.

      Beileibe nicht einfach, den Speer zu finden, wenn man zwar über einen starken Luft-Hintergrund verfügt, im Bereich des Feuers dafür gähnende Leere herrscht… Ganz unter uns gesprochen, mal wieder.

      Grundsätzlich gucke ich mir sehr gern viel Verschiedenes aus den unterschiedlichsten Bereichen an, schaue, wie es auf mich wirkt, wie sich die Inhalte „anfühlen“ und versuche von dort aus weiterzubohren. Das bedeutet, dass ich auch bei Gegenständen, die mich tief beeindrucken, zu ergründen probiere: Warum spricht mich gerade das so an? Was steckt wirklich dahinter? Bei dem Konglomerat an unterschiedlichsten Kräften, die da anscheinend jenseits der Hologramme agieren, kann das schon mal… ja, überwältigen.

      Und wer weiß schon, ob das, was hinter dem Hologramm liegt, nicht ein übergeordnetes Hologramm nächster Ebene ist?

      Es wird wohl ein Weg für viele Jahre sein. Wenn nicht gar Inkarnationen. Aber das macht ihn ja auch eben so spannend.

      Mit besten Wünschen,

      Quin Igitur

    • Nevyn sagt:

      Es gibt auch die Möglichkeit, durch seinen Verstand zu Erkenntnis in Platons Sinn des Liniengleichnisses zu gelangen.
      Er nennt das durch den Verstand aus voraus gesetzten Begriffen abgeleitete Erkenntis.
      Dies ist das blaue Schwert des Parzival, das Gralsschwert, das er bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg erhielt, über das aber wenig berichtet wird im Myhtos.
      Wir erfahren nur dass das rote Schwert, das der durch Tötung des Ither ziemlich am Anfang der Aventüre erlangte, beim Kampf mit Firefiz, seinem Bruder zerbricht. Er braucht es auch nicht mehr, denn er kämpft danach nie mehr sondern wird nur noch heilen.
      Soweit ich das in Erinnerung habe, passiert es, als er in seiner Bewusstseinsentwicklung im Steinbock ankommt, dem kardinalen Erdzeichen.
      Über dieses blaue Schwert erfährt Parzival von seiner Cousine Sigune, dass es im Kampf sofort in Stücke bricht und dann von einem Schmied am See wieder zusammen gesetzt werden muss.
      Man mag sich fragen, was das für ein Schwert sein soll, mit dem man nicht kämpfen kann.

      Übersetzt bedeutet das, dass das rote Schwert eine niedrige Schwingung hat, das Unterscheidungsvermögen findet auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung statt, die zu Meinungen führt, über die es ständig Streit gibt. Dieses Schwert ist irdischer Natur. Man muss sich nur im Forum umsehen, wie viele sinnlose Kämpfe damit jeden Tag gefochten werden.

      Das blaue, hoch schwingende Schwer der Unterscheidung aber stammt aus himmlischen Gefilden, der Gralsburg. Parzival erhält es zwar ziemlich früh, kann es aber nicht nutzen, weil ihm die Erfahrungen fehlen, die ihn reif dafür machen. Die hat er erst, nachdem er zehn von zwölf Pforten des Bewusstseins im Tierkreis durchschritten hat und im Steinbock angekommen ist.
      Diese blaue Schwert dient nicht dem Kampf sondern der Heilung durch weise Unterscheidung mittels hoch schwingender Urprinzipien, die als Universal im Verstand erfasst und als Partikel im Platonschen Sinne leben gelernt wurden.
      Genau genommen ist dies ein alchemistischer Prozess, der der Hömöopathie gleicht. Das Urprinzip wird aus dem Stoff erlöst und an einen neutralen Träger, den im Schütze durch Trevizent eingeweihten Priester Parzival gebunden. Jeder Missbrauch führt zu einem tiefen Sturz und bedarf der Schattenarbeit, einem Eintauchen in den See des eigenen Unbewussten.

      Ja, es können wohl gut Inkarnationen darüber vergehen, aber diese Zeit hat man ja dann auch, denn man stirbt keinen zweiten Tod mehr.
      Platon, wie viele andere antike Philosophen, war kein Gehirnakrobat mit staatlich anerkannter geistiger Verblendung, er war in die Mysterien von Eleusis eingeweiht. Philosophen in diesem Sinn waren wohl immer Eingeweihte. Nun wäre zu erklären, was denn Einweihung eigentlich sein soll, aber dies ist eine andere Geschichte und soll vielleicht ein andermal erzählt werden.

      Eine sanfte Nacht wünscht
      Nevyn

  3. Quin Igitur sagt:

    "Warum gerät jede Massenbewegung der Menschheit in einen Exzess und verkehrt sich letztlich in ihr Gegenteil?"

    Eine hochspannende und überaus relevante Frage, werter Nevyn!

    Und weil man die großen Fragen – die zum lieb Haben – daran erkennt, dass man sich ihnen jahrelang beschäftigen kann und sie immer wieder – abhängig von der Stelle des Weges, an welcher man sich gerade befindet – im neuen Gewand erscheinen, teile ich hier eine kleine „Zwischenbohrung“, was mir aus aktueller (!) Perspektive dazu so durch den Kopf geht.

    Neben der von Ihnen dargelegten Heterogenität jener Wesen, die wir gemeinhin als „Menschen“ bezeichnen und den von Sestus beschriebenen Einflüssen des gesellschaftlichen Systems (Neben Miller sind Le Bon und Foucault hier natürlich wertvolle Lektüren) – die auch ich beide für relevante Aspekte halte – könnte die Sache auf einer weiteren Ebene auch damit zusammenhängen, dass es in der Natur von Massenbewegungen liegt (liegen muss?), die Aufmerksamkeit, und in der Folge davon das „tätig Sein“ auf die Außenwelt zu richten. Und diese „außenorientierte“ Natur wiederum könnte eine Folge das Mediums – des Mittlers – Sprache sein.

    Wie meine ich das konkret? In Weiterführung Ihrer Gedanken zum „sapere aude!“, wie auch in Bezugnahme auf das von Ihnen irgendwann mal an anderer Stelle herangezogene Liniengleichnis aus der Politeia, können wir mutmaßen, dass Einsichten als höchste Form der Erkenntnis – im Unterscheid zu doxa – nicht zum Verstand in einer rationalen Lesart gehören, sondern aus einem anderen Bereich kommen. Vieles spricht allerdings dafür, dass man nur dann in der Lage sein wird, sie zu „empfangen“, wenn man wirklich in seinem Inneren (!) anerkennt, dass es höhere Instanzen über dem Rationalen gibt und seine „Antennen“ entsprechend ausrichtet.

    Sprache wiederum ist ganz und gar ein Kind der Ratio und gehört zur Welt des Immanenten, weshalb sich höhere Einsichten auch nicht durch sie vermitteln lassen (höchstens entfernte Annäherungen sind möglich, doch auch die werden nur dann funktionieren, wenn der potentielle „Empfänger“ entsprechende introspektive „Vorarbeit“ geleistet und diejenigen Bereiche seiner Wahrnehmung aktiviert hat, mit denen die „annähernden Umschreibungen“ in Resonanz treten können. Ohne dies wird der „Austausch“ über sie in etwa so aussichtsreich sein, wie der Versuch, einem von Geburt an Blinden den Unterschied zwischen Zinnober und Rubinrot zu vermitteln). „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ bzw. „Alles, was man über Gott sagen kann…“ – Sie wissen schon.

    Nun scheint es aber so zu sein, dass Menschen (Wirklich alle? Ist es also ein immanenter Bestandteil der conditio humana? Eine weitere, spannende Frage für künftige Diskussionen) mehr oder weniger soziale Wesen sind, und zumindest ab und zu das Bedürfnis verspüren, Dinge, die mit und in ihnen passieren, Anderen mitzuteilen. Die ganze Kommentarsektion hier wie überhaupt jedes Internetforum – legt ha davon ein im wörtlichsten Sinne beredtes Zeugnis ab.

    Und was ist die mit Abstand am weitesten verbreitete Form, sich anderen mitzuteilen und mit ihnen über ihre Erfahrungen auszutauschen? Richtig, die Sprache.

    Diese bindest jedoch die „Kommunizierenden“ im Sinne der obigen Gedanken an den Bereich der Immanenz – und richtet ihr mögliches Wirken somit auf die Außenwelt aus. Die Arbeit fällt in die Materie und aus einer Steigerung des Bewusstseins wird ein Hineinsteigern in weltliche Auseinandersetzungen.

    Ich kann mir gut vorstellen, dass es kommunikative Zusammenhänge gibt, in denen auch das „Innere“ angesprochen wird, was zur Kommunion im ursprüngliche Wortsinne führen kann. Dies funktioniert aber nur, wenn alle beteiligten „Antennen“ auf dieselbe Wellenlänge eingestellt sind. Durchaus möglich in Bruderschaften oder Selbsthilfegruppen, aber kaum vorstellbar in der Masse. Zu unterschiedlich ist dafür die „Programmempfänglichkeit“ (was übrigens keinerlei Wertung enthält).

    Auf ein konkretes Weib zu zeigen, funktioniert bei hundert Menschen – von Tausenden oder gar Millionen ganz zu schweigen – eben viel schneller, als die Idee (!) der „Frau Welt“ in allen zum Schwingen zu bringen. Vermutlich muss es auch so sein,

    Übrigens gehe ich davon aus, dass der beschriebene Zusammenhang auch für meinen Beitrag hier gilt. Wer das „Sonnenhafte“ kennt, wird ihn nicht zu Ende lesen müssen (!), um zu erkennen, was ich aussagen will. Für Andere wird es vermutlich Gelabber bleiben.

    Was es in einem höheren Sinne auch ist, natürlich.

    • Nevyn sagt:

      Ach, Quin Igitur.
      Mit Ihren Texten geht es mir gelegentlich so wie früher mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher. Man mümmelt so gemütlich vor sich hin und steht plötzlich fest: „Oh, schon zu Ende!“

      Nun sind besagte Zeiten schon lange vorbei, kommen mir eher vor wie ein vergangenes Leben, was sie in gewisser Weise ja auch sind. Aber das typische Gefühl am Ende eines Genusses, in dem man sich gerade richtig wohl fühlte, ist mir noch sehr vertraut.
      Dabei, so geht mir gerade durch den Kopf, habe ich nur ein Pixelmuster gesehen und für mich interpretiert, hatte also noch nicht mal einen Geschmack auf der Zunge,
      Bei einem anderen erzeugt das gleiche Muster vielleicht epileptische Anfälle oder einen Brechreiz, wer weiß?

      Ich las neulich in der Vorbereitung auf einen Gesprächsabend, die wichtigste Fähigkeit eines Philosophen sei das Staunen.
      Ein kleines Kind wirft das erste Mal einen Ball nach seinem Turm und der Turm fällt um. Oh!
      Ein anderes greift nach einem Schmetterling, aber der fliegt weg. Oh!

      Dieses Oh! stellt einen Interrput dar, eine Aufforderung das aktuell laufende Programm im Gehirn zu unterbrechen, um sich einem Phänomen unvoreingenommen nähern zu können. Ein uranischer Impuls.
      Ist es nicht höchst sonderbar und eigenartig, dass es so etwas wie eine Welt überhaupt gibt und dass ich sie wahrnehmen kann?
      Wie macht es der Mensch, dass er sich selbst beim Denken beobachten kann?

      Auf diese paradoxen Phänomene grifft man andauernd, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen. Wie kann das Leben dann auch nur für einen Moment langweilig sein?
      Der bloße Anblick eines Zwerghamsters, ja nur seine Erwähnung, kann Entzücken auslösen. ;)

      Und wie depressiv muss ein Mensch werden, der alles erklären und sich über nichts mehr wundern kann?

  4. Nevyn stellt die entscheidende Frage: "Stimmt etwas nicht mit unserem Menschenbild?"
    Von unserem Menschen- und Selbstbild hängt alles ab – und das ist seit Ausbeutung und Sklaverei in der Menschheit das Haupt oben halten – bei den Sklaventreibern und der Masse der Unterworfenen negativ. Denn für die Sklaverei und auch den Transhumanismus ist das hochsoziale Wesen Mensch nicht angelegt – dafür muß er er-zogen und geradegebogen werden.
    Zwar schwärmt selbst ein Eugen Drewermann von Kants Schrift "Vom ewigen Frieden" – mit Verlaub: Ich habe sie noch nicht gelesen – aber ich habe mich ein wenig um Kants Menschenbild gekümmert und das sieht ähnlich kümmerlich aus, wie er auf seinen Konterfeis abgebildet ist. Seit 40 und mehr Jahren sind die Bücher Ekkehard von Braunmühls, von Katharina Rutschky, Carl-Heinz Mallet (Untertan Kind) und Alice Miller (Du sollst nicht merken u.v.a.m.) käuflich zu erwerben und dennoch mauert gerade die Masse der am schwersten von Er-Ziehung geschädigten Menschen bei der Rezeption und Anerkennung dessen, was dort über die jahrhundertlange und systematische Traumatisierung der wehrlosen jungen Generationen aufgedeckt wird.

    Wenn wir unsere erzieh-herrisch gesinnten Eltern nicht kritisch hinterfragen, malen wir als Erwachsene mit unseren Taten zwanghaft Bilder unserer Traumatischen Kindheitserfahrungen. Immanuel Kant gehört zu diesen Wohlerzogenen, und so reiht er sich als prominenter Agitator systemkonform in die Reihe schwärzester Pädagogen – wie es zahllose seiner Zitate beweisen:

    Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um. …
    Disziplin verhütet, daß der Mensch nicht durch seine tierischen Antriebe von seiner Bestimmung, der Menschheit, abweiche. … Zucht ist also bloß negativ, nämlich die Handlung, wodurch man dem Menschen die Wildheit benimmt, Unterweisung hingegen ist der positive Teil der Erziehung.

    Willdheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disziplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihm den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen. Dieses muß aber frühe geschehen. So schickt man z.E. Kinder anfangs in die Schule, nicht schon in der Absicht, damit sie dort etwas lernen sollen, sondern damit sie sich daran gewöhnen mögen, still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird, damit sie nicht in Zukunft jeden ihrer Einfälle wirklich auch und augenblicklich in Ausübung bringen mögen.

    Der Mensch aber hat von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, daß, wenn er erst eine Zeitlang an sie gewöhnt ist, er ihr alles aufopfert. Eben daher muß denn die Disziplin auch, wie gesagt, sehr frühe in Anwendung gebracht werden, denn wenn das nicht geschieht, so ist es schwer, den Menschen nachher zu ändern. Er folgt dann jeder Laune. Man sieht es auch an den wilden Nationen, daß, wenn sie gleich den Europäern längere Zeit hindurch Dienste tun, sie sich doch nie an ihre Lebensart gewöhnen. Bei ihnen ist dieses aber nicht ein edler Hang zur Freiheit, wie Rousseau und andere meinen, sondern eine gewisse Rohigkeit, indem das Tier hier gewissermaßen die Menschheit noch niet in sich entwickelt hat. Daher muß der Mensch frühe gewöhnt werden, sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen. Wenn man ihm in der Jugend seinen Willen gelassen und ihm da nichts widerstanden hat, so behält er eine gewisse Wildheit durch sein ganzes Leben. Und es hilft denen auch nicht, die durch allzu große mütterliche Zärtlichkeit in der Jugend geschont werden, denn es wird ihnen weiterhin nur desto mehr von allen Seiten her widerstanden, und überall bekommen sie Stöße, sobald sie sich in die Geschäfte der Welt einlassen.

    Dieses ist ein gewöhnlicher Fehler bei der Erziehung der Großen, daß man ihnen, weil sie zum Herrschen bestimmt sind, auch in der Jugend nie eigentlich widersteht. Bei dem Menschen ist wegen seines Hanges zur Freiheit eine Abschleifung seiner Rohigkeit nötig; bei dem Tier hingegen wegen seines Instinktes nicht.

    Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was Erziehung aus ihm macht. …
    Es ist niemand, der nicht in seiner Jugend verwahrloset wäre und es im reifen Alter nicht selbst einsehen sollte, worin, es sei in der Disziplin oder in der Kultur (so kann man die Unterweisung nennen), er vernachlässigt worden. Derjenige, der nicht kultiviert ist, ist roh, wer nicht diszipliniert ist, ist wild. Verabsäumung der Disziplin ist ein größeres Übel als Verabsäumung der Kultur, denn dieses kann noch weiterhin nachgeholt werden; Wildheit aber läßt sich nicht wegbringen, und ein Versehen in der Disziplin kann nie ersetzt werden; Wildheit aber läßt sich nicht wegbringen, und ein Versehen in der Disziplin kann nie ersetzt werden. Vielleicht, daß die Erziehung immer besser werden und daß jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das größte Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur. … Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist.

    Bei der jetzigen Erziehung erreicht der Mensch nicht ganz den Zweck seines Daseins. Denn wie verschieden leben die Menschen! Eine Gleichförmigkeit unter ihnen kann nur stattfinden, wenn sie nach einerlei Grundsätzen handeln, und diese Grundsätze müßten ihnen zur anderen Natur werden. …

    … Ein Baum aber, der auf dem Felde steht, wächst krumm und breitet seine Äste weit aus; ein Baum hingegen, der mitten im Walde stehet, wächst, weil die Bäume neben ihm ihm widerstehen, gerade auf und sucht Luft und Sonne über sich. …

    • Nevyn sagt:

      »Denn für die Sklaverei und auch den Transhumanismus ist das hochsoziale Wesen Mensch nicht angelegt – dafür muß er er-zogen und geradegebogen werden.«

      So?
      Nach meiner Beobachtung gibt es Sklaverei auf diesem Planeten seit Jahrtausenden, nur die Formen haben sich gewandelt. Wie ist das zu erklären bei so „hoch sozialen“ Wesen? Ist vielleicht Sklaverei auch eine Form des sozialen Zusammenlebens?
      Ich habe neulich erst gelesen, dass jeder Konsument im Westen sechs Sklaven in der restlichen Welt hat, die für seinen Wohlstand schuften.

      Es ist immer einfach, mit dem Finger auf jemanden oder etwas zu zeigen, das schuld sein soll. Der Grund ist einfach: Man kann dann mit dem Denken aufhören und sich wieder angenehmeren Tätigkeiten widmen, wie dem Konsumieren, Kopulieren und Vegetieren, also die Bedürfnisse seines Echsenhirns zu befriedigen, was der so genannte soziale Mensch gemeinhin als „glücklich sein“ bezeichnet.

      Natürlich hat Kant erkannt, dass diese primitive Lustbefriedigung dem eigentlichen Menschsein im Wege steht und dass Disziplin und Erziehung, notwendig sind, um ihn für wahres Menschsein überhaupt empfänglich zu machen. An deren Stelle setzte er den Verstand. Aber reicht das, um den Menschen aus dem Schlamm der Materie zu befreien? Kann er sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen? Oder sind diese ersten Schritte, der Selbstdisziplin und Arbeit an sich nur die Voraussetzung für etwas Anderes, das ihn erst zum Menschen im eigentlichen Sinne macht?
      Und wenn ja, was könnte dieses Andere sein?

    • Quin Igitur sagt:

      Problematisch an „Disziplin und Erziehung“ erscheint mir – im Sinne der Gedanken meines längeren Beitrags weiter oben – dass sie bei denjenigen, die heutzutage am liebsten von ihr und ihrer Notwendigkeit sprechen, häufig bloß auf äußere Formen bezogen wird.

      Statt ihnen die Bedeutung der (sicherlich auch nicht mühelosen!) Arbeit an sich selbst zu vermitteln – also Erziehung im Sinne der Philosophie Platons zu leisten – trichtert man dann Kindern ein, auf welche ganz konkrete, einzig korrekte, Weise sie am Tisch Messer und Gabel zu halten haben, um als „gut erzogen“ zu gelten.

      Und wenn man nun lieber mit dem Löffel isst?

    • Nevyn sagt:

      »Problematisch an „Disziplin und Erziehung“ erscheint mir – im Sinne der Gedanken meines längeren Beitrags weiter oben – dass sie bei denjenigen, die heutzutage am liebsten von ihr und ihrer Notwendigkeit sprechen, häufig bloß auf äußere Formen bezogen wird.«

      In der Tat!
      Ich habe eine Reihe jüngerer Menschen um mich herum und kann gut beobachten, was in der Wechselwirkung zwischen ihnen und mir geschieht.
      Die größte Wirkung auf sie geht nicht von dem aus, was ich sage oder tue, sondern wie ich bin.
      Bin ich mit mir im Einklang, dann ist gestaltet sich der Umgang mit ihnen entspannt und geradezu angenehm und lehrreich für beide Seiten. Es gibt dann merkwürdiger Weise gar keine Probleme und die Kinder lernen sehr gern, sind kreativ und lebendig und g l e i c h z e i t i g diszipliniert.

      Was wir Erziehung nennen, meint eher eine Art Dressur oder Konditionierung, bei der die Kinder sehr schnell mitbekommen, dass die Erwachsenen selbst sich nicht an das halten, was sie den Kindern beibringen wollen. Diese Verlogenheit ist es, die zum Widerstand führt.

      Ich verweise hier gern auf Ricardo Leppe und seine Arbeit zu diesem Thema:
      https://wissenschafftfreiheit.com/

      Darüber hinaus wäre die Frage von Interesse, was den Erwachsenen vom Kind unterscheidet. Auch hier klammern wir uns an äußere Formen. Aber macht der Vollbart oder der kräftige Vorbau einen erwachsenen Menschen aus?
      Auf der Ideen-Ebene wird das Thema sofort klar, wenn man sich die Krebs-Steinbock-Achse anschaut.
      Dann sieht man auch, dass wir in einer durch und durch infantilen Gesellschaft leben. Fast niemand wird mehr erwachsen und es gibt immer weniger wirklich erwachsene Vorbilder. Dass solche Gesellschaften degenerieren und irgendwann sterben, weil sie sich weigern, wichtige Entwicklungsschritte zu gehen, liegt auf der Hand.

    • Quin Igitur sagt:

      "Dann sieht man auch, dass wir in einer durch und durch infantilen Gesellschaft leben. Fast niemand wird mehr erwachsen und es gibt immer weniger wirklich erwachsene Vorbilder. "

      Ah, mal eine Gelegenheit zum Einspruch! Diesen Punkt sehe ich nämlich tatsächlich ein wenig anders, Nevyn. Naja, eigentlich nicht wirklich anders – ich würde lediglich bei den Stichworten „infantil“ und „erwachsene Vorbilder“ weiter differenzieren.

      Bohren wir dazu ruhig mal nach bei Ihrer Frage nach dem wesenhaften Unterschied zwischen einem Erwachsenen und einem Kind. Wodurch definiert sich das Wesen des Kindlichen, denn nichts anderes heißt ja im Wortursprung „Infantiles“?

      Wie alles in unserer materiellen Welt, wird auch dieses zwei Pole beinhalten. Mir erscheinen sie folgendermaßen:

      Den einen Pol des Kindlichen sehe ich in der mangelnden Reflexion eigener Emotionen und Konsequenzen seiner Entscheidungen, im Immer-Seinen-Eigenen-Kopf-Durchsetzen, im „Weil-ich-das-JETZT-will!!! (stampf, stampf, stampf) .

      Der andere Pol dagegen besteht aus meiner Sicht aus all dem, was Sie in Ihrem Beitrag weiter oben so wunder-bar charakterisiert haben. Und das gerade benutzte Adjektiv war ganz bewusst gewählt – denn es geht ja eben ums Wundern, ums Staunen, um das noch nicht verstummte göttliche Spiel, das Leben in einer zauberhaften Welt, um den Mut, vielleicht nicht zur Weisheit, aber doch bestimmt zur Vorstellungskraft, zur Fantasie, die im höheren Sinne möglicherweise vielleicht doch eine Form der Weisheit bildet.

      Können Sie sich an die Zitate aus Jostein Gaarder und Antoine de Saint-Exupéry aus unserem allerersten Austausch hier erinnern? Dort wird genau dieser Pol des „Kindlichen“ fabelhaft umschrieben.

      Bekannterweise betont Thorwald Dethlefsen häufig, dass das Problem unserer Gesellschaft nicht in irgendeinem Gegenstand oder Inhalt, sondern in der Ausschließlichkeit liegt – im Ausklammern des anderen Pols.

      Und beim Wesen des Kindlichen sehe ich eine d o p p e l t e Ausschließlichkeit.

      Im Bereich der Emotionen ist man tatsächlich allzu oft nicht im „Erwachsenenbereich“ angekommen, hat nicht gelernt, mit ihnen bewusst umzugehen, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dabei über die Anderer achtlos zu stampfen wie ein Elefant– Wenn wir Infantilität nur bezogen auf diesen Bereich betrachten, bin ich also ganz bei Ihnen.

      Im Bereich der Weltwahrnehmung, der Erkenntnis, sieht es nun aber genau umgekehrt aus: denn dort hat man „gelernt“, ganz und gar „erwachsen“ zu sein: Wie es sein kann, dass es die Welt gibt? Na, was weiß ich! Lass mich in Ruhe mit diesem Zeug und mach mal lieber was Vernünftiges! Man erkennt dann eben keine von Boas verschlungene Elefanten mehr, sondern höchstens noch alte Hüte.

      Gewissermaßen bilden die hier genannten Punkte also zwei Achsen – einmal die Achse der Emotionen, einmal jene der Erkenntnisfähigkeit – und auf beiden sind sehr häufig jeweils die Extrempunkte besetzt. Man ist also dort nur „Kind“, wo erwachsenes Verantwortungsgefühl vonnöten wäre, und dort ganz „Erwachsener“, wo einst noch leuchtende Augen gescheiterter Schmetterlingsfänger zarte Anklänge göttlicher Melodien in sich trugen.

      Vielleicht müsste man also erwachsener werden und infantiler zugleich?

    • Nevyn sagt:

      „Vielleicht müsste man also erwachsener werden und infantiler zugleich?“

      Kann man gleichzeitig ein- und ausatmen?
      Dethlefsen betont, dass der Ausgleich auf dem Umweg über die Zeit geschaffen wird. Dabei kann der Mensch nicht wählen, ob er passiert, denn das wird er; aber er kann wählen, wie er geschieht, indem er ihn bewusst herbei führt, anstatt sich ihm unbewusst als Schicksal auszusetzen.

      Das Kind muss sterben, damit der Erwachsene geboren werden kann. Wir haben das mal mit einem jungen Mann in einem Selbsterfahrungskurs in sehr berührender Weise zelebriert, ein lunares Einweihungsritual. Er wurde von den Männern in einer Doppelreihe von der Senkrechten in die Waagerechte gebracht und von ihnen getragen. Die Frauen versammelten sich am Rand, hakten sich unter, sahen zu und weinten vor Rührung. Das alles geschah völlig spontan. Dann stellten wir den jungen Mann wieder auf seine Füße und bildeten mit ihm einen Kreis. Als wir den auflösten, was bei ihm in den Augen ein Universum zu erkennen, ein Strahlen, das keine Beschreibung möglich macht. Er war innerhalb von wenigen Minuten verändert, selbstbewusster, klarer, die Stimme tiefer.
      In diesen wenigen Minuten stand das All still. Der Raum war heraus genommen, aus der Welt und alle Anwesenden hielten ihn, wortlos und doch mit voller Präsenz in polarer männlich-weiblicher Schwingung.

      Polarität ist nicht ein bisschen von dem und etwas vom Anderen. Sie ist das Eine ganz und gar und dann zu anderer Zeit das Andere. Erst wenn man beide Pole erfahren hat, ganz mit ihnen verbunden war, kann man in die Mitte kommen und die Kraft beider Enden gleichzeitig nutzen.

      Man wird vom versorgten, subjektiv denkenden und handelnden, unverantwortlichen aber bevormundeten Kind zum sorgenden, objektiv denkenden und handelnden, voll verantwortlichen und darum freien Menschen. Dann aber geschieht etwas Seltsames. Man bekommt das Kind zurück, als inneres Kind. Man muss erst verlieren, was man wieder finden soll. Das gilt für so ziemlich alles in Bezug auf den Menschen.

      Und solang du das nicht hast
      Dieses Stirb und Werde!
      Bist du nur ein trüber Gast
      Auf der dunklen Erde.
      Goethe

    • Quin Igitur sagt:

      "Dann aber geschieht etwas Seltsames. Man bekommt das Kind zurück, als inneres Kind. Man muss erst verlieren, was man wieder finden soll. "

      Der Umweg über das Gegenteil als Lösung… Das bringt was zum Klingeln.

      Das Kind muss also erst ganz aufgelöst werden, damit die Energie des Staunend-Kindlichen in gereinigter, höherer Form wiederkommen kann?

      Ich werde mir das in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Danke, Nevyn.

  5. Nevyn sagt:

    „Das Weib soll in der Gemeinde schweigen!“

    Unbedingt!
    Wer sich dagegen ausspricht, sollte die Bibel nicht lesen, denn es kommt nur Unsinn dabei heraus.
    Die Bibel regelt einzig das Verhältnis des Menschen zu Gott. Sie als Benimm- und Moralbuch zu interpretieren, kommt einer Entweihung der heiligen Lehren gleich, die sie beinhaltet.

    Das „Weib“ meint hier „Frau Welt“. In einer heiligen Versammlung haben weltliche Belange keinen Platz, denn sie gehören irdischen und nicht himmlischen Angelegenheiten an.
    Leider erleben wir in allen Religionen diese ungute Vermischung, bis dahin gehend, dass sich angebliche Religionen in ihren heiligen Versammlungen nur noch um Weltliches kümmern, was sie schlichtweg entbehrlich macht, denn dafür gibt es andere Organisationsformen, die besser dafür geeignet sind.
    Eine der schwierigsten Aufgaben solarer Kulte besteht darin, sie von lunaren Strömungen rein zu halten, weshalb gute Kulte, diese beiden Bedürfnisse des Menschen trennen und damit den geistigen vom weltlichen Weg.
    Sie agieren in ihren weltlichen Belangen wie jeder andere Mensch und wissen selbst, was die tun oder lassen sollen. In ihren heiligen Zusammenkünften dagegen bleibt die Welt mit all ihren Belangen draußen und man folgt klaren Regeln innerhalb der Gemeinschaft für Gebet und Ritual, die aber NUR für diese Zusammenkünfte gelten.

    Diese heiligen Regeln werden meist geheim gehalten. Aber nicht, darum, weil sie irgend etwas darstellen, für das man sich schämen müsste, sondern um es vor Profanisierung zu schützen, was unweigerlich passiert, wenn man es der Welt zum Fraß vorwirft.

  6. Nevyn sagt:

    „Die Optimisten glauben, dass wir in der besten aller Welten leben.
    Die Pessimisten befürchten, dass dies wahr ist.“

    Danke Herr Ploppa, für diesen informativen, unterhaltsamen und auch hurmorvollen Podcast!

    Die Fragen, die offen bleiben und mich beschäftigen:
    Warum gerät jede Massenbewegung der Menschheit in einen Exzess und verkehrt sich letztlich in ihr Gegenteil?

    Stimmt etwas nicht mit unserem Menschenbild? Wir werfen unseren Zeitgenossen vor, die Bequemlichkeit der Freiheit vorzuziehen, wenn sie die freie Wahl haben. Aber vielleicht haben sie diese freie Wahl gar nicht? Vielleicht gibt es DEN Menschen gar nicht, sondern eine Herde von menschlich aussehenden Wesen, die weder das Bedürfnis nach höherer Erkenntnis noch nach Freiheit haben, weil es ihnen im Kern fehlt? Die bräuchten dann tatsächlich einfach „artgerechte Haltung“.
    Dann wäre die Welt doch, wie sie aktuell ist, genau richtig für sie.
    Und vielleicht gibt es tatsächlich einige Wenige, die dieses höhere Streben in sich spüren und sich daher trotz gleichem Aussehen fundamental von den anderen unterscheiden? Nur kann man das weder in den Genen noch in der intellektuellen Leistung erkennen.

    Oder, um den Bogen zur aktuellen Zeit zu schlagen: Was treibt einige Menschen dazu, sich der kognitiven Kriegsführung und der operanten Konditionierung gegen sie aktiv zu widersetzen, während die meisten sie nicht einmal bemerken?
    Ich hätte da einige Ideen, aber mich interessiert viel mehr, was andere darüber denken.

    Wenn die beobachteten Ereignisse nicht mit den aktuellen Annahmen erklärbar sind, stimmen vielleicht die Annahmen nicht, auch wenn sie uns lieb geworden sind. Wir können dann versuchen, die Ereignisse umzudeuten und sie ins eigene Weltbild zu pressen.
    Kluge Menschen lösen sich von ihrem Weltbild, zerstören es förmlich und bauen ein neues, das die aktuellen Beobachtungen mit erfasst. Aber dazu braucht es den Mut, sich selbst in Frage zu stellen und das schaffen nur wenige.

    • Nevyn sagt:

      Noch eine Anmerkung:
      „Sapere aude“ stammt eigentlich von Horaz und meint: „Wage es, weise zu sein!“

      Das ist etwas grundsätzlich anderes, als sich nur seines Verstandes zu bedienen. Der Verstand allein dient der Navigation in dieser Welt, er ist damit so etwas wie der Steuermann.

      Kant hat ihn zum Kapitän gemacht und damit die Gehirnakrobatik in den Rang der Philosophie erhoben, wo sie heute leider immer noch ihren Sitz hat.
      Es könnte sich lohnen, genauer zu erforschen, worin Weisheit eigentlich besteht und warum es nach Horaz sehr wohl ein Wagnis ist, sich dazu zu bekennen und ein Liebhaber der Weisheit zu werden, ein Liebender statt ein Berechnender.

    • _Box sagt:

      Was Kant nicht alles gemacht haben soll. Spannend ist auch, wie stets, die vorangestellte entweder oder Wahl. Wie wäre es mit sowohl als auch? Oder spricht aus Kant nicht auch neben einem Verstand eine Lebensweisheit?

      Nebenbei bemerkt, vlt. wäre es interessant zu erfahren warum manche mehr, manche weniger, den zerstörerischen Einflüsterungen dieser oder jener Herren und ihrer Schergen erlegen sind. Letztendlich würde eine Erkenntnis in diesem Bereich, beim derzeitigen Machtverhältnis, nur dazu führen auch noch den letzten Rest Widerstand auszumerzen. Was wohl in beiden Fällen nicht zu befürchten steht, betrachtet man den Dilettantismus den die radikale Implementierung des Idiotensystems an die Spitze befördert hat. Weder eine komplette Selbsterkenntnis steht an, noch die komplette Ausmerzung von Widerstand.

  7. Rudolph sagt:

    Nachträge:
    Das „Königsberg“, in dem Kant lebte, wurde in „Kaliningrad“ umbenannt. („Königsberger Klopse“ wurden jedoch nicht umbenannt.)

    Kandide von Voltaire:
    https://de.wikisource.org/wiki/Kandide
    (Echt witzig!)

  8. Josh H sagt:

    Wieder mal ein Ploppa? Immer wieder sehr gerne! Danke für die komprimierte Zusammenfassung des Weges.

  9. hulli3 sagt:

    Die Philosophie der Gegenwart leidet an einem unge­sunden Kant-Glauben. (R.Steiner)

    • _Box sagt:

      Gewiss hulli,

      könntest du das noch etwas ausführen? Mglw. hast du ja, wenn schon nicht Kant, vlt. Steiner gelesen. Mglw. kommen dabei weitere solch hochinteressante Interpretationen heraus, wie z.B. auch hier:

      hulli3 sagt:
      30. August 2022
      Karl Marx konnte eben nicht mit Geld umgehen, darum konnte er an nichts anderes als ans Geld denken. So konnte er nie zu wirklich produktiven Gedanken kommen, Alternativen zum Kapitalismus finden, die Anbetung des Mammon beenden, sondern im Gegenteil: Mehr Geld ist die Lösung für alle Probleme. Das glaubt auch die Londoner City, in der er gewohnt hat.

      https://apolut.net/das-letzte-aufbaeumen-von-susan-bonath#comment-248367

      Also von Rudolf Steiner habe ich tatsächlich nichts gelesen, aber hier wird ein Bezug hergestellt:

      Was tun?

      Erinnern wir uns: Es ist ja nicht das erste Mal, dass die Menschheit vor der Frage steht, „ob der Mensch in seinem Denken und Handeln ein geistig freies Wesen ist oder ob er unter dem Zwange einer naturgesetzlichen ehernen Notwendigkeit steht“.

      Genau mit diesem Satz eröffnete Rudolf Steiner vor mehr als hundert Jahren, 1894, seine Schrift zur „Philosophie der Freiheit“. Die Schrift endet mit Ausführungen zur Bedeutung eines „ethischen Individualismus“ und der moralischen Fantasie, die das Ich in den sozialen und geistigen Raum einbinden.

      Erinnern wir uns weiter: Die „Philosophie der Freiheit“ erschien auf dem Höhepunkt des damaligen naturwissenschaftlichen Aufbruchs, der getragen war von der neu aufgekommenen Evolutionstheorie. Steiner forderte die damalige europäische Welt auf, sich von einem deterministischen Missverständnis der Evolutionstheorie zu befreien, ohne dabei die Evolution zu leugnen. Es gehe vielmehr darum, den Evolutionsgedanken zur „Erkenntnis der geistigen Welt“ weiter zu entwickeln. Ethischer Individualismus, erklärte er, sei „vergeistigte Entwicklungslehre auf die Evolution übertragen“ (15).

      Zehn Jahre später, 1904, folgte Steiners Schrift „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“ (16). In ihr schlägt Steiner einen strengen meditativen Weg der geistigen Erneuerung vor — nicht anders als Harari heute, könnte man denken und in einer vergleichbaren Situation, nur auf erweiterter Stufenleiter: einer weiterentwickelten Verbindung von Mensch und Technik.

      Damals war es die Physik, die die Menschen herausforderte. Heute wird die Möglichkeit des Menschen, einen freien Willen zu entwickeln, von der biotechnischen Forschung infrage gestellt. Steiners Vorschläge zur Meditation weisen jedoch einen anderen Weg als Harari. Harari will unter der Vorgabe: „Einfach nur wahrnehmen“ den Geist in sich selbst aufspüren, von dem er zuvor gesagt hat, dass er ihn im Ich, in der Seele, in seinen Emotionen, in der ihn umgebenden Welt nicht finden konnte. Der von Steiner skizzierte Weg führt dagegen in die wache Wahrnehmung der Welt, um das Ich, die Seele, das kreative Denken als gestaltende Kraft für diese Welt zu öffnen und zu entwickeln.

      Wegweisend und angesichts des digitalen Tsunamis, der heute auf uns zu schwappt — noch gültiger als vor hundert Jahren — ist das, was Steiner im Jahr 1917 zur Frage der Beziehung von Mensch und Maschine äußerte.

      Dem „Zusammenschmieden des Menschen mit der Maschine“ könne die Menschheit nicht ausweichen, erklärte er, das liege im Gang der Evolution.

      Aus:
      Trojanisches Pferd des Transhumanismus
      Der Sachbuchautor Yuval Noah Harari popularisiert die Idee einer technisch optimierten Menschheit unter dem Vorwand, diese zu kritisieren.
      von Kai Ehlers

      Die Krise als vermeintliche Chance. Corona öffnet die Aussicht auf eine „neue Normalität“, in der die schon seit Längerem gehegten transhumanistischen Visionen der technischen „Optimierung“ des Menschen jetzt offen zutage treten. Sie versprechen die Erlösung des Menschen von Krankheit und Tod; tatsächlich zielen sie aber darauf ab, den Menschen überflüssig zu machen. Angst vor dieser Entwicklung und gleichzeitige Akzeptanz lassen bei vielen eine soziale Schizophrenie entstehen. Exemplarisch trat diese schon vor Corona in den Veröffentlichungen des Historikers Yuval Noah Harari hervor: Harari war schon länger als engagierter Warner gegen die vom Transhumanismus ausgehenden Entwicklungen aufgetreten. Dabei repräsentiert er aber selbst genau das Menschenbild, von dem die Transhumanisten ausgehen.

      https://www.rubikon.news/artikel/trojanisches-pferd-des-transhumanismus

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