Lyrische Beobachtungsstelle

Die leblose Mehrheit | Von Paul Clemente

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Zum Kinostart von „Mastermind“

“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Wie halten Menschen das bloß aus? Dieses Hamsterrad. Das tägliche Jagen im Kreis. Von morgens bis Mitternacht. Endloses Sorgen und Geschufte. Zur Sicherung der Existenz, zur Deckung des Nötigsten. Die meisten werden klein geboren, und ebenso klein sterben sie. Gibt es für das Gros der Menschen eine reale Chance, dieser Monotonie zu entkommen? Lässt sich ein Ausweg finden? Solche Fragen stellen sich keineswegs nur linke Soziologen. Sondern auch Menschen, die keine Sprache, keine Ausdrucksform haben für ihr Leid. Und wenn der Frust-Stau sich in einem blutigen Amoklauf entlädt? Dann ziehen alle eine dumme Visage und fragen „Warum?“. Viel rätselhafter ist doch die Frage: Wie ertragen Millionen andere Bürger ihre Zombie-Existenz, ohne durchzuknallen? Weshalb lassen sich Menschen so viel gefallen? Egal, ob von Gott, von politischen Machthabern oder der Upper-Class. Was schützt sie vor dem Durchbrennen ihrer Sicherung? All diese Fragen führen direkt zu „Mastermind“, dem neuen Kinofilm von Kelly Reichardt.

Schauplatz ist ein mittelgroßes Kaff im US-Staat Massachusetts. Wir schreiben das Jahr 1970. Auch hier köcheln soziale Unruhen. Allerdings auf Sparflamme: Die Demos gegen Vietnamkrieg, Rassismus und Frauenunterdrückung locken nur eine Handvoll Aktivisten an. Vielleicht 20 Personen. Mehr nicht. Revolte im Taschenformat. Im Radio hört man die Antwort der Nixon-Regierung: Die Forderungen der Bürgerrechtler? Darauf gibt Washington nicht einmal einen Furz.  

Aber der Schwerpunkt von „Mastermind“ liegt nicht auf der Protestkultur. Stattdessen fokussiert Reichardt eine Form des Elends, das sich nicht in politische Formeln quetschen oder verschlagworten lässt. Mit diesem „namenlosen“ Elend ist der Tischler James Blaine Mooney belastet. Okay, er ist arbeitslos. Aber hat eine Frau, die ihn zumindest nicht hasst. Hinzu kommen zwei Söhne. Die Rente seines Vaters, eines ehemaligen Richters, sowie der Job seiner Frau garantieren finanzielle Absicherung. Furchtbar sind lediglich die Monologe des Vaters beim Abendbrot. Also, alles okay? Nein, eben nicht. Mooneys Leben ist ein Geplätscher ohne Höhepunkt. Ohne Spontanität. Ohne Lebendigkeit. Und in dieser Tretmühle träumt Mooney vom Glück. Und mag es noch so bescheiden sein.

Nein, den Demonstranten schließt er sich nicht an. Deren Anliegen sind nicht die seinigen. Menschen wie Mooney haben keine Vertretung. Weder im Parlament noch auf der Straße. Das Leiden am unerfüllten Leben geht in aller Stille vor sich. Niemand empört sich über eine Existenz ohne Highlights.

Ebenso wenig mutiert Mooney zum Terroristen oder Amokläufer. Er ist kein Eiskalter. Ebenso wenig ein Feuriger. Er will lediglich etwas mehr als pures Minimum. Ein paar Fünkchen Glamour. Also plant er einen Kunstraub. In der Stadt gibt es ein schlecht besuchtes Museum. Das will er um vier Werke von Arthur Garfield Dove erleichtern. Für diesen Coup engagiert Mooney zwei weitere Prekarier. Als die ihn fragen, wie er die Beute monetarisieren will, weicht Mooney aus. Er weiß es selber nicht.

Manche Kritiker haben „Mastermind“ als „Heist-Movie“ bezeichnet. Das sind Thriller, die Vorbereitungen zu einem großen Coup zeigen. Oft bis ins kleinste Detail und mit hoher Spannungsdosis. Berühmtes Beispiel: „Der Anderson Clan“ mit Sean Connery. Konträr dazu steht Reichardts „Mastermind“: Mooneys Planungen lassen nur eins erahnen: Dieser Dilettanten-Coup wird gewaltig schiefgehen. Und genauso kommt es auch. Zumindest gelingt dem Trio die Flucht.

Der Gemälde-Raub sorgt für Schlagzeilen. Endlich was los im stillen Örtchen. Vor allem: Die gestohlenen Bilder, im Museum bislang unbeachtet – jetzt werden sie gehypt. Nein, Kunstraub ist kein Kavaliersdelikt! - erklärt ein Detektiv mit todernster Miene. Wenige Tage nach dem Coup wird einer von Mooneys Kumpanen verknackt. Und beginnt sofort zu singen. Auch den Namen seines Auftraggebers...

Die aus Miami stammende Independent-Regisseurin Kelly Reichardt belegte während ihres Studiums auch Kurse zum Werk von Rainer Werner Fassbinder. Und genau daran erinnert „Mastermind“: An frühe Fassbinder-Filme wie „Warum läuft Herr R. Amok“. 1970 gedreht, also in jenem Jahr, in dem auch „Mastermind“ spielt. Auch Fassbinders Anti-Held Herr R. versucht einen Ausbruch aus dem Mittelmaß. Sogar Reichardts Ästhetik ist am frühen Fassbinder orientiert: Einfache Kameraeinstellungen und farblich so vergilbt wie ein fünfzig Jahre altes Polaroid. 

Gemessen an klassischen Hollywood Gangsterdramen ist „Mastermind“ ein kompletter Querschläger: Mooney ist kein Held. Aber er ist ebenso wenig ein Anti-Held. Ihm fehlt jegliches Charisma. Null Ausstrahlung. Dazu noch ängstlich, linkisch. Klassische Hollywood-Gangster laden zur Identifikation, zur Romantisierung ein: Al Capone, Maschine Gun Kelly, Bonnie und Clyde: Die nehmen sich einfach, was die Gesellschaft ihnen verwehrt. Sie betteln nicht, fordern nicht, fragen nicht um Erlaubnis. Und die Sheriffs? Mit denen spielt der Profi-Gangster Katz und Maus. Zwar bezahlt er das Spiel mit seinem Leben - aber wenigstens hatte er eins.

Im Gegensatz dazu Mooney. Als die Polizei ihn aufsucht, ausfragt, wird er verlegen, stammelt, weiß nicht so recht. Er verschanzt sich hinter der Autorität seines Vaters. Er rückt nah an die Hilflosigkeit von Charlie Chaplins Tramp oder dem frühen Woody Allen. Bizarre Schauplätze unterstreichen diese Tendenz: Wenn Mooney seine Kunstbeute beispielsweise in einem Schweinestall verstecken muss. Aber: So komisch sich das anhört, im Film vermittelt es Bitterkeit.

Und Mooneys Umfeld? Ist um keinen Grad besser. Zum Beispiel Terri, seine Ehefrau: Nach einer polizeilichen Razzia im Familienhaus ist sie geschockt, wendet sich von ihm ab. Obwohl von mäßig bezahlter Arbeit gestresst, glaubt sie an die bestehende Ordnung – auch wenn sie davon kaum profitiert. Ähnliches erfährt Mooney bei seinem alten Kumpel Fred, bei dem er Unterschlupf sucht. Der ackert ganztägig auf der Farm, aber sein Häuschen ist schäbig. Heruntergekommen. Nein, Leistung lohnt sich nicht. Dennoch fordert seine Frau: Mooney müsse das Anwesen verlassen. Motto: Wir sind zwar chancenlos, aber mit Kriminellen haben wir nichts zu tun… Besonders auffallend in diesem Film ist die völlige Abwesenheit von Erotik. Keinerlei Begehren. Paare sind lediglich Arbeits-Teams. Nicht mehr.

Wir fassen zusammen: „Mastermind“ zeigt eine Welt, in der das Gros der Menschen sich als „born loser“, als geborene Verlierer durchschlägt. Selbst, wenn sie protestieren, wenn sie Revolte planen, wenn sie durch Diebstahl die Güterverteilung zu ihren Gunsten korrigieren wollen – es funktioniert nicht. Sie wurden und werden zu Sklaven programmiert. Durch Eltern, Schule und Medien. Versuchen sie diese Programmierung zu überwinden, bekommen sie Angst. Und die Herrschende wissen das.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Kunstdiebstahl. Gefährlicher Verbrecher mit einer schwarzen Maske, die ein wertvolles Bild auf dunklem Hintergrund stiehlt

Bildquelle: antoniodiaz / shutterstock 


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