Das gefährliche Spiel mit der Eskalation
Ein Meinungsbeitrag von Wolfgang Effenberger.
Im aktuellen Konflikt in der Ukraine scheint es zwar vordergründig um die Ukraine zu gehen, doch die Aktivitäten von USA, EU und NATO zielen seit 1999 auf eine Neuordnung Europas ab; die US-Langzeitstrategie TRADOC 525-3-1 von September 2014 „Win in a Complex World 2020-2040“ sogar auf die ganze Welt.(1)
Am 21. September, sechs Tage nach Gesprächen mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, hielt Putin seine Rede zur Teilmobilmachung. Darin warnte er den "kollektiven Westen":
„Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.”(2)
Putin sprach die aggressive Politik einiger westlicher Eliten an, die mit allen Mitteln versuchen, ihre Vorherrschaft aufrechtzuerhalten. Dazu würden sie anderen Ländern und Völkern ihren Willen grob aufzuzwingen und ihre Pseudowerte einpflanzen. Das Ziel dieses Westens sei es,
„unser Land zu schwächen, zu spalten und letztlich zu zerstören. Sie sagen bereits direkt, dass es ihnen 1991 gelungen sei, die Sowjetunion zu spalten, und dass es nun an der Zeit sei, dass Russland selbst in eine Vielzahl von Regionen und Gebieten zerfällt, die tödlich miteinander verfeindet sind. (...) Sie haben die totale Russophobie zu ihrer Waffe gemacht und jahrzehntelang gezielt den Hass auf Russland geschürt, vor allem in der Ukraine, für die sie das Schicksal eines antirussischen Brückenkopfes vorgesehen haben. Und sie haben das ukrainische Volk zu Kanonenfutter gemacht und es in den Krieg mit unserem Land getrieben.“(3)
Nur wenige Stunden später ging US-Präsident Biden in der Generaldebatte der UN-Vollversammlung auf Putins Rede ein und warnte vor einem Krieg mit Atomwaffen.
Biden warf Russland vor, die Ukraine mit seinem schamlosen Verstoß gegen die UN-Charta vernichten zu wollen.(4) Doch 23 Jahre zuvor, am 24. März 1999 verstießen die USA mit ihrem völkerrechtswidrigen Angriff auf Restjugoslawien – es gab kein UN-Mandat – ebenso schamlos gegen die UN-Charta.
Unmissverständlich stellte damals Altkanzler Helmut Schmidt am Ende der ersten Kriegswoche fest:
„Gegängelt von den USA, haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen missachtet“(5).
Das bestätigte später der damals verantwortliche Kanzler Gerhard Schröder: Er selbst habe im Jugoslawien-Krieg auch gegen das Völkerrecht verstoßen.
„Da haben wir unsere Flugzeuge […] nach Serbien geschickt und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte“.(6)
Diese ehrliche Aussage von Schröder zeigt, mit welchen Doppelstandards und welcher Kriminalität der sogenannte „Wertewesten“ seine strategischen und politischen Interessen durchsetzt. Und der US-Politologe und Kriegsforscher Professor Daniel Kolko schrieb nach dem Krieg:
„Für die USA ging es darum, militärische Macht zu demonstrieren und ihre Vormachtstellung in der NATO auszubauen.“(7)
Der Jugoslawienkrieg ersetzte das Völkerrecht durch das »Recht der Mächtigen«.
Um künftig ohne UN-Mandat Kriege führen zu können, verabschiedeten die USA auf ihrem Gipfeltreffen im April 1999 in Washington zusammen mit den Staats- und Regierungschefs der NATO das neue Strategische Konzept des Bündnisses, die neue NATO-Strategie MC 400/2 (8), in der die Kriseninterventionsrolle auch ohne UN-Mandat (9) dauerhaft verankert wurde. Damit wurde auch neues Völkerrecht geschaffen. Die Vereinten Nationen sind dadurch obsolet geworden – es regiert das Faustrecht. Unter dem Deckmantel „Humanitäre Interventionen/Migrationsbewegungen/ Ressourcensicherung“ führen die USA seither ihre Kriege ohne UN-Mandat, wie z.B. der Krieg gegen Afghanistan. Bis heute gibt es keinen Hinweis auf eine Teilnahme Afghanistans am Terroranschlag von 9/11. Der einzige Grund, warum die USA nach nur 27 Tagen – ohne jegliche Beweise – Krieg gegen Afghanistan führten, war der Vorwurf Washingtons, die Taliban hätten nicht schnell genug den mutmaßlichen Verantwortlichen, den Saudi Osama bin Laden, ausgeliefert. Der damalige Senator des beliebten US-Steuerparadieses Delaware (1973–2009) Joe Biden – hier sind mehr als eine Million Unternehmen registriert, darunter 64 Prozent der 500 weltweit größten börsennotierten Konzerne (10) – forderte mehr Bodentruppen im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Afghanistan,(11) ein Land, von dem keine Bedrohung für die USA ausging.
Bereits zwei Tage nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 befand sich die westliche Wertegemeinschaft im kollektiven Verteidigungsfall, im sogenannten »Krieg gegen den Terror«. Schon Ende September 2001 hatte das Pentagon die Zerstörung der Länder Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan & Iran beschlossen – NATO und EU leisteten Schützenhilfe unter dem Deckmantel „Wahrung der Menschenrechte“.
In Libyen und Afghanistan hat die NATO nur verbrannte Erde hinterlassen.
Um diese Kriege überhaupt zu ermöglichen, hatte US-Präsident George W. Bush im September 2002 eine neue „Nationale Sicherheitsstrategie“, die sog. Doktrin des „präemptiven Krieges“ erlassen.
In seinem Begleitschreiben zu dieser Doktrin erläutert Bush die Mittel, die zu ihrer Bekämpfung eingesetzt werden sollen. Insbesondere schreibt er:
„... als eine Angelegenheit des gesunden Menschenverstandes und der Selbstverteidigung wird Amerika gegen [solche] aufkommenden Bedrohungen vorgehen, bevor sie voll ausgebildet sind.“ (12)
Für Angriffskriege reicht seitdem eine gefühlte Bedrohung aus – wie beim Bethlehemer Kindermord.
Diese neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ muss als Beleg für die Entschlossenheit der USA zu einer weltweiten Hegemonialpolitik gesehen werden. Ein amerikanischer Internationalismus, der unter dem Mantel „Amerikanische Werte“ vor allem geopolitische und wirtschaftliche Interessen verfolgt.
Vor dieser Entwicklung zur Entmachtung der UN mutet Bidens Appell an die Weltgemeinschaft auf der Generaldebatte der UN-Vollversammlung sehr verwunderlich an:
"Wer auch immer Sie sind, wo auch immer Sie leben, was auch immer Sie glauben, das sollte Ihnen das Blut in den Adern gefrieren lassen." Niemand habe Russland bedroht. Niemand anderes als Russland habe den bewaffneten Konflikt gesucht. (13)
Wie soll der Konflikt jemals angesichts einer derartigen Realitätsverweigerung beendet werden können?
Der ehemalige CIA-Analyst Ray McGovern, heute Mitglied der Lenkungsgruppe von Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS), unterstützt in seinem aktuellen Artikel die Aussage von Professor John Mearsheimer, der in der Herbstausgabe 2014 von Foreign Affairs (Hauspostille des einflussreichen Council of Foreign Relations) erklärt hatte, „Warum die Ukraine-Krise die Schuld des Westens ist“. (14)
McGovern sieht in der 2016 erfolgten Aufstellung von antiballistischen Raketen in Rumänien und Polen, die über Nacht für offensive Angriffsraketen umgerüstet werden können, eine Bedrohung für Russlands Atomstreitkräfte. Er sieht darin auch eine direkte Parallele zur Kubakrise von 1962, als Moskau Offensivraketen auf Kuba stationierte und Präsident John F. Kennedy scharf auf die existenzielle Bedrohung reagierte, die dies für die USA darstellte.
Nun ist Washington dabei, Europa in einen Konflikt mit Russland zu zwingen.
Auf dem NATO-Gipfel in Newport/Wales vom 4. und 5. September 2014 – ein halbes Jahr nach dem vom Westen orchestrierten Putsch in der Ukraine – hieß es in derSchlussakte des Gipfels:
„Unsere Allianz sucht keine Konfrontation mit Russland. Aber wir können und wollen nicht Kompromisse eingehen, die unseren Prinzipien widersprechen und die Sicherheit in Europa und Nordamerika gefährden“ (15).
Auf dieser Basis wurde der „NATO Readiness Action Plan“ samt Verstärkung der NATO-Präsenz an der Ostflanke des Bündnisses beschlossen. Im gleichen Monat trat die Langzeitstrategie TRADOC 525-3-1 „Win in a Complex World 2020-2040“ in Kraft. Darin wurden die US-Streitkräfte angewiesen, die von Russland und China ausgehende Bedrohung abzubauen. Das alles unter US-Präsident Barack Obama und seinem Vize Joe Biden!
Am 21. Oktober 2021 titelte die Süddeutsche Zeitung:
„NATO rüstet sich für Konflikt mit Moskau“ (16).
Zwei Wochen später wurde das 56. US-Artilleriekommando im Raum Wiesbaden reaktiviert – ein Großverband mit nuklear bestückbaren Hyperschall-Langstreckenraketen vom Typ "Dark Eagle".
Ab dem 15. Dezember 2021 bat die Russische Föderation mit Briefen an die USA und die NATO um eine Sicherheitsgarantie. Die Verhandlungen zogen sich hin und blieben ergebnislos.
Inzwischen ging die massive Aufrüstung der Ukraine weiter.
Am 19. Januar 2021 wurde im US-Kongress der „Ukrainian Democracy Defense Land-Lease Act“ eingebracht und später mit nur 10 Gegenstimmen verabschiedet.
Hier werden Erinnerungen an den Land-Lease Act vom September 1940 wach. Dieses Gesetz ermöglichte es damals den neutralen USA, 43 Zerstörer aus dem 1. Weltkrieg – 7 kamen von Kanada – an Großbritannien zu liefern. Das Ergebnis ist bekannt: Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg.
Diese brüderliche Hilfe war keineswegs uneigennützig:
Im Gegenzug musste Großbritannien für 99 Jahre auf den Bahamas, Bermudas, Jamaika, Trinidad sowie Neufundland den USA Stützpunkte überlassen.
Heute sind es riesige Ackerflächen in der Ukraine.
In der Haager Konvention von 1907 ist die Neutralität im Kriegsfall eng definiert. Danach war und ist dieser land-lease-act nicht mit dem Status der USA als neutraler Staat vereinbar. Er taugt durchaus als casus belli, (17) ganz im Sinne der Kreise, die hoffen, in einem dritten Weltkrieg ebenso profitieren zu können, wie in den vorangegangenen.
In seiner ersten außenpolitischen Rede am 5. Februar verkündete Biden „America is back“ und ging auf Konfrontationskurs mit Russland und China.
Umgehend ließ er eine B1-Bomber-Staffel nach Norwegen verlegen.
Biden ist dem militärisch-industriellen Komplex und der CIA zu Diensten und trägt eine aggressive Politik gegen Russland und China mit.
Da das Schmiermittel für Rüstung und Kriege das Geld ist, besetzte Biden wichtige Schaltstellen mit Vertretern der US-Investmentgesellschaften BlackRock und Vanguard.
So funktioniert die Drehtür der US-Kapital-Hegemonie: Von BlackRock in die Regierung, von der Regierung zu BlackRock und wieder zurück.
Es geht vor allem darum, den Reichtum einer Gruppe von Tycoons in der Londoner City und an der Wall Street zu mehren.
Ein Blick auf die aktuellen Finanzströme scheint das zu bestätigen. So scheinen die Finanzeliten in den USA und in Großbritannien wenig Interesse an einer Beilegung des Konflikts zu haben.
Zwei Wochen nach Beginn des russischen Angriffs schrieb der italienische Geopolitiker Manlio Dinucci:
„Wir zahlen jetzt dafür, wir - die Völker Europas - und wir werden immer mehr dafür bezahlen, wenn wir weiterhin geopferte Schachfiguren in der US-NATO-Strategie sind“ (18).
Inzwischen ist die westliche Militärhilfe – vor allem aus den europäischen Ländern - zur Lebensader der ukrainischen Kriegsanstrengungen geworden. Darüber hinaus wird im neuen Report des "European Council on Foreign Relations"(ECFR) – überschrieben mit dem Titel "Survive and Thrive" ("Überleben und Gedeihen") – verlangt, dass die westlichen Staaten ihre direkte Unterstützung für die ukrainische Wirtschaft drastisch aufstocken. Zudem muss die Ukraine ihre Wirtschaft umstrukturieren, um alle verfügbaren Ressourcen für den Krieg zu nutzen. (19) Das zielt auf einen langen Krieg in Europa ab. Es kommt der Verdacht einer Arbeitsteilung auf: Während sich Westeuropa auf das Kampffeld in der Ukraine konzentriert, bereiten sich die USA auf den Konflikt mit China vor- alles im Einklang mit „Win in a Complex World 2020-2040“.
Dazu ergänzend die Einschätzung des U.S. Peace Council: die USA wollen
"...die Osterweiterung der NATO unter ihrer Vorherrschaft fortsetzen, Russland als Konkurrenten auf dem europäischen Energiemarkt zurückdrängen, ihren überhöhten Militärhaushalt damit rechtfertigen und den Verkauf von US-Kriegsmaterial an ihre europäischen NATO-Vasallen sicherstellen. Ein Europa, das auch weiterhin in die EU-Staaten, Großbritannien und Russland aufgespalten ist, nützt nur den imperialen USA.“ (20)
Es wäre äußerst tragisch, wenn Thomas Manns Appell an die Europäischen Hörer 1953 ungehört verhallen würde. Er hatte im amerikanischen Exil die Neigung der USA erkannt,
„Europa als ökonomische Kolonie, militärische Basis, Glacis im zukünftigen Atom-Kreuzzug gegen Russland zu behandeln, als ein zwar antiquarisch interessantes und bereisenswertes Stück Erde, um dessen vollständigen Ruin man sich aber den Teufel scheren wird, wenn es den Kampf um die Weltherrschaft gilt.“ (21)
Für den nüchtern analysierenden Ray McGovern scheint sich der Hoffnungshorizont angesichts der aktuellen Entwicklungen immer mehr zu verengen:
„Wenn nicht auf wundersame Weise klarere Köpfe mit einer weniger verblendeten Haltung gegenüber den Kerninteressen Russlands in der Ukraine und Chinas in Taiwan auftauchen, werden Historiker, die überleben, um den Krieg, der jetzt vor unserer Tür steht, aufzuzeichnen, ihn als das Ergebnis von Hybris und Dummheit beschreiben, die Amok gelaufen sind.“ (22)
Quellenangaben und Anmerkungen:
1) Siehe Wolfgang Effenberger: Geoimperialismus, Kapitel 7 „Ukraine: Rammbock zur Zerstörung Russlands? Rottenburg 2016, S. 210/12
2) Zitiert wie https://www.lpb-bw.de/ukrainekonflikt
4) https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-vollversammlung-biden-ukraine-101.html
5) Schmidt, Helmut, Frankfurter Rundschau, 3./4. April 1999
6) https://www.wsws.org/de/articles/2014/03/14/schr-m14.html
7) Kolko, Daniel: Tagesspiegel, 8. Mai 1999
8) https://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm
9) https://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm
10) https://www.zeit.de/wirtschaft/2013-05/delaware-steuerparadies
11) Siehe Michael Barone: The Almanac of American Politics. University of Chicago Press, Chicago 2007
12) https://www.brookings.edu/research/the-new-national-security-strategy-and-preemption/
13) https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-vollversammlung-biden-ukraine-101.html
14) https://original.antiwar.com/mcgovern/2022/09/21/brainwashed-for-war-with-russia/
16) https://www.sueddeutsche.de/politik/allianz-nato-ruestet-sich-fuer-konflikt-mit-moskau-1.5445998
17) Harald Fock: Z-vor! Internationale Entwicklung und Kriegseinsätze von Zerstörern und Torpedobooten. Bd. 2. Im Zweiten Weltkrieg: 1940–1945. Koehlers Verlagsgesellschaft mbH, Hamburg 2001, S. 301.
18) https://www.voltairenet.org/article216066.html
19) https://ecfr.eu/article/in-europes-gift-how-to-avoid-a-ukraine-forever-war/
20) https://uspeacecouncil.org/u-s-peace-council-statement-on-russias-military-intervention-in-ukraine/
21) Thomas Mann: Deutsche Hörer! Europäische Hörer! Darmstadt 1986, Rückseite.
22) https://original.antiwar.com/mcgovern/2022/09/21/brainwashed-for-war-with-russia/
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Wolfgang Effenberger ist ehemaliger Bundeswehroffizier, der heute als Historiker und freier Autor tätig ist. Effenberger hat Geopolitik am eigenen Leib erfahren. Sie war sein Job. Zu Bundeswehrzeiten erhielt er Informationen über laufende Planungen zum „Atomaren Gefechtsfeld Europa“. Spätestens da wurde ihm klar, dass Geopolitik ein reales Instrument ist, das, wenn man die Bevölkerungen weiterhin derart im Unklaren darüber ließe, stets dazu genutzt würde, einen Keil zwischen sie zu treiben.
Interview mit Wolfgang Effenberger: https://staging.apolut.net/wolfgang-effenberger/ +++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: lassedesignen / Shutterstock.com
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