Ein Meinungsbeitrag von Günther Burbach.
Wenn die Geschichte dieses Jahrhunderts eines Tages geschrieben wird, dann nicht in den Archiven der Parlamente, nicht in den Memoiren von Ministern, sondern in den Schattenbibliotheken der Serverfarmen. In digitalen Katakomben, geschützt von den stärksten Verschlüsselungen und den loyalsten Männern der Macht. Dort liegt das wahre Gedächtnis der Welt. Und mit ihm ein Werkzeug, das stärker ist als jede Waffe: Kontrolle über Information. Kontrolle über Menschen. Kontrolle über Staaten.
In diesen Tagen tauchten sie wieder auf, die „Epstein-Files“. Namen, Orte, Datumsangaben. Fragmente einer kriminellen Parallelwelt, in der Minderjährige zur Handelsware wurden und Milliardäre mit Präsidenten in der Karibik Sekt tranken. Es sind keine neuen Enthüllungen. Schon vor Jahren hätten diese Dokumente das Potenzial gehabt, das System in Brand zu setzen. Aber sie taten es nicht. Denn sie wurden zurückgehalten, gedeckelt, geschwärzt. Warum? Weil sie Macht bedeuteten. Und weil jemand entschied, dass diese Macht noch gebraucht würde.
Der Fall Epstein ist kein Einzelfall. Er ist ein Symbol. Für ein System, das längst nicht mehr der Öffentlichkeit verpflichtet ist, sondern einer stillen Logik folgt: Wir veröffentlichen nur das, was uns nützt. Alles andere bleibt im Safe. Diese Safes stehen nicht in Redaktionen. Sie stehen in den Behörden, in den Geheimdiensten, in der Nähe jener Orte, die nicht gewählt, aber über Jahrhunderte etabliert wurden: Langzeiteliten, Netzwerke, Sicherheitsapparate. Und sie haben sich Zugang verschafft zu den tiefsten Schichten unseres digitalen Lebens.
Die NSA, einst geschaffen zum Schutz amerikanischer Interessen, ist heute das größte Informations-Monopol der Menschheitsgeschichte. Edward Snowden sprach davon, dass man „praktisch jede Kommunikation“ abgreifen könne. PRISM, XKeyscore, Boundless Informant, kryptische Namen für ein System, das den globalen Datenfluss wie ein Netz durchzieht. Über Glasfaser-Knotenpunkte, Unterseekabel, Satellitenverbindungen. Wer glaubt, WhatsApp-Verschlüsselung oder VPNs seien Schutz, hat das Spiel nicht verstanden. Der Schutz funktioniert nur, solange jemand es will.
Was tun Geheimdienste mit diesen Daten? Sie beobachten. Analysieren. Filtern. Und sie speichern. Für den richtigen Zeitpunkt. Für eine Gelegenheit. Für einen Druckpunkt. In einer idealen Welt wäre das der reine Selbstschutz gegen Terror und Krieg. In der realen Welt ist es ein Mechanismus der Machterhaltung. Wer Zugriff hat, kann Karrieren zerstören. Wer weiß, wer wann wo war, mit wem, in welcher Stimmung, hat alles, was er braucht, um zu lenken, zu steuern, zu schweigen.
Deshalb ist es nicht naiv, sondern notwendig zu fragen: Wer entscheidet, was freigegeben wird? Wer hält die Schlüssel zu diesen Datenbunkern? Wer hat entschieden, dass gewisse Namen auf Epsteins Liste nie erscheinen dürfen? Wer sorgt dafür, dass gewisse Videos nicht in Journalistenhände gelangen, obwohl sie längst existieren? Es sind nicht die wechselnden Regierungen. Es sind nicht demokratisch gewählte Instanzen. Es sind Strukturen, die bleiben, wenn Präsidenten gehen. Es sind Männer in Uniformen ohne Rangabzeichen, Netzwerke aus Pentagon, Wall Street und Langzeitdiensten, ihre Loyalität gilt nicht dem Wähler, sondern der Stabilität. Und diese Stabilität heißt: Kontrolle um jeden Preis.
Ein Kanzler kommt und geht. Ein Verteidigungsminister wird nach ein paar Jahren abgelöst. Doch die Daten bleiben. Der Zugriff bleibt. Die Struktur bleibt. Die Geschichte des digitalen Zeitalters ist deshalb nicht mehr die Geschichte von Staaten, sondern von Plattformen und Protokollen. Und in der Mitte dieser Infrastruktur sitzt eine Hand, unsichtbar, ungewählt, unantastbar. Wer dieser Hand zu nahe kommt, verschwindet. Wer sie ignoriert, lebt in einer Illusion. Und wer glaubt, dass man ihr durch Wahlen die Macht nehmen kann, hat nicht verstanden, wie sich Macht heute organisiert.
Wir sehen heute, wie das Spiel gespielt wird. Die Freigabe der Epstein-Dokumente wird nicht zur Aufklärung führen, sondern zur politischen Waffe. Gegen Gegner, gegen Rivalen, zur Ablenkung. Das Timing ist kein Zufall. Die Inhalte sind selektiv. Die Botschaft ist klar: Wir haben mehr. Und wir zeigen es, wenn wir wollen. Das ist kein demokratischer Rechtsstaat. Das ist Informationskrieg gegen die eigene Bevölkerung.
Deshalb ist die Frage nicht mehr: Wer schützt uns vor Terroristen? Sondern: Wer schützt uns vor den Informationshütern selbst? Wer kontrolliert die Kontrolleure? Wer kann heute noch garantieren, dass Richter, Journalisten oder Parlamentarier nicht längst Teil des Spiels geworden sind, aus Angst, aus Druck, aus Erpressung? In einer Welt, in der die NSA weiß, wer wann mit wem geschlafen hat, braucht es keine Gefängnisse mehr. Nur Speicherplatz.
Wir müssen reden. Über eine neue Form der Macht, die mit keiner Ideologie, keiner Partei, keinem Staat mehr identisch ist. Eine Macht, die sich selbst schützt, indem sie andere erpressbar macht. Eine Macht, die auf Knopfdruck Karrieren beenden und Demokratien destabilisieren kann. Eine Macht, die nicht mehr sichtbar ist, weil sie digital geworden ist.
Und wir müssen handeln. Nicht mit Pathos. Sondern mit Aufklärung. Mit Schutz für Whistleblower. Mit echten Parlamentsausschüssen, nicht PR-Veranstaltungen. Mit investigativem Journalismus, der nicht vor Namen zurückschreckt. Mit Öffentlichkeit. Und mit Mut.
Denn wenn wir diesen Kampf nicht führen, wird es niemand für uns tun.
Quellen und Anmerkungen
Epstein-Dokumente & politische Zurückhaltung
(1) Time Magazine – Epstein und der Kongressstillstand
https://time.com/7304655/jeffrey-epstein-mike-johnson-trump/
(2) Washington Post – Trump, Justizministerium und Epstein-Freigaben
https://www.washingtonpost.com/national-security/2025/07/23/trump-doj-epstein-files-political-fallout/
(3) Reuters – Kongress-Rebellen beenden Sitzungen wegen Epstein-Streit
https://www.reuters.com/world/us/epstein-files-fight-leads-us-house-republicans-start-summer-break-day-early-2025-07-22/
(4) U.S. Department of Justice – Offizielle Epstein-Freigabemitteilung
https://www.justice.gov/opa/pr/attorney-general-pamela-bondi-releases-first-phase-declassified-epstein-files
NSA und globale Überwachung
(5) The Guardian – XKeyscore und Massenüberwachung
https://www.theguardian.com/world/2013/jul/31/nsa-top-secret-program-online-data
(6) Wikipedia – PRISM (NSA-Überwachungsprogramm)
https://en.wikipedia.org/wiki/PRISM
(7) Wikipedia – Room 641A: NSA-Abhörzentrum bei AT&T
https://en.wikipedia.org/wiki/Room_641A
(8) Electronic Frontier Foundation – Nachruf auf Mark Klein, NSA-Whistleblower
https://www.eff.org/deeplinks/2025/03/memoriam-mark-klein-att-whistleblower-about-nsa-mass-spying
(9) NSA Archive – Strategische Direktiven des US-Geheimdiensts
https://nsarchive2.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB436/
(10) Guardian Interactive – Snowden Files entschlüsselt
https://www.theguardian.com/world/interactive/2013/nov/01/snowden-nsa-files-surveillance-revelations-decoded
(11) Ohio State University – Analyse der Snowden-Effekte (PDF)
https://kb.osu.edu/bitstreams/8c9d191d-5293-53a9-b305-619582f42b36/download
(12) Spyscape – Liste der Snowden-Enthüllungen über NSA-Tätigkeiten
https://spyscape.com/article/15-top-nsa-spy-secrets-revealed-by-snowden
(13) Wired – Über Mark Klein und NSA-Zugriff auf die Backbone-Technik
https://www.wired.com/2013/06/nsa-whistleblower-klein/
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: moderne Serverfarm
Bildquelle: gualtiero boffi / shutterstock
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