Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
„Das Ziel des Schreibens ist es, andere sehen zu machen“,
hat Joseph Conrad (Herz der Finsternis) gesagt. Ich würde noch weiter gehen: das Ziel des Schreibens ist es, sich selbst sehend zu machen. Ich war nie in den Höhen der Alpen unterwegs. Doch, einmal. Da stolperte ich im Engadin einer Gruppe erprobter Wanderer von Maloja nach Sils Maria hinterher, wo Nietzsche zeitweilig gelebt hatte. Den ganzen Weg war ich gezwungen, auf den Boden zu starren, denn als Landei aus der Norddeutschen Tiefebene musste ich meine Schritte behutsam setzen, wenn ich heil ankommen wollte. Die grandiose Landschaft, von der meine Begleiter schwärmten, blieb mir fast vollständig verwehrt.
Nun sind wir Schriftsteller mit etwas ausgestattet, was uns solche Defizite locker ausgleichen lässt. Wir verfügen über die Möglichkeit, die schnöde Realität in ihre Schranken zu verweisen und sie durch eine feinere „Wirklichkeit“ zu ersetzen. Unser Zaubertrick hat einen Namen: FANTASIE!
In meinem Roman FEUER AM FUSS sucht der gehetzte Protagonist Cording Schutz in Innervillgraten, einem kleinen Dorf im Hochtal unweit des Osttiroler Pustertals. „Uns fahlt nicht“ (Uns fehlt es an nichts) steht an der schmalen Zufahrtsstraße ins Innere Villgratental. Soweit ist alles korrekt, das kann man im Internet recherchieren. Schwierig wurde es, als ich beabsichtigte, meinen Helden auf eine lange Wanderung zu schicken, um ihn von dem Gedankenballast zu befreien, der ihn auf seiner Flucht schon eine Weile quälte. Bevor ich ihn also in die Berge entließ, mästete ich meine Fantasie mit Bildern und Videos aus dem WorldWideWeb. Gehen musste Cording alleine. Aber sein Marsch war nicht ansatzweise so beschwerlich wie meiner von Maloja nach Sils Maria. FANTASIE!
Angesichts des stahlblauen Himmels verzichtete Cording darauf, sich wetterfest zu machen, wie es ihm Mike für den Fall geraten hatte, dass er sich auf einen längeren Spaziergang begeben sollte. So stapfte er leicht bekleidet im Rücken des Holz-Palais den Berg hinauf. Ziel seiner Wanderung war der Schwarzsee, der sich eingebettet zwischen Zweitausendern am Ende des Bonner Höhenwegs befand. Drei Stunden würde er bis dahin brauchen. Vermutlich mehr. Denn der schmale, von Geröll übersäte Steig wand sich in Serpentinen den steiler werdenden Hang hinauf und führte zudem durch dichtes Erlengestrüpp, durch Latschen- und Almrosenfelder. Manchmal ging ihm der Weg unter den Füßen ganz verloren, dann orientierte er sich an der blass gewordenen rot-weiß-roten Markierung auf den Findlingen, die ihm in regelmäßigen Abständen die Richtung wiesen. Früher als erwartet musste er innehalten. Er stützte die Hände auf die Knie und lauschte seinem rasselnden Atem. Die Zeiten, da er solche Herausforderungen noch voller Energie gemeistert hatte, waren längst vorbei. Er legte sich abseits des Pfades ins Gras und suchte in den heranfliegenden Wolkenformationen nach Gesichtern und Tiergestalten. Aber da war nichts, was seine Fantasie hätte beflügeln können und so kam er sich mit seiner nichtigen Trübsal vor wie ein Wagen ohne Räder am Rande der Wirklichkeit.
Nach einigen Minuten berappelte er sich wieder und setzte die beschwerliche Wanderung fort. Irgendwann versperrte ihm ein grob gezimmertes, wackeliges, zwei Meter breites Holzgatter den Weg, das man aber links und rechts bequem passieren konnte. Der Sinn dieses Gatters mochte sich ihm nicht erschließen, es stand einfach da, als wollte es den Wanderer daran erinnern, dass er sich noch lange nicht außerhalb der Zivilisation befand. Cording nutzte das klapprige Holzgestell, um sich darauf abzustützen und kräftig durchzuschnaufen. Dann hob er die Drahtschlaufe an, mit der das Gatter am rechten Pfosten befestigt war, und ging hindurch. Je höher er stieg, desto niedriger und widerborstiger wurde der Bewuchs. Er setzte seine Schritte jetzt sehr behutsam, denn die Gefahr, auf einem versteckten, mit Flechten übersäten Felsbrocken auszurutschen und sich die Gräten zu brechen, war groß. Den eigenen Füßen dabei zuzusehen, wie sie sich durch ein tückisches, scharfkantiges Geröllfeld arbeiteten, hatte etwas Meditatives. Er musste an die tibetischen Tranceläufer denken, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit und im höchsten Tempo über größte Entfernungen durch unwegsames Gelände bewegten, als hätten sie Sensoren an den Sohlen. Ihre magischen Fähigkeiten hatten diese Männer, die als Boten in die entfernten Teile Tibets unterwegs gewesen waren, durch jahrelanges geistiges Training erreicht. Die Unterwerfung der Materie unter den Geist, das war das Ziel. Und es hatte funktioniert!
Was sind wir doch für degenerierte Stümper, dachte Cording, der dennoch froh war, dass er auf seiner Wanderung zu einer gewissen Sicherheit gefunden hatte. Das ansehnliche Tempo, das er nun vorlegte, korrespondierte mit seinem Atem und je länger er unterwegs war, desto leichter schien es ihm zu werden. Hier oben war nichts mehr zu spüren von der Tyrannei der Gefühle, die der Gedanke an Maeva in ihm seit Jahren auslöste. Hier oben verlangte niemand Rechenschaft von ihm, nicht einmal er selbst. Und Gott? Der hatte andere Dinge zu tun, der malte gerade den Himmel tiefblau an. Er zog sogar den Vorhang auf für ihn.
Da lag er, der See. Rundum eingerahmt von einer felsgrünen Wand. Ein abgefüllter Mondkrater, dessen gebügelte Oberfläche dem Himmelblau gestattete, sich in seinem Teeranstrich zu spiegeln. Cording hockte sich hin. Die Stille überwältigte ihn. Er wusste nicht, wie lange er so da saß, die Zeit hatte sich offenbar in die Niederungen verkrümelt, dort wo Menschen wimmelten, wo sie noch etwas zu sagen hatte. Am Schwarzsee jedenfalls war sie machtlos, dort schien sich die Kostbarkeit des Augenblicks ins Endlose zu dehnen. Nur die wandernden Schatten in der grünen Wand zeugten davon, dass sich die Erde noch drehte. Irgendwann leckte der Schatten auch an ihm und erinnerte ihn daran, dass es Zeit wurde, aus seinem erfrischenden, gedankenlosen Zustand aufzuwachen und zu gehen, wenn er nicht in die Dämmerung geraten wollte.
Der Abstieg gestaltete sich einfach, als hätte sich sein Körper jeden Zentimeter des Weges gemerkt. Über das leuchtend grüne Tal war inzwischen ein schattiger Flickenteppich gezogen worden und die warme Luft, die ihn beim Aufstieg umschmeichelt hatte, kühlte merklich ab. In Sichtweite des Dorfes legte er sich noch einmal ins Gras, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Auf diese Weise verlor er sich am besten in seinen Träumereien, die er immer dann bemühte, wenn er nicht denken mochte.
Ein Regentropfen zerplatzte auf seiner Stirn, ein zweiter punktierte den Hals. Die Tropfen fielen jetzt häufiger, sie wurden auch schwerer. Es war ein warmer, angenehmer Regen, der an Wucht jedoch schnell zunahm. Cording streifte das Hemd vom Leib und genoss die feuchten Einschläge auf seiner Haut. Er wunderte sich, wo die türkis schimmernden Berggipfel geblieben waren, die sich eben noch wie eine in Stein gemeißelte Brandung bis zum Horizont erstreckt hatten. Plötzlich wurde er von einem ohrenbetäubenden Knall erschüttert, dessen Echo im alpinen Labyrinth hin- und hergeworfen wurde, als wollte es die von schwarzen Wolken verdeckte Landschaft akustisch kartografieren. Ein Blitz stach herab und tauchte das gewaltige Panorama für einen Sekundenbruchteil in gleißendes Licht. Andere folgten. Ihre gewaltigen Donnerschläge zerbarsten krachend in der Luft und purzelten lärmend ins Tal. Taubeneier große Hagelkörner platterten vom Himmel, als hätte jemand einen Reißverschluss geöffnet. Innerhalb kürzester Zeit waren der Weg und die Wiese, waren Büsche und Sträucher unter einer glasierten Schicht begraben. Cording breitete die Arme aus und brüllte aus Leibeskräften gegen das Inferno an. Als sich das Gewitter schließlich winselnd verkroch, war von seiner Stimme nur noch ein heiseres Krächzen übrig. Völlig durchnässt und erschöpft machte er sich wieder auf den Weg. Sein Haus war nicht den Hang hinunter gerutscht und die Zwiebel auf dem Kirchturm von Innervillgraten glitzerte bereits wieder in der Sonne.
PS: SCHREIBEN. Was hat Mark Twain darüber gesagt? „Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.“
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystopische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: karamysh / shutterstock
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