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Eine Weihnachtsgeschichte | Von Dirk C. Fleck

Eine Weihnachtsgeschichte | Von Dirk C. Fleck

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Den ganzen Tag über hatten die Bäume in der milden Wintersonne versucht, sich der schweren Schneelast zu entledigen, die ihnen ein plötzlicher Sturm auferlegt hatte. Vergeblich, erst recht, da die einbrechende Nacht dem Frost wieder Zugriff gewährte.

Es war dunkel, als er bei ihr klingelte. Er hatte sie lange nicht gesehen, zu lange, wie er sich schuldbewusst eingestand. Fast wäre sie in seiner Erinnerung bis zur Unkenntlichkeit verblasst, wenn sie nicht über diesen Wesenszug verfügte, den er bei keinem anderen Menschen derart ausgeprägt erlebt hatte. Es war ihr heiterer Optimismus, mit dem sie dem Leben ins Gesicht lachte. Natürlich erinnerte er sich bei Bedarf an ihre bezaubernde Gestalt, die strahlenden Augen, das milde Lächeln… „Hör auf zu schwärmen“, wies er sich zurecht, „du hast es vermasselt. “

Sie freute sich ihn zu sehen und erzählte ohne Umschweife die Geschichte eines groß angelegten Betrugsmanövers, das man an ihr ausprobiert hatte. Ihre Stimme hatte diesen rauen Schmelz und schien direkt aus jenen Tiefen zu kommen, zu denen ihre dunklen Augen leiten wollten.

„Madame“, unterbrach er lächelnd und nach angemessener Zeit ihre schön klingende Rede, „wie stelle ich es an, Sie zu berühren?“ Er hatte sie immer Madame genannt, es war Teil eines galanten Spiels, dass sie sich gegönnt hatten. Sie stutzte. Dann lachte sie und fiel ihm um den Hals. „Ich hol uns etwas zu trinken“, flüsterte sie und fuhr ihm durchs Haar. Bevor sie aus dem Haus ging, drückte sie ihm ein Piratenbuch in die Hand, damit er sich nicht langweilte. Im Radio spielten sie „Stille Nacht“, die rothaarige Katze rekelte sich auf dem Fensterbrett und der Mond ließ sich auf der Kirchturmspitze nieder.

Er schlug das Buch auf und betrachtete die verwegenen Symbole der Freibeuter: gekreuzte Schwerter, Totenköpfe, Skelette mit Sanduhren auf schwarz-rotem Grund. Eines gefiel ihm besonders gut. Es zeigte einen weißen Teufel mit Speer, der direkt auf ein rotes Herz gerichtet war, das in einer Weintraube steckte.

Unter den skeptischen Blicken der Katze nahm er einen Keks aus der Schale, blätterte weiter und las: „Mit todverkündendem Gebrüll kamen die beiden Piraten durch den Rauch der Kanonen getobt, schwangen ihre Entermesser und zerschnitten die Luft mit ihren schrillen Schreien und Flüchen. Keiner ihrer Schiffskameraden von Käptn Jack Rackhams Piratenbesatzung, die an jenem Oktobertag 1720 vor der jamaikanischen Küste an Bord des glücklosen Handelsschiffes strömte, spielte sich furchterregender auf. Es war etwas Eigenartiges an diesen Satansbraten in Jacken und langen Hosen. Ein aufmerksamer weiblicher Passagier des Handelsschiffes fand es heraus: »Von der Größe ihrer Brüste her hielt ich sie für Frauen«, berichtete Dorothy Thompsen später. Das waren sie auch, und als Rackham und seine Leute einen Monat später gefangen genommen wurden, sagte Mrs. Thompsen gegen die verwegenen Amazonen aus.“

Die Katze hatte ihren Fensterplatz verlassen und sprang ihm auf dem Schoß. Er kraulte ihren Nacken, als sein Blick auf ein doppelseitiges Gemälde fiel, das einen Mann in abgewetzter Kleidung am leeren Strand einer mit Palmen bewachsenen Insel zeigte. Er kauerte im Sand und starrte aufs Meer. Das Bild trug den Titel „Warten auf den Tod“. Der Maler hatte auf eindrucksvolle Weise die stillen Qualen eines Ausgesetzten nachempfunden.

Er legte das Buch beiseite und ging mit der Katze im Arm ans Fenster. Aus den nahe gelegenen Docks spritzten Funken, die sich zitternd im Wasser spiegelten. Bevor er gleich in Versuchung geriet, sich mit Rotwein zu betäuben, griff er zum Lippenstift und schrieb seiner Freundin einen Gruß auf die Scheibe: „ES STEHT GESCHRIEBEN!“

Den Rest der Nacht wanderte er am Fluss entlang und versuchte herauszufinden, was er damit wohl gemeint haben mochte. Dabei fiel ihm ein Gedicht von Rilke ein. Es war Heiligabend, außer ihm befand sich kein Mensch im Park oberhalb des Flusses. Er wischte den Schnee von der Bank und setzte sich.

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seinen Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…

Hatte er die Zeilen gedacht oder laut gesprochen? Egal, es war eh keiner im Park außer ihm.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Guschenkova / shutterstock


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