Der große Kredit auf Vertrauen
Ein Standpunkt von Günther Burbach.
Europa feiert sich selbst als „Stabilitätsanker“, während es längst auf einem Schuldenberg steht, der jeden Tag wächst. Die Europäische Union hat sich von einem Wirtschaftsprojekt in eine Schuldenmaschine verwandelt und Ursula von der Leyen lächelt tapfer in die Kameras, als wäre alles in bester Ordnung. Doch hinter dem Lächeln bröckelt die Fassade: Die EU lebt über ihre Verhältnisse, ihre Mitgliedstaaten ebenfalls. Und während überall Sparprogramme, Steuererhöhungen und Sozialkürzungen drohen, werden in Brüssel neue Milliardenfonds beschlossen, als wäre Geld eine politische Fantasiegröße.
Es ist kaum zu fassen, wie routiniert die EU inzwischen Schulden aufnimmt. Was 2020 als Notlösung begann, ist heute Dauerzustand. Der „NextGenerationEU“-Fonds, einst als einmaliger Corona-Aufbauplan gedacht, läuft längst weiter. Mehr als 320 Milliarden Euro hat die Kommission inzwischen aufgenommen. Bis 2026 sollen es über 800 Milliarden werden.
Dazu kommen neue Pläne:
- Ein Rüstungsfonds im Umfang von bis zu 150 Milliarden Euro,
- eine Ukraine-Fazilität über 50 Milliarden,
- und immer neue Kreditlinien unter wohlklingenden Etiketten wie „Green Transition“ oder „Digital Europe“.
Die EU, die laut Vertrag eigentlich keine eigenen Schulden machen darf, hat sich selbst in einen kreditfinanzierten Staat verwandelt, nur ohne Wähler, ohne Finanzminister und ohne parlamentarische Kontrolle.
Die Schulden laufen über den EU-Haushalt, werden durch die Mitgliedsstaaten garantiert und von den Finanzmärkten begeistert aufgenommen. Warum? Weil Anleger wissen: Wenn etwas schiefläuft, springt Deutschland ein. Die Bonität der Union ist nur so gut, weil Berlin, Den Haag und Wien mit ihrem wirtschaftlichen Gewicht stillschweigend dafür bürgen. Und niemand in Brüssel sagt das laut.
Die große Täuschung: BIP statt Bonität
Das Rückgrat dieser Schuldenarchitektur ist eine Illusion, die Vorstellung, dass ein hohes Bruttoinlandsprodukt gleichbedeutend mit Zahlungsfähigkeit ist. Das ist ökonomischer Unsinn. Denn das BIP misst nur, wie viel in einem Land produziert wird, nicht, was davon übrig bleibt.
Frankreich zum Beispiel: rund 2,8 Billionen Euro Wirtschaftsleistung, aber 3,2 Billionen Euro Schulden, das sind 114 Prozent des BIP.
Italien: 2,2 Billionen BIP, 2,9 Billionen Schulden, also 131 Prozent.
Griechenland: noch immer über 150 Prozent.
Selbst Spanien liegt bei über 110 Prozent.
Diese Staaten gelten in Brüssel trotzdem als „verlässliche Beitragszahler“.
Warum? Weil sie groß genug sind, um nicht zu fallen und weil die EU bei der Berechnung ihrer Zahlungsfähigkeit nicht fragt, was real an fiskalischem Spielraum bleibt.
Das ist, als würde eine Bank Kredite vergeben, weil der Kunde viele Rechnungen schreibt, nicht weil er sie bezahlt.
Währenddessen drängt die Kommission auf weitere gemeinsame Programme. Von der Leyen spricht von „Souveränität“ und „Solidarität“, meint aber: Schuldenvergemeinschaftung durch die Hintertür.
In der Theorie ist die EU keine Schuldenunion. In der Praxis ist sie längst eine. Mit jedem neuen Fonds wächst der Haftungsrahmen. Der Unterschied: Er taucht nicht in den nationalen Haushalten auf. Deutschland weist aktuell rund 2,6 Billionen Euro Schulden aus, aber die EU-Verpflichtungen stehen dort nicht. Sie gelten als „Eventualverbindlichkeiten“. Politisch bequem, ökonomisch brandgefährlich.
Denn niemand weiß, wie groß die Summe inzwischen wirklich ist. Rechnet man NextGenerationEU, SURE, Ukraine-Facility und die diversen Garantietöpfe zusammen, kommt man auf rund eine Billion Euro an gemeinschaftlichen Schulden und Verpflichtungen. Und das ist nur der Anfang.
Die Rückzahlung läuft über Jahrzehnte. Für den Corona-Fonds etwa ist die Tilgung bis 2058 vorgesehen. Das heißt: Zwei Generationen zahlen Schulden für Programme, deren Nutzen in fünf Jahren vergessen sein wird.
Doch weil die Kredite über den EU-Haushalt laufen, fühlt sich keiner verantwortlich. Nicht Paris, nicht Rom, nicht Brüssel. Die Verantwortung ist so verdünnt, dass sie praktisch nicht mehr existiert.
Wie kann das sein? Ganz einfach: Die Europäische Kommission hat das Initiativrecht für Gesetze. Sie schlägt die Fonds vor, der Rat der EU (die Mitgliedsregierungen) nickt sie ab, und das Parlament winkt sie durch. Nationale Parlamente werden nicht gefragt. Damit ist die EU der einzige politische Raum der Welt, in dem man hunderte Milliarden umverteilen kann, ohne dass auch nur ein nationaler Abgeordneter zustimmen muss.
Das ist kein demokratisches Defizit mehr, das ist ein Systemfehler. Ein Staat, der so wirtschaftet, wäre längst insolvent. Eine EU, die so wirtschaftet, nennt das „Vertrauenspolitik“.
Das Geschäft mit dem Vertrauen
Die Anleihen, die Brüssel ausgibt, heißen offiziell „EU-Bonds“. Sie gelten am Finanzmarkt als sicher, fast so sicher wie deutsche Bundesanleihen. Aber sie sind es nicht. Ihre Bonität basiert ausschließlich auf der stillschweigenden Annahme, dass kein Mitgliedsstaat die Zahlung verweigert.
Das nennt man „gemeinsame Garantie“, ein Wort, das harmlos klingt, aber bedeutet: Wenn einer nicht zahlt, zahlen die anderen. Und wenn die großen Zahler schwächeln, ist das Kartenhaus am Ende.
In Wahrheit ist die EU kein Haushalt, sondern eine Versicherungsgesellschaft ohne Rücklagen. Sie verteilt Risiko, aber sie mindert es nicht. Sie verschiebt es, nach Norden, zu den Staaten, die noch funktionieren. Und sie hofft, dass niemand so genau hinsieht.
Klimawandel? Neuer Fonds.
Verteidigung? Neuer Fonds.
Ukraine? Noch ein Fonds.
Digitale Souveränität? Ein weiterer Fonds.
Die EU reagiert auf Krisen nicht mit Reformen, sondern mit Geld.
Geld, das sie nicht hat.
Allein die neue Ukraine-Facility soll 50 Milliarden Euro umfassen, 17 Milliarden Zuschüsse, 33 Milliarden Kredite. Die European Peace Facility, über die Waffenlieferungen abgewickelt werden, liegt inzwischen bei über 11 Milliarden Euro. Und jetzt wird über eine „European Defence Industry Facility“ gesprochen, die nochmals bis zu 150 Milliarden mobilisieren soll. Alles auf Kreditbasis.
Diese Programme beruhen auf dem Prinzip „Solidarität durch Verschuldung“.
Doch Solidarität, die man sich leiht, ist keine. Sie ist eine Wette, auf Wachstum, auf Vertrauen, auf die Geduld der Bürger.
Das perfide an diesem Spiel: Die Grundannahme der EU lautet, dass Schulden kein Problem sind, solange das Wachstum höher ist als der Zins. Doch genau das ist längst vorbei.
Die EZB hat den Leitzins 2024 auf über 4 % angehoben. Zugleich liegt das Wirtschaftswachstum in der EU 2025 bei gerade einmal 1,1 %. Das bedeutet: Die Schulden wachsen schneller als die Wirtschaft. Und die Zinslast steigt.
Allein Deutschland zahlt 2025 rund 45 Milliarden Euro an Zinsen, Frankreich über 55 Milliarden, Italien mehr als 70 Milliarden. Geld, das in Bildung, Forschung oder Infrastruktur fehlt, aber für alte Kredite verbrannt wird. Und trotzdem beschließen dieselben Regierungen in Brüssel neue Schuldenfonds, als wäre alles unter Kontrolle.
Das System lebt nur noch vom Glauben an seine eigene Stabilität. Die EU verkauft ihre Schulden als „Investitionen in die Zukunft“, obwohl sie in Wahrheit Altschulden mit Zinsen refinanziert. Man nennt das in Brüssel „rollover strategy“, also die permanente Umschuldung.
Das funktioniert, solange Investoren glauben, dass die Union nicht zerfällt. Aber Vertrauen ist keine wirtschaftliche Größe. Es ist eine Stimmung. Und Stimmungen kippen.
Wenn eines Tages ein großer Mitgliedsstaat wie Italien oder Frankreich ins Wanken gerät, dann wird man merken, dass die europäische Schuldenunion kein Sicherheitsnetz war, sondern eine Haftungsgemeinschaft ohne Bremsen.
Von der Leyens Fassade
Ursula von der Leyen verkauft dieses Spiel als Erfolgsgeschichte. Sie spricht von „Wachstum, Nachhaltigkeit und Zusammenhalt“.
Sie reist mit militärischem Tross durch Europa, kündigt Milliarden an, lächelt in jede Kamera. Doch was sie verwaltet, ist keine Union der Stärke, sondern der gegenseitigen Erpressung. Keiner kann mehr aussteigen, ohne das System zu Fall zu bringen. Jeder weiß, dass die Zahlen nicht mehr aufgehen und alle tun so, als ginge es weiter.
Europa steht am Rand einer fiskalischen Implosion, und niemand wagt, das offen auszusprechen. Weil die Wahrheit unbequem ist: Der EU geht es finanziell nicht gut. Sie steht stabil nur deshalb, weil niemand den Mut hat, näher hinzusehen.
Der große Knall
Wenn man eine Billion Euro Schulden aufbaut, sie auf 30 Jahre streckt, das Wachstum stagniert und die Zinsen steigen, dann braucht man kein Ökonom zu sein, um zu wissen, wie das endet. In Brüssel nennt man das „Investitionsstrategie“. In der Realität ist es ein Pyramidenspiel.
Die EU verschiebt die Kosten der Gegenwart in die Zukunft und verkauft sie als „Generationenvertrag“. Doch der Vertrag, den hier jemand unterschrieben hat, existiert nur auf Papier. Die Bürger haben ihn nie gesehen.
Der große Knall wird nicht morgen kommen. Aber er kommt. Vielleicht still, vielleicht schleichend. In Form einer Währungskrise, eines Zahlungsausfalls, einer politischen Kettenreaktion. Dann wird man sagen: Niemand konnte das ahnen. Doch jeder konnte es sehen, wenn er nur hingeschaut hätte.
Fazit
Europa taumelt und tut so, als tanze es. Die EU ist heute kein Stabilitätsanker mehr, sondern ein Fass ohne Boden, verkleidet als Zukunftsprojekt. Die Mitgliedsstaaten verschulden sich, die Union verschuldet sich, und am Ende haftet der Bürger, der nichts davon beschlossen hat.
Von der Leyens Lächeln verdeckt nur, was längst jeder weiß: Dieses Konstrukt steht nur noch, weil niemand den Mut hat, es zu erschüttern.
Doch der Tag, an dem das Vertrauen kippt, wird kommen. Und dann zeigt sich, dass der große Kredit, auf dem Europa steht, nie durch Werte gedeckt war, sondern durch Verdrängung.
Quellen und Anmerkungen
Eurostat (21.07.2025): Government debt at 88.0 % of GDP in euro area; 81.8 % in the EU.
https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-euro-indicators/w/2-21072025-ap
European Commission (Funding Plan 2025): EU to issue up to €160 billion in bonds in 2025.
https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/eu-budget/eu-borrower-investor-relations/funding-plans_en
European Commission (Ukraine Facility): €50 billion support package for Ukraine 2024–2027.
https://commission.europa.eu/topics/eu-solidarity-ukraine/eu-assistance-ukraine/ukraine-facility_en
Euronews (05.03.2025): EU rearmament plan could reach €800 billion.
https://www.euronews.com/my-europe/2025/03/05/how-can-the-eu-unlock-up-to-800bn-for-its-rearmament-plan
ECB Economic Bulletin (Q3 2025): The Commission has already borrowed over €320 billion under NGEU.
https://www.ecb.europa.eu/press/economic-bulletin/articles/2025/html/ecb.ebart202408_03~04121f4ea9.en.html
European Commission (Spring 2025 Economic Forecast): EU growth projected at 1.1 % for 2025.
https://economy-finance.ec.europa.eu/economic-forecast-and-surveys/economic-forecasts/spring-2025-economic-forecast-moderate-growth-amid-global-economic-uncertainty_en
Intereconomics (2023): Towards a Common EU Debt – Where Do We Stand?
https://www.intereconomics.eu/contents/year/2023/number/6/article/towards-a-common-eu-debt-where-do-we-stand.html
Reuters (18.04.2024): EU’s lending arm pledges to speed up Ukraine spending.
https://www.reuters.com/business/finance/eus-lending-arm-pledges-speed-up-ukraine-spending-2024-04-18
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: EVP-Präsident Manfred Weber und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen halten am 9. Juni 2024 während eines EVP-Wahlabends in Brüssel eine Rede
Bildquelle: Alexandros Michailidis/ shutterstock
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