Das Ding mit Brunke – Erinnerungen an Thomas Brasch

Von Dirk C. Fleck.

 

 

Die Idee zu diesem Artikel kam mir vor einigen Tagen, als ich wieder einmal in Berlin war. Ich saß im Garten des Restaurants Ganymed am Schiffbauerdamm, wenige Schritte vom Berliner Ensemble entfernt. Auf der Spree glitten die vollbesetzten Ausflugsdampfer vorbei. In den verwehten Sprachbändern der Touristenführer tauchte immer wieder der Name Bertold Brecht auf. Das hatte ich schon einmal so gehört, das hatte Geschmack. Es war, als würde ich in meiner Geschichte um fünfzehn Jahre zurück geworfen. Vor fünfzehn Jahren hatte ich mich hier mit Thomas Brasch getroffen. Wir saßen am selben Tisch und führten das beeindruckendste Interview, das mir je passiert ist. Zu dieser Zeit hatte der deutsche Literaturbetrieb seinen ehemaligen Shootingstar längst vergessen. Dabei war der streitbare Dissident nach seiner Aussiedlung aus der DDR (1976) vom westdeutschen Feuilleton geradezu verhätschelt worden. Sein Prosaband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ stürmte die Bestsellerlisten, seine Theaterstücke „Lovely Rita“ und „Lieber Georg“ erreichten die großen Bühnen und mit seinen Filmen „Engel aus Eisen“ und „Der Passagier – Welcome to Germany“ vertrat er die alte Bundesrepublik bei den Filmfestspielen in Cannes. Thomas Brasch, so gestand er mir, war in aller Munde und hatte plötzlich „richtig viel Geld“.

 

Nach der Wende wurde es still um den Hochbegabten. Brasch kümmerte sich nicht länger um die Erfordernisse des Kulturbetriebes. Er war von einer Idee besessen, die er nicht mehr zu steuern vermochte, er hatte sich in eine „never ending story“ verstrickt. Bevor er mir davon erzählte, bat er um eine Zigarette, „weil ich mit dem Rauchen aufgehört habe“. Die Zigarette glitt unangezündet durch seine Finger, landete kurz zwischen den Lippen, um anschließend wieder virtuos in der Hand bewegt zu werden, als wollte er dem Nikotindämon zeigen, wer Herr im Hause ist. „Nach drei Stunden mach ich beim schreiben für gewöhnlich eine Pause,“ erklärte er sein Verhalten, „da habe ich immer geraucht. Jetzt wo das wegfällt, stehe ich völlig sinnlos im Raum rum. Das Rauchen hat eine Struktur in den Tag gebracht. Beim schreiben ist es am schwersten darauf zu verzichten. Erst recht, wenn man Brunke zu fassen kriegen will …“

 

Ein Spatz hüpfte auf den Tisch und schaute den Mann, der aussah, als beginne der Tag für ihn wie selbstverständlich mit einer Schürfwunde, mit schräggestelltem Kopf an. „Wir kennen uns,“ sagte Brasch, „ich kenne alle Spatzen hier. Dieser hockt die meiste Zeit bei mir auf dem Fensterbrett, ich wohn ja um die Ecke”. Nach einer kleinen Pause fügte er unvermittelt hinzu: „Wir reden aber nur über Brunke, alles andere interessiert mich nicht“. Und als wollte er die 14.000 Seiten, die ihm der Mädchenmörder Brunke inzwischen abverlangt hatte, rechtfertigen, zitierte er einen Satz von Robert Musil: Prosa ist keine Kunstform, sondern eine Existenzform. „Wenn man sich in diesem Wald aus Wörtern verläuft, wenn man das wirklich zulässt, und ich habe es zugelassen, bricht man mit der Zeit mit allem: mit seinen Beziehungen zum Beruf, mit der Stadt, mit den Frauen und vielem mehr. Das wusste ich am Anfang nicht“.

 

Die Beziehung Brunke-Brasch war das Ergebnis eines folgenschweren Fehltritts. „Ich habe 1970 eine Freundin aus der Stadtbibliothek abholen wollen. Es hatte sehr stark geregnet, ich bin auf dem Hof in eine Pfütze getreten, mein Schuh lief voll Wasser. Vor mir entdeckte ich eine Plane, unter der alte Zeitschriftenbände zum auslagern gestapelt waren. Ich griff mir ein Exemplar, es waren die Braunschweiger Neuesten Nachrichten von 1906. In einer Gerichtsreportage las ich dann die folgenden Sätze: ´Er verließ das Haus und lief in Richtung Buchhorst. Dann besann er sich und lief wieder Richtung Braunschweig. Im Stadtpark geriet er in eine schlammige Gegend, sodass sein Schuh mit Wasser voll lief. In diesem Augenblick meinte er, das Richtigste wäre, sich auf kürzestem Wege zur Polizeistation zu begeben und seine Tat zu gestehen´“. In diesem Augenblick meinte Thomas Brasch, dass es das Richtige wäre, sich auf kürzestem Wege dem Fall Brunke zuzuwenden.

 

Es sollte dann aber noch zwanzig Jahre dauern, bis Brunke endgültig von ihm Besitz ergriffen hatte. Wer war dieser 18jährige Banklehrling aus Braunschweig, der am 30. August 1905 die beiden Apothekertöchter Alma und Martha Haas erschossen hatte – auf deren ausdrücklichen Wunsch, wie er behauptete? Nachdem man ihn zu acht Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte, erhängte sich Karl Brunke an einem Bindfaden in seiner Zelle, wie es im Polizeibericht hieß. „Ich habe angefangen, alle verfügbaren Unterlagen über diesen Fall zu sammeln,“ gestand Thomas Brasch. Warum, das wusste er wohl selbst nicht, aber irgendetwas faszinierte ihn an der Geschichte. So hatte Brunke vor Gericht zusätzlich eine Unterschlagung bei der Bank von 1.034,10 Mark gestanden. „Er behauptete, das Geld sei zum Erwerb der Gasserschen Apparate gedacht gewesen, die ihm die Fähigkeit zum Lieben zurückgeben sollten.“

 

Es waren Aussagen wie diese, die Brasch elektrisierten. Mit jeder Einzelheit, die er dem vermoderten Kriminalfall entriss, wuchs in ihm die Gewissheit, dass er in dem jungen Mädchenmörder jemand gefunden hatte, der eine Art Kunstherz darstellte, das ihn mit ureigenen Impulsen versorgte. Dem Magazin Stern gestand er 1999, dass er die letzten sieben Jahre Krieg geführt hatte. „Krieg mit meiner literarischen Figur und Krieg mit meinem Talent“. Einer der Kriegsschauplätze war San Francisco. „Ich dachte mir, wie Brunke für mich wohl von dort aus aussehen würde,“ sagte er. In San Francisco traf er einen schwarzen Straßenfeger. „Er setze sich zu mir und fragte, warum ich so traurig bin. Ich sagte, ich komme mit einer Geschichte nicht klar. Ich erzählte ihm, dass im Polizeibericht steht, Brunke hätte sich mit einem Bindfaden erhängt. Und wissen Sie, was er geantwortet hat? Vielleicht hat er sich so leicht gefühlt, dass ein Bindfaden ausgereicht hat. Irre, oder?“

 

Es war nicht möglich, Thomas Brasch zu einer kontinuierlichen Schilderung seiner Monsterarbeit zu verleiten. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war zu groß, sie traf ihn wie ein Meteoritenschwarm, den es demütig auszuhalten galt. Er hatte bis zu unserem Treffen mit 282 Menschen über den Fall gesprochen und ihre Vermutungen notiert. Er hatte Prostituierte bezahlt, um Brunke aus deren Sicht kommentiert zu sehen. Er hatte seinem Helden 640 Gedichte geschrieben, die dieser korrigiert zurück schickte, wie er gequält lächelnd anfügte. Er hatte 32 Aussagen von Brunke gefunden, zum Beispiel diese: „Ich verstehe das Aufhebens nicht, das man hier von mir veranstaltet. Ich bin doch nichts anderes, als der misslungene Held eines Hintertreppenromans!“ Thomas Brasch schaute mich an, als schulde er mir eine Erklärung. „In einer meiner Fassungen heißt es: Was bist du anderes, Brunke, als einer der die Hintertreppe hinunterläuft und alle sind hinter dir her und stürzen sich über dich, sodass von dir nichts mehr sichtbar ist. Und du wolltest doch nur über die Hintertreppe ins Freie…“

 

Nach dem Mord an den Mädchen war Brunke laut eigener Aussage fest entschlossen, sich selbst umzubringen. „Der Mut kam mir dann schnell abhanden,“ gestand er vor Gericht, „denn ich hörte in diesem Moment in der Gasse einen Spaziergänger das Wort Mutter sagen. In diesem Augenblick dachte ich an meine Mutter und wollte ihr kein Leid bereiten.“ Hatte Karl Brunke ihn mal gebeten, ihn in Ruhe zu lassen, fragte ich in eine lang anhaltende Stille hinein. „Ja natürlich, klar,“ antwortete Brasch ohne zu zögern, „er war immer fair zu mir. Bereits in seinem ersten Brief hatte er prophezeit, ich würde an diesem Unternehmen scheitern. Er sagte, es gebe keine Hauptfiguren im Leben, was ja auch stimmt. Ich habe versucht, aus der Mücke Brasch einen Elefanten Brunke zu machen oder umgekehrt.“

 

Der Spatz, der für gewöhnlich auf seinem Fensterbrett saß, stieß mit dem Schnabel gegen seinen kleinen Finger, als wollte er ihn an etwas erinnern. „Ich habe mich an dem Phänomen Brunke so richtig müde gedacht und geschrieben“, sagte mein Gegenüber, und erklärte die Arbeit an Mädchenmörder Brunke für beendet. Die 14.000 Seiten, das wusste er, würden niemals erscheinen. Eine Leidenschaft, die einen so voluminösen Auswurf zustande bringt, ist nicht medienkompatibel. Der Suhrkamp Verlag, bei dem Thomas Brasch mit Mädchenmörder Brunke im Wort stand, hatte in seiner Ungeduld 1999 kurzerhand ein 80-seitiges Büchlein unter diesem Titel herausgebracht, was Brasch, wie er sagte, als ungeheure Frechheit empfand, als gezielten Messerstich in ein vibrierendes Herz. Aber es gab eine gebundene Ausgabe vom Mädchenmörder Brunke, er hatte sie selbst hergestellt, es waren vierzehn Bände und sie befanden sich oben bei ihm in der Wohnung. „Ich zeige es Ihnen gern,“ sagte er und entschuldigte sich. Der Spatz folgte ihm. Fünf Minuten später kam Thomas Brasch und reichte mir einen grünen Leinenband, einen von den vierzehn, die bei ihm zuhause lagerten. Ich blätterte darin und stieß umgehend auf die Passage, in der Brunke aus dem Munde eines Passanten das Wort Mutter hörte. Thomas Brasch musste schmunzeln. „Zufälle“ dieser Art waren ihm mit Brunke geläufig.

 

Wir tranken noch einen und schwiegen. Schließlich bedankte ich mich für das Gespräch und da mit entgegengebrachte Vertrauen. „Brunke hats gebracht,“ sagte ich. – „Ja logisch…“ antwortete er und ging. Ich habe noch nie jemanden so unkompliziert verschwinden sehen. Wenige Tage später erfuhr ich, das Thomas Brasch gestorben war. Ich war wohl der letzte Journalist, mit dem er gesprochen hatte. Also bot ich das mit ihm geführte Interview den einschlägigen Kulturredaktionen in diesem Land zur Veröffentlichung an. Vom Spiegel bis zur FAZ, vom Stern bis zur Süddeutschen. Keine Reaktion, nicht eine. Alles was ich zum Tode von Thomas Brasch in unseren Medien fand, war eine vierzeilige Meldung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

 

„Brunke ist ein Buch, in dem man rumblättern muss,“ hatte Thomas Brasch mir verraten. „Das ist nichts, was man von vorne bis hinten lesen kann. Es ist wie eine Kugel, die kein Anfang und kein Ende hat“. Und mit der man ein Genie wie Thomas Brasch zum Schweigen bringen konnte …

 

Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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