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Die Anatomie der Staatsräson | Von Anna Zollner

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Standpunkte 20251017 apolut
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Israel: Die Maschine der Unterwerfung

Ein Standpunkt von Anna Zollner.

Hohes Gericht,

die Anklage lautet: ein Staat hat die Kontrolle über ein anderes Volk zur Staatsräson erhoben – und aus seiner Sicherheit ein Dogma gemacht, das keine Grenzen mehr kennt.

Israel, so sagt man, sei die einzige Demokratie des Nahen Ostens. Doch Demokratie endet dort, wo sie zur Besatzungsverwaltung wird. Und Israel ist heute weniger Staat als Maschine – ein Labor, in dem Theologie, Technologie und Gewalt zu einem System verschmelzen, das keine Opposition mehr kennt, nur Störungen.

Die Sprache dieser Maschine wurde 2017 kodifiziert, in einem Dokument, das in seiner Kälte an vergangene Jahrhunderte erinnert. Bezalel Smotrich, damals stellvertretender Vorsitzender der Knesset, nannte es den „Decisive Plan“, den Plan der Entscheidung. Ein Plan, der kein politisches Angebot ist, sondern ein Ultimatum:

„Jegliche nationale Hoffnung der Palästinenser muss ausgelöscht werden.“

Smotrich gab den Palästinensern drei Optionen:

  • 1. das Land zu verlassen,
  • 2. als „geduldete Ausländer“ in Israel zu leben,
  • 3. Widerstand zu leisten – „und dann wird die Armee wissen, was zu tun ist.“

Er ergänzte, nüchtern, wie man in Verwaltungsakten schreibt:

„Nach dem jüdischen Gesetz muss immer eine gewisse Minderwertigkeit bestehen.“

Das ist keine rhetorische Entgleisung, sondern die juristische Sprache eines Systems, das Hierarchie zum Naturgesetz erhebt. Seit diesem Satz ist die Idee des Gleichwerts gestorben. Smotrichs Plan war kein Manifest eines Fanatikers, sondern ein Regierungsentwurf. Er markierte den Moment, in dem religiöse Exegese zur Verwaltungsvorschrift wurde.

Heute, acht Jahre später, heißt derselbe Mechanismus „Verwaltungsreform Westjordanland“. Checkpoints, Straßen, Wasserrechte, digitale IDs – alles in einem Raster neu gezogen. Wer dort lebt, lebt nicht mehr in Territorien, sondern in Datenfeldern. Gaza war Schritt 2.

Schritt 1 war die Spaltung des palästinensischen Widerstands – eine Operation, die Jahrzehnte früher begann. Denn Hamas, jene Organisation, die am 7. Oktober 2023 Israel angriff, wurde in den 1980ern nicht im Untergrund geboren, sondern im Schatten der israelischen Strategie.

Dokumente aus den Archiven der US- und israelischen Nachrichtendienste zeigen, dass Israel islamistische Gruppen damals bewusst duldete – als Gegengewicht zur säkularen PLO. Das Prinzip war alt: teile und herrsche. Eine religiöse Opposition schwächt nationale Einigkeit. Was als taktische Duldung begann, wurde ein politischer Frankenstein: ein Feind, den man selbst erschuf, um ihn später bekämpfen zu können.

Am 7. Oktober wurde dieses Monster zum Vorwand.

An der am besten überwachten Grenze der Welt – mit Sensorzäunen, KI-Überwachung, Drohnen und einem Sicherheitsapparat, der jeden Handy-Ping im Gazastreifen registriert – gelang der Hamas ein Angriff, der technisch unmöglich schien. Tausende Kämpfer drangen gleichzeitig ein, über Stunden, mit Lenkflugkörpern, ohne Abfangreaktion, während der Mossad angeblich „nichts ahnte“.

Der gleiche Geheimdienst, der in Teheran Wissenschaftler eliminiert, in Dubai Attentäter aufspürt und weltweit Netzwerke infiltriert, soll das nicht gesehen haben? Das ist keine Panne. Das ist ein Rätsel, das man nur lösen kann, wenn man Zwecklogik begreift:

Terror wird gebraucht, damit Sicherheit unbegrenzt legitim bleibt. So wie Feuer gebraucht wird, um Feuerwehr zu finanzieren. Die israelische Sicherheitsdoktrin beruht auf Dauergefahr. Ein Frieden, der funktioniert, wäre ihr Systemfehler.

Die Geschichte des Mossad beweist, dass Moral dort immer instrumentell war, wo sie störte. 1963 – Haaretz dokumentierte es, der Journalist Yossi Melman belegte es – arbeitete der israelische Geheimdienst mit einem Mann zusammen, der Symbol für die moralische Ambivalenz des 20. Jahrhunderts ist: Otto Skorzeny, SS-Obersturmbannführer, Hitlers Lieblingssaboteur.

Er wurde vom Mossad angeworben, um deutsche Raketeningenieure in Ägypten zu identifizieren, die für Nasser arbeiteten. Im Gegenzug erhielt er Straffreiheit und Schutz. Ein Nazi im Dienst des jüdischen Staates.

Der Mann, der für Hitler Kommandounternehmen leitete, arbeitete am Ende für jene, deren Vernichtung er einst vorbereitete. Kein Gericht, kein Urteil – nützlich war wichtiger als schuldig. Diese Zweckmoral ist die Urzelle der israelischen Staatsräson: Ethik als Variabel, Strategie als Konstante. Was dient, ist erlaubt. Was nützt, ist recht.

1978 versuchte Menachem Begin, das Dogma zu durchbrechen. Er unterzeichnete mit Anwar as-Sadat das Friedensabkommen von Camp David. Land gegen Frieden – eine Formel, die das theologische Versprechen des „Erez Israel“ relativierte. Für die Ultra-Zionisten war das Verrat. Begin überlebte politisch, aber als Yitzhak Rabin 1995 den Oslo-Prozess fortsetzte, besiegelte er das Sakrileg.

Er wurde von einem zionistischen Fanatiker erschossen – nicht von einem Palästinenser, sondern von einem der eigenen. Der Friedensprozess starb, weil er das religiöse Dogma gefährdete. Seitdem wird Frieden nicht mehr als Ziel formuliert, sondern als Risiko. Sicherheit ist zur Ersatzreligion geworden. Sie rechtfertigt alles: Mauern, Blockaden, gezielte Tötungen. Und sie produziert, was sie vorgibt zu verhindern – endlosen Krieg.

Im Mai 2017 sagte Smotrich auf der Yesha-Konferenz: „Krieg ist Krieg.“ Gefragt, ob sein Plan auch Frauen und Kinder einschließe, antwortete er:

„Das ist die Logik der Bibel.“

Er berief sich auf das Buch Josua, auf das göttliche Mandat der Eroberung. Was einst mythologische Erzählung war, wurde zum sicherheitspolitischen Argument. Das Heilige als juristische Begründung – ein theologisches Copyright auf Land und Gewalt.

Heute steht dieses Denken in der Bürokratie:

  • in den Verordnungen zur „Koordination ziviler Angelegenheiten“,
  • in den Listen genehmigter Medikamente,
  • in den täglichen Stromkontingenten für Gaza.

Bürokratie als Fortsetzung des Kriegs mit administrativen Mitteln. Im September 2024 explodierten Pager und Walkie-Talkies im Libanon und in Syrien. Dutzende Tote, Tausende Verletzte.

Laut „Reuters“ wurden die Geräte zuvor manipuliert. Der Angriff war präzise, zeitgleich, aus der Ferne ausgelöst – ein digitales Massaker.

„Netanyahu approved pager attacks“, schrieb Reuters später. Wenn Telefone Waffen werden, ist Kommunikation selbst zum Ziel geworden. Das ist nicht Verteidigung, das ist technologische Grausamkeit.

Die Bilanz dieser Politik lässt sich nicht mehr mit Euphemismen tarnen. Gaza ist heute eine ruinierte Enklave, in der Hunger und Seuchen die zweite Welle des Krieges führen. Nach Schätzungen humanitärer Organisationen und der NGO Solidarwerkstatt (2025) liegt die Zahl der direkten und indirekten Todesopfer bei über 600 000 Menschen.

Das ist kein Krieg mehr. Das ist die Verwaltung des Todes.

Der Staat, der sich als moralischer Kompass des Westens inszeniert, hat ein Labor geschaffen, in dem Überwachung, Blockade und gezielte Vernichtung ineinandergreifen.

Seine Doktrin: Wer uns kritisiert, ist Feind; wer schweigt, Komplize; wer liefert, Partner. Eine Maschine, perfekt geschmiert, moralisch leer.

Die Anatomie dieser Staatsräson zeigt: Sie ist kein Unfall, sondern System. Sie entstand nicht aus Schwäche, sondern aus Kalkül. Und sie funktioniert, weil sie im Westen bewundert, finanziert und verteidigt wird.

Hohes Gericht,

die zweite Anklage richtet sich gegen jene, die den Apparat am Leben halten. Denn wer Waffen liefert, Narrative schützt und Verbrechen relativiert, steht nicht am Rand der Geschichte, sondern in ihrer Kommandokette.

Die westliche Demokratie hat aus der Shoah eine Lehre gezogen – „Nie wieder“. Doch aus diesem „Nie wieder“ wurde ein „Nur diesmal“. Ein ethisches Privileg, das den Schutz der Erinnerung in die Lizenz zur Untätigkeit verwandelte.

I. Die moralische Rückversicherung

Der Apparat Israel funktioniert nicht im Vakuum. Er lebt von Rückversicherung: Geld, Waffen, politischer Schutz. Das System trägt einen Namen – AIPAC, die „American Israel Public Affairs Committee“.

Was als Bürgerlobby begann, ist heute ein Scharnier zwischen Capitol Hill und Tel Aviv. Millionen fließen jährlich in Wahlkampfkassen, Gesetze werden formuliert, Resolutionen redigiert, Sanktionen verhindert.

AIPAC hat aus Demokratie ein Pfandgeschäft gemacht: politische Loyalität gegen finanzielle Rückendeckung. Im Ergebnis bestimmt nicht mehr der Kongress, was amerikanische Sicherheitsinteressen sind – die Interessen Israels definieren den Kongress.

Die Folge ist sichtbar: Vetos im UNO-Sicherheitsrat, Blockade von Resolutionen, die zivile Schutzpflicht fordern, Druck auf internationale Gerichte. Und jeder, der in den USA öffentlich über Kriegsverbrechen spricht, läuft Gefahr, politisch geächtet zu werden. Kritik an Israel ist kein Diskurs mehr, sie ist Karriererisiko.

Europa verhält sich nicht besser.

Deutschland, der moralische Zensor der Vergangenheit, hat 2023 Rüstungsexporte an Israel so stark ausgeweitet wie nie zuvor. Trotz UNO-Berichten über gezielte Angriffe auf Zivilisten unterzeichneten Ministerien Liefergenehmigungen für Elektronik, Optik, Munition.

Als die Bilder von verhungerten Kindern auftauchten, verkündete Berlin eine „Überprüfung der Lieferpraxis“ – und ließ die Schiffe weiterfahren. Das ist keine Politik mehr, das ist Komplizenschaft in Verwaltungsform.

II. Die Ökonomie der Reinwaschung

Rüstung ist in der westlichen Werteordnung kein Makel mehr, sie ist Markt. BlackRock, Rheinmetall, BAE, Lockheed – sie profitieren vom Dauerkrieg wie Apotheker von chronischen Krankheiten. Ihre Aktienkurse steigen, wenn in Gaza Bomben fallen. Und die Politik verkauft es als Arbeitsplatzsicherung. Jede neue Militärlieferung bringt Steuern, jeder Export bringt Statistiken. Der Tod ist eingepreist.

In Brüssel spricht man von „europäischer Sicherheitsarchitektur“, in Berlin von „Verlässlichkeit im Bündnis“. Beide Formeln meinen dasselbe: Moral als Variable, wenn die Lieferkette stimmt. Das Menschenrecht wird zu einer Abteilung im Außenministerium, unter „Kommunikation“.

III. Die Jurisdiktion der Doppelmoral

Als der Internationale Strafgerichtshof 2024 Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant ausstellte (Reuters, 21. 11. 2024), war die Empörung im Westen nicht über die Verbrechen, sondern über den Gerichtshof.

Die USA nannten ihn „nicht zuständig“, Deutschland „zurückhaltend“. Die UNO-Delegierten verließen den Saal, als Netanyahu sprach (Reddit, Oktober 2025). Man schämt sich nicht der Taten, man schämt sich der Konsequenzen.

Völkerrecht wird in diesen Tagen nach Bündnislage ausgelegt. Als Russland die Ukraine überfiel, sprach der Westen von Kriegsverbrechen. Als Israel Gaza belagerte, sprach man von „Selbstverteidigung“. Die Kriterien sind nicht rechtlich, sie sind geopolitisch.

IV. Die Sprache des Schweigens

Die größte Leistung westlicher Politik ist ihre sprachliche Kühlung. Man sagt nicht mehr „Hunger“, sondern „Versorgungsengpass“. Nicht „Bombardierung“, sondern „gezielter Schlag“. Sprache macht aus Leichen Statistiken. So verblasst Verantwortung zu Semantik.

In den Reden europäischer Regierungschefs taucht das Wort „humanitär“ häufiger auf als „Mensch“. Doch wer humanitäre Hilfen liefert und gleichzeitig Bombentechnik verkauft, führt eine ethische Doppelbuchhaltung. Die Hilfspakete löschen nicht, sie waschen weiß.

V. Die Bürokratie des Bösen

Der Apparat des Westens ist nicht bösartig, er ist funktional. Wie jede Bürokratie arbeitet er an Zuständigkeiten vorbei. Niemand fühlt sich verantwortlich, jeder arbeitet ordnungsgemäß.

Das war das Prinzip aller Verwaltungen der Gewalt. Die Formulare sind modern, die Logik zeitlos. Wenn heute ein Minister eine Exportlizenz unterzeichnet, tut er es mit der gleichen Kälte, mit der ein Beamter einst Transportlisten abzeichnete. Es ist kein Befehl mehr, es ist ein Workflow.

VI. Die Moral im Konjunktiv

„Wir dürfen nicht wegsehen“, sagen sie in Talkshows. Und sehen zu.

„Wir müssen unsere Werte verteidigen“, sagen sie, und verteidigen Waffenverträge.

„Wir stehen an der Seite Israels“, sagen sie, und stehen auf den Trümmern von Gaza.

Das ist die neue Rhetorik der westlichen Sittlichkeit: Empörung als Ablasshandel. Man bezahlt mit Sätzen statt mit Sanktionen.

VII. Die forensische Bilanz

Fakten:

  • Seit Oktober 2023 mehr als 600 000 Tote im Gaza-Korridor (Solidarwerkstatt.at, 2025).
  • Zerstörung von 90 % der Gesundheitsinfrastruktur.
  • Gezielte Unterbrechung von Strom, Wasser, Lebensmitteln – klassifiziert nach Artikel 54 Zusatzprotokoll I als Kriegsverbrechen.
  • Einsatz digitaler Waffensysteme (Pager-Attacken, Reuters 17. 09. 2024).
  • Blockade internationaler Hilfslieferungen unter militärischer Kontrolle.

Diese Fakten sind nicht mehr streitig. Was streitig ist, ist die Moral.

VIII. Die Logik der Komplizenschaft

Der Westen hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass Bündnistreue über Menschlichkeit steht. Dass „Realpolitik“ bedeutet, Werte nur so lange zu halten, bis sie stören. So wird Staatsräson zur moralischen Erpressung:

Wer kritisiert, gefährdet das Bündnis; wer schweigt, gehört dazu.

Die Komplizenschaft des Westens ist nicht laut, sie ist still. Sie besteht aus Sitzungen, Protokollen, Haushaltsbeschlüssen. Sie schreibt keine Befehle, sie genehmigt Budgets. Aber ihr Ergebnis ist identisch mit jenem der Maschine, die sie beliefert: Tod in Serie.

Hohes Gericht,

es bleibt nur noch die Beweisaufnahme über uns selbst.

Denn die Wahrheit dieses Jahrhunderts lautet: Die Gewalt ist globalisiert, die Empörung privatisiert. Jeder Krieg ist in Echtzeit sichtbar, aber kein Leid mehr wirklich greifbar. Zwischen den Live-Bildern und den Entscheidungen liegt ein Abgrund aus Bürokratie, Algorithmen und politischem Kalkül.

I. Die Beweisführung

Man braucht keine Geheimarchive, um das Muster zu erkennen.

  • 1. Ein Angriff schafft die moralische Lizenz.
  • 2. Die Lizenz erzeugt Ausnahmezustand.
  • 3. Der Ausnahmezustand wird zur Normalität.
  • 4. Das Recht wird angepasst, bis es wieder passt.

So verwandelt sich Notwehr in Routine. Gaza ist nicht der erste Ort, an dem das geschieht – nur der transparenteste. Drohnenfilme, Datenströme, Satellitenaufnahmen: Jeder weiß, was passiert, niemand handelt. Das ist der eigentliche Fortschritt der Gegenwart – perfekte Sichtbarkeit bei völliger Straflosigkeit.

In Den Haag sammeln sich Beweise, während in den Hauptstädten die Sprachregelungen entstehen. Politiker sprechen von „unvermeidlichen Opfern“ und „strategischer Notwendigkeit“. Die forensische Sprache der Ermittler trifft auf die moralische Plastik der Diplomatie – zwei Welten, die einander nie berühren.

II. Die Psychologie des Befehls

Die Täter sind selten Monster. Sie sind Fachleute. Sie reden nicht über Schuld, sondern über Parameter. Sie fragen nicht, ob etwas gerecht ist, sondern ob es genehmigt wurde. So entsteht das, was Hannah Arendt „die Banalität des Bösen“ nannte – nur dass heute Excel-Tabellen und Drohnensteuerungen an die Stelle von Stempeln getreten sind.

Die moderne Gewalt braucht keine Ideologie mehr. Sie braucht nur eine Firewall. Jeder operative Befehl ist dokumentiert, jeder Befehl delegiert, jeder Tote systemkonform. Das ist die perfekte Symbiose aus Effizienz und Entlastung.

III. Die juristische Leere

Das Völkerrecht wurde nach 1945 geschrieben, um Grenzen zu ziehen. Aber es war nie für asymmetrische Kriege entworfen. Was tun, wenn Staaten militärische Mittel gegen nichtstaatliche Gruppen einsetzen, die in Bevölkerungen eingebettet sind?

Das Recht stolpert, die Politik füllt die Lücke. Gerichte können nur urteilen, wenn Staaten kooperieren. Wenn sie es nicht tun, bleibt Recht ein Ritual. Die internationale Justiz gleicht heute einer Notaufnahme ohne Blutkonserven – sie kann Diagnosen stellen, aber keine Heilung erzwingen.

IV. Die Technik als Exekutive

Jede Epoche hat ihre Waffen. Die unsere hat Code. Algorithmen sortieren Zielpersonen, Filterblasen sortieren Meinungen, Künstliche Intelligenz optimiert die Entscheidung über Leben und Tod. Was früher Befehlsketten waren, sind heute Datenketten.

Und niemand trägt Verantwortung für den Output eines Systems, das aus sich selbst lernt. Wenn Pager, Telefone oder Stromnetze zu Waffen werden, verschwimmt die Grenze zwischen Zivil und Militär, zwischen Kommunikation und Angriff. Technologie schafft die perfekte Plausible Deniability: Die Maschine war schuld.

V. Der Westen im Spiegel

Das Tribunal der Geschichte wird die Täter nicht nur in Uniform finden. Es wird sie in Anzügen finden, mit Ausschussmappen unter dem Arm, mit den Worten „Haushaltsausschuss genehmigt“ auf den Lippen.

Europa hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass Moral ein Exportgut sei. Man liefert Demokratie, Menschenrechte, Aufklärung – und bekommt dafür Gas, Daten, Sicherheit. Doch jedes Mal, wenn ein Staat Waffen in eine Zone liefert, in der kein Recht mehr gilt, verliert er selbst ein Stück seiner Rechtsordnung.

Das ist die eigentliche Insolvenz: nicht finanziell, sondern ethisch. Ein Kontinent, der seine Werte mit Konditionalität versieht, ist bereits bankrott.

VI. Das Narrativ der Reinheit

Jede Macht braucht eine Geschichte, die sie von Schuld befreit. Im 20. Jahrhundert hieß sie „Zivilisation gegen Barbarei“. Heute heißt sie „Demokratie gegen Terror“. Beide haben denselben Satzbau: Wir dürfen, weil wir müssen.

Diese Erzählung ersetzt Verantwortung durch Funktion. Solange der Gegner schlimmer erscheint, bleibt das eigene Handeln legitim. So wird aus moralischer Selbstprüfung moralische Selbstverteidigung.

VII. Die Ökonomie des Vergessens

Kriege enden heute nicht, sie veralten. Die Schlagzeilen wechseln, die Archive wachsen, die Opfer verschwinden. Erinnerung wird kuratiert wie ein Markt. Was nicht profitabel empört, wird gelöscht.

Die Medienlandschaft spielt ihre Rolle: jede Katastrophe drei Tage, jede Analyse 90 Sekunden. Die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums ist zur besten Versicherung für politische Dauerverbrechen geworden.

VIII. Das Urteil

Hohes Gericht, die Beweise liegen offen.

  • Die Mechanismen sind identifiziert.
  • Die Motive sind dokumentiert.
  • Die Folgen sind sichtbar.
  • Die Schuld ist systemisch.

Sie verteilt sich über Institutionen, Geräte, Routinen. Und weil sie verteilt ist, fühlt sie niemand. Das ist der Kern unserer Epoche: eine Welt, die alles weiß, aber nichts mehr empfindet.

Doch Recht beginnt dort, wo Empfindung wieder möglich wird. Wenn das Leben eines Kindes schwerer wiegt als der Nutzen einer Allianz, dann kehrt Moral zurück. Wenn ein Staat sich selbst Grenzen setzt, weil er es kann, nicht weil er muss, dann kehrt Menschlichkeit zurück.

Bis dahin bleibt das Urteil schwebend. Nicht gesprochen, aber geschrieben. In Datenbanken, Berichten, Satellitenbildern. Und in den Archiven jener, die zu früh gewarnt haben.

Das Tribunal wird kommen – vielleicht nicht juristisch, aber historisch. Und wenn es urteilt, wird es nicht über Sieger und Besiegte sprechen, sondern über die Zivilisation, die sich selbst vergaß.

Die Blindheit der Welt

Hannah Arendt schrieb, das Erschreckendste an der totalitären Erfahrung sei nicht nur das Verbrechen selbst, sondern die gesellschaftliche Fähigkeit, es zu übersehen, während es geschah. Die Welt, sagte sie, habe nicht aus Unwissenheit geschwiegen, sondern aus Bequemlichkeit:

„Man wusste genug, um nicht mehr wissen zu wollen.“

Diese Form der moralischen Optik – die freiwillige Kurzsichtigkeit – ist kein historisches Phänomen, sondern eine wiederkehrende Gewohnheit der Zivilisation. Nach der Pogromnacht 1938 machte das amerikanische Magazin Time Adolf Hitler zum „Man of the Year“.

Die Empörung blieb aus, weil das Verbrechen in eine politische Erzählung eingepasst war: Stabilität, Wiederaufbau, Ordnung. Die Welt wollte Ruhe, nicht Wahrheit. Heute, in einem anderen Jahrhundert, unter anderen Flaggen, wirkt derselbe Reflex fort.

Zerstörte Städte, blockierte Hilfslieferungen, hunderttausende zivile Tote – alles dokumentiert, alles sichtbar, alles erklärbar. Man nennt es „Tragödie“, „Konflikt“, „Sicherheitslage“. Man sieht genau hin, um nicht betroffen zu sein.

Arendt nannte das „die Bürokratie der Wahrnehmung“: das subtile Einverständnis zwischen Beobachter und Täter, das jedes Unrecht in ein Verwaltungsproblem verwandelt.

So wie einst Beamte Protokolle abhakten, werden heute Pressemitteilungen verfasst; die Sprache wechselt, der Mechanismus bleibt. Empörung wird zur diplomatischen Geste, Menschlichkeit zur Pressemeldung.

Die Welt bleibt blind, wenn sie es will, und taub, wenn sie muss. Das ist ihre Konstante. Sie kann Empathie nur portioniert ertragen – und deshalb duldet sie, solange die Gewalt als System funktioniert.

Arendt sah darin den eigentlichen Skandal der Moderne: dass das Denken, das aufklären sollte, zur Verteidigung der Ordnung mutiert. Was im 20. Jahrhundert „Normalität“ hieß, heißt heute „Stabilität“.

Beides meint dasselbe: das Schweigen über das, was sichtbar ist. So endet der Kreis. Nicht in Gleichsetzung, sondern in Erinnerung daran, dass das Böse immer auch vom Schweigen lebt.

Nicht, weil Menschen es nicht erkennen könnten – sondern weil sie gelernt haben, es nur in anderen Epochen zu erkennen.

Quellen und Anmerkungen

1) Smotrichs „Decisive Plan“ (Unterwerfungsplan) 2017

Hashiloach – Originaltext (Hebräisch/mit englischer Übersetzung)

Al-Zaytouna – Analyse des Plans.

JPost – Bericht über Smotrichs Ansichten und Aufhebung der Zwei-Staaten-Lösung

2) Annexion, Westjordanland-Politik, Infrastruktur, Siedlungspläne

SpringerLink – Transformation der israelischen Besatzungspolitik unter Smotrich

Mondoweiss – Karte mit geplanten Annexionen und Gebietsausdehnung

Israel Policy Forum – De-jure-Annexion und administrative Veränderungen im Westjordanland

3) ICC – Haftbefehle gegen Netanyahu & Gallant / Reaktionen

– Reuters – Anklage / Haftbefehle

– Reuters – „What the ICC said …“ (Zusammenfassung)

Haaretz – Bericht über die ICC-Haftbefehle

Reuters – Ablehnung Israels, Haftbefehl rückgängig machen zu lassen (Juli 2025)

Reuters – Netanyahu über Haftbefehle: „Skandal historischen Ausmaßes“

ICC-Pressemitteilung / Justizdokumentation – Situation State of Palestine (Jurisdiktion)

4.)Human Rights / UNO-Berichte zu israelischen Praktiken

UN Sonderausschuss Bericht (UN-Dokument)

5) Öffentliche Rezeption, Internalisierung des Plans, öffentliche Meinungsbilder

+972mag – wie Smotrichs Logik sich in der israelischen Öffentlichkeit verbreitet

Guardian – Artikel über Smotrichs formulierte Ideologie und Zerstörungsabsichten

6) Weitere Kontextquellen / Hintergrund

– Wikipedia – allgemeine Infos zu Smotrich

– Wikipedia – ICC in Palästina

– Wikipedia – Greater Israel (Expansionsträume)

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. 

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Bild: Gaza-Stadt, Gazastreifen - 22. März 2025: Eine Reihe redaktioneller Bilder, die vertriebene Zivilisten in Gaza-Stadt dokumentieren, darunter Kinder, ältere Menschen, Frauen und Menschen mit Behinderungen.

Bildquelle: Gaza - Survival Journey /shutterstock


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