Ein Standpunkt von Roland Rottenfußer.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Hannes Waders Lied „Es ist an der Zeit“ ist eine schonungslose Abrechnung mit den Schrecken des Krieges und den Lügen der Kriegsherren.
Wodurch zeichnet sich ein exzellentes Antikriegslied aus, das noch Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung die Kraft besitzt, Menschen zur Wachsamkeit und zur Friedensliebe anzuhalten? Vielleicht könnte man es so beschreiben: Es sollte nicht beschönigen, wohl aber die Schönheit betrauern, die durch Orgien der Zerstörung verloren ging. Es sollte mitfühlend sein und zugleich schonungslos, detailgenau und dabei universell in seiner Botschaft. Statt gegen „Feinde“ aufzuhetzen, sollte es die Hetzer bloßstellen, die „Masters of War“, wie sie Bob Dylan in einem seiner Lieder beschrieb. Hannes Wader hat mit „Es ist an der Zeit“ 1980 eines der bedeutendsten deutschsprachigen Friedenslieder verfasst. Das eindrucksvolle Folk-Chanson, eine Frucht des ersten Kalten Kriegs, beweist auch in Zeiten neuer globaler Spannungen seine zeitlose Gültigkeit. Ein Text zu der Aktion #Friedensnoten.
Die Ursprünge des Liedes liegen in einem Besuch des australischen Folksängers Eric Bogle und seiner Frau in Flandern und Nordfrankreich, wo das Ehepaar drei Militärfriedhofe besuchte. Sie „sahen all die jungen Soldaten, die dort begraben waren“. Das geschah im Jahr 1976. Bogle schrieb nach dieser Erfahrung einen Song, der als Antikriegslied Berühmtheit erlangte. „No man’s land“ wurde er genannt. Oder auch „The green fields of France“. Am Grab des Soldaten Willy McBride stehend, sinniert der Sänger über das Leben und den Tod des Gefallenen und stellt eine gewichtige Frage. Sie zierte schon ein berühmt gewordenes Plakat mit einem Soldaten, der — von einer Kugel getroffen — tot zusammenbricht: „Why?“ Bogle sang:
„And I can't help but wonder, oh Willy McBride: Do all those, who lie here, know why they died? Did you really believe them, when they told you the cause? Did you really believe, that this war would end wars? Well the suffering, the sorrow, the glory, the shame, The killing and dying — it was all done in vain. Oh Willy McBride, it all happened again, And again, and again, and again, and again“ (1).
Willy McBride — sein Name steht hier für Tausende — starb im Ersten Weltkrieg. Es macht noch heute wütend und traurig, wenn man sich bewusst wird, dass die Menschheit seither offenbar nichts dazugelernt hat. Nicht die Politiker, die an der Fiktion eines „gerechten Krieges“ festhalten; nicht die Soldaten, die sich — wie in Donovans Klassiker „Universal Soldier“ gesagt wurde — für jeden beliebigen Zweck missbrauchen lassen und so die Maschinerie des Todes bis in alle Ewigkeit am Leben halten; nicht die Bürgerinnen und Bürger, die sich von Kriegs-Narrativen wieder und wieder aufwiegeln lassen, die selbst ihre Söhne und heutzutage zunehmend auch Töchter willig dem blutigen Handwerk überantworten.
Die Kulthymne der Friedensbewegung
Hannes Wader war bereits ein etablierter deutscher Liedermacher, als er 1980 sein Album „Es ist an der Zeit“ herausbrachte. In seiner 2019 erschienenen großen Autobiografie „Trotz alledem“ beschreibt er die Entstehungsgeschichte des Liedes nur knapp:
„Das Titellied ist meine Adaption eines Songs des Australo-Schotten Eric Bogle: ‚No Man’s Land‘. In meiner (sehr freien) Übersetzung ins Deutsche wird ‚Es ist an der Zeit‘ bald eine der Hymnen der Friedensbewegung der frühen Achtzigerjahre. Selbst im anderen Teil Deutschlands wird und bleibt das Lied populär. Noch bei meinen Nach-Wende-Konzerten in der ehemaligen DDR lassen mich die Leute nicht eher von der Bühne, bis ich es gesungen habe. Kein Problem — ich singe es immer noch gerne.“
Hannes Wader schrieb einen Text, der, wie ich finde, das Original an Eindringlichkeit noch übertrifft. Es müssen außergewöhnlich inspirierte Stunden gewesen sein, die der Großliedermacher diesem Gedicht widmete. Hannes Wader, der oft gesagt hat, dass ihm das Schreiben Mühe mache und dass er es sich oft in Wochen langer Arbeit abquälen musste, war hier ganz im Fluss. Wie bei jeder gelungenen Nachdichtung lässt sich Wader jede Freiheit, Bogles Vorlage zu variieren, die Reihenfolge der Gedanken zu verändern, einige wegzulassen, neue hinzuzufügen.
Grabkreuze und Mohn
Weit in der Champagne im Mittsommergrün, Dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn, Da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht Im Wind, der sanft über das Gräberfeld streicht.
Wader beginnt mit einer fast idyllischen Naturstimmung. Es ist warm — Sommer. Die tiefroten Mohnblumen, die Gräser, das zärtliche Vokabular („flüstern“, „leicht“, „sanft“) stehen in auffälligem Kontrast zu dem Grauen, das wir mit Krieg verbinden. Denn die Idylle ist trügerisch, der Mohn blüht ja inmitten eines Gräberfelds.
Es wirkt, als wolle der Künstler jenen Frieden, jene Schönheit und Zärtlichkeit illustrieren, die möglich gewesen wären, hätte nicht der Wahnsinn des Krieges jenen jungen Soldaten dahingerafft.
Wir erfahren: Er war erst 19 Jahre alt, und sein Grab trägt keinen Namen. Als Nächstes spricht Hannes Wader jene Liebe, die möglich gewesen wäre, noch einmal direkt an:
„Hast du, toter Soldat, mal ein Mädchen geliebt? Sicher nicht, denn nur dort, wo es Frieden gibt, Können Zärtlichkeit und Vertrauen gedeihen. Warst Soldat, um zu sterben, nicht um jung zu sein.“
Es ist nicht nur das Grauen des Krieges, das der Sänger hier beklagt, es ist die abgrundtiefe Traurigkeit über ein ungelebtes Leben — das Schicksal eines jungen Mannes, der voll im Saft stand, danach verlangend, sein Leben als junger Erwachsener auszukosten, wahrscheinlich voller Hoffnungen und Möglichkeiten.
Und auch diesen Schattenaspekt der Sexualität spart Wader nicht aus: Viele Soldaten vergewaltigen die Frauen der von ihnen eroberten Länder — verroht, entseelt und brutalisiert durch die Kriegserfahrung. In einer schönen Wendung entscheidet sich „unser“ Soldat im Lied aber dann doch gegen die Gewalttat: „(…) hast dich aber dann vor dir selber geschämt und es doch nie getan.“
Verzweifelt, verbittert, verroht
Der nächste Vers wirkt auf mich ungemein erschütternd und legt schonungslos offen, was Krieg wirklich bedeutet — und zwar mit durchaus abschreckenden und schmutzigen Details:
Soldat, gingst du gläubig und gern in den Tod? Oder hast du verzweifelt, verbittert, verroht deinen wirklichen Feind nicht erkannt bis zum Schluss? Ich hoffe, es traf dich ein sauberer Schuss. Oder hat ein Geschoss dir die Glieder zerfetzt, Hast du nach deiner Mutter geschrien bis zuletzt, Bist du auf deinen Beinstümpfen weitergerannt, Und dein Grab, birgt es mehr als ein Bein, eine Hand?
Im Kontrast zu den zerfetzten Gliedern und anderen furchtbaren Begleiterscheinungen des Mordens deutet der Sänger auch an, mit welch beschönigenden Floskeln Kriegstreiber ihren Opfern den Gang zur Schlachtbank zu verkaufen versuchen. Ihnen wird nahegelegt, „gläubig und gern“ in den Tod zu gehen — für Zwecke, die „Vaterland“, „Gott“, „Sicherheit“, „Verteidigung“ oder wie auch immer heißen. Wer also ist der „wirkliche Feind“, den der junge Soldat in Waders Text nicht erkannt hat? Ich werde darauf zurückkommen.
Im letzten Vers schlägt Hannes Wader einen kunstvollen Bogen zum Anfang des Liedes. Wir befinden uns wieder in der Gegenwart, und der Sänger leistet am Grab des Soldaten einen Schwur:
Für den Frieden zu kämpfen und wachsam zu sein: Fällt die Menschheit noch einmal auf Lügen herein (...).
Wieder auf Lügen hereingefallen
Die Zeile geht mir heute noch näher als zu dem Zeitpunkt, als ich das Lied erstmals hörte — es war wohl in den 1980er-Jahren. Denn über lange Zeit sah es so aus, als hätte die Menschheit seit den beiden furchtbaren Weltkriegen dazugelernt — speziell auch der „zivilisierte“, westliche Teil von ihr. Die alten europäischen Streithähne wie Deutschland und Frankreich lebten über Jahrzehnte friedlich nebeneinander her. Selbst Russland, dem früheren Hauptfeind, schien der Zahn gezogen, die Ära Gorbatschows schien von gegenseitiger Annäherung und Abrüstung geprägt zu sein.
Wer hätte gedacht, dass so viele Menschen hierzulande noch einmal auf Lügen hereinfallen würden, dass eine Zeitenwende verbunden sein würde mit Milliarden-Aufrüstung, mit Feindbild-Hetze, mit einer Militarisierung des öffentlichen Diskurses, mit Talkshow-Auftritten in Endlosschleife von Scharfmachern wie Anton Hofreiter oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann?
Selbst in der Frage der Führbarkeit eines begrenzten Atomkriegs fallen derzeit „Denktabus“. Hier spricht das Lied jedoch eine deutliche Warnung aus:
Dann kann es geschehn, dass bald niemand mehr lebt Niemand, der die Milliarden von Toten begräbt.
Dies nimmt eindeutig Bezug auf die Gefahr eines großen Weltkriegs unter Einbeziehung der nuklearen Atomstreitmächte beider Lager. Der Konflikt „Westen gegen Russland“ ist hier implizit gegenwärtig. Doch auch einen Hoffnungsschimmer gibt es. Eric Bogles Original klingt noch pessimistischer aus („again, and again, and again…“). Wader dagegen, inspiriert wohl durch die Aufbruchsstimmung der Friedensbewegung im Entstehungsjahr des Liedes, endet mit einer positiven Vision:
Doch finden sich mehr und mehr Menschen bereit, Diesen Krieg zu verhindern. Es ist an der Zeit.
Das war, wohl gemerkt, Anfang der 80er. Das Lied wurde seither von Friedensbewegten immer wieder gern aufgegriffen und von Freunden und Kollegen Waders wie Reinhard Mey mit Überzeugung nachgesungen. Das überrascht nicht — ist mir doch selbst kein eindringlicheres und perfekteres Antikriegskied bekannt. Allenfalls könnte man hier noch Meys wirklich bewegendes Bekenntnis „Nein, meine Söhne geb ich nicht“ nennen. Bei „Es ist an der Zeit“ jedenfalls stimmt einfach alles. Auch die Melodie, die Eric Bogle gefunden hat, empfinde ich als ausgesprochen schön. Sie strahlt in ihrer Einfachheit große Wärme aus, wie wir es von anderen Folk- und Softrock-Balladen kennen, die sich durch besondere melodiöse Stimmigkeit auszeichnen — man denke etwa an Cat Stevens‘ „Father and Son“ oder „Vincent“ von Don McLean.
Hartes Thema, sanfte Musik
Die Musik, von Wader wie immer minimalistisch nur mit der Gitarre begleitet, illustriert eindeutig nicht die Härten des Krieges, sie spiegelt eher eine Welt, wie sie sein sollte: mitfühlend, begütigend, ein bisschen traurig zwar, aber in ihrer Schönheit, die dem Grauen abgetrotzt scheint, auch glücklich machend. Hannes Wader ist kein Mann der emotionalen Aufwallung. Er singt auf die ihm eigene sonore, ernste und gelassene Weise. Hier aber sind mehr Zorn und Nachdruck zu spüren als in anderen Aufnahmen des Künstlers. Und nicht zu vergessen: der Refrain. Er schlägt den Bogen zwischen damals und heute. Die Lügner und die Belogenen: Sie sind universell, die Kriege und die Kriegsanlässe erschienen demgegenüber auswechselbar.
Ja, auch dich haben sie schon genauso belogen, So wie sie es mit uns heute immer noch tun. Du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.
Wer aber ist nun der „eigentliche Feind“, den der Soldat offenbar nicht erkannt hat? Es ist niemals der, auf den ein Soldat laut Befehl schießen soll — es ist immer derjenige, der den Schießbefehl gegeben hat, der einen jungen Mann zum Kriegsdienst gezogen, bewaffnet, durch eine entseelende, verrohende Militärausbildung geschleust und an die Front geschickt hat, um dort auf seinen Bruder zu schießen — einen Menschen, den er nicht einmal kennt und der ihm nichts getan hat.
Analog zum „Universal Soldier“ ist es der Universal Warlord — der Kriegsherr. Er zieht nie selbst in den Krieg — er lässt exerzieren, bluten, töten und sterben.
Keiner ist von der Botschaft dieses Lieds pauschal ausgenommen. Um es auf heutige Verhältnisse anzuwenden: nicht Biden, nicht Scholz, nicht Selinskyj, nicht Putin könnten sich dieser erschütternden Anklage entziehen. Über Schuld- und Unschuldszuweisungen im globalpolitischen Kontext sollen sich Essayisten den Kopf zerbrechen. Künstler — Antikriegssänger im Besonderen — denken da häufig anders: einfacher. Schuldig ist, wer Menschen opfert, sie in den Krieg schickt, mit falschen Gründen in den Kriegsdienst hineinschwatzt oder -zwingt, wer ihnen ihr junges Leben entreißt oder es infolge der Erfahrung von Schuld und Leid mit einem Trauma überschattet.
In seiner deutschen Übertragung des französischen Chansons „Le déserteur“ sagt es Hannes Wader noch einmal sehr deutlich: „Wenn Sie so sehr daran glauben, dass es nötig ist, in einem Krieg sein Blut zu vergießen, Monsieur le Président, warum gehen Sie dann nicht hin und geben das Ihre?“
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 30. Juli 2022 bei www.rubikon.news
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Bildquelle: stock hunter / shutterstock
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