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Der Spaziergänger von Eppendorf

Der Spaziergänger von Eppendorf


Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Die Frau dort im Café, die mit dem Buch. Ich kann sie denken hören. Sie zahlt, steht auf und geht, nein, sie schreitet. Manche Frauen bewegen sich in ihren Körpern, als würden sie das Lebenselixier in einer Schale spazieren tragen. Auch sie scheint mich denken zu hören. Ihre Seele errötet und ihr Gesicht nimmt den Glanz einer Marmorstatue an. So etwas passiert, wenn ein Romantiker in dieser Welt Trost sucht. So etwas sieht nur er. In seinen Träumen ist Platz für die gesamte melancholische Bandbreite des Lebens.

Man sieht sie überall und immer: Mädchen am Smartphone. Gestern ertappte ich mich dabei, dass ich ein Stoßgebet gen Himmel schickte. Drei Mädchen steuerten nämlich auf ihre Handys starrend in breiter Phalanx auf mich zu, um mir im letzten Moment ohne aufzusehen eine Gasse zu öffnen.

„Lieber Gott,“

dachte ich,

„bitte lass noch einige dieser entzückenden Wesen übrig, jage nicht alle in die Indoktrinationsmühlen, aus denen sie dann als Angepasste entlassen werden, um der woken Solidargemeinschaft unserer Tage noch mehr Gewicht zu geben …“  

Wo ist er geblieben, der Augen-Blick? Dieser Moment, in dem sich zwei fremde Menschen im Vorübergehen erkennen und in Sekundenschnelle Einverständnis erzielen. Über alles. Ein sanfter Stromschlag mitten ins Herz. Leider sind solche Augenblicke selten geworden. Warum eigentlich? Wir suchen doch alle nach diesem einen Funken, der die Batterien schlagartig auflädt und uns das Leben wieder schmecken lässt.

Es ist nun vierzig Jahre her, dass mein Hund vorzugsweise gegen diesen Baum pinkelte. Er stand genau hier an der Weggabelung, als wäre es seine Aufgabe gewesen, den Strom der Passanten säuberlich zu teilen. Irgendwann kamen die Männer mit der Motorsäge und legten ihn um. Aber ich sehe ihn noch, er verschwindet nicht. Dies ist sein Platz und er behauptet ihn - als filigrane Lichtgestalt, die sich noch immer im Wind wiegt, die ihren Schatten eingeholt hat wie ein Fischernetz.

In der U-Bahn ist kein Sitzplatz frei. Neben mir steht ein Mann mit stechenden Augen. Er ist einen Kopf kleiner als ich und dennoch gelingt es ihm, auf mich herab zu sehen.

Wenn ihr wüsstet, wie ich euch wahrnehme, würdet ihr mir nicht mehr in die Quere kommen. Unbelastet von Eindrücken wäre ich wieder in der Lage, euch zu lieben. Eine ältere Dame lächelt mir beim Aussteigen aus dem Bus zu. Ich möchte ihr eine Frage stellen, aber ich traue mich nicht. Die Frage lautet: „Ist noch Kampf oder herrscht schon Ewigkeit?“ Sie hätte mir das sicher beantworten können.

Meine Gedanken sind kraftlos geworden, sie bewegen nichts mehr. Die Welt bleibt keck vor ihnen stehen, ein wenig blöd, ein wenig banal, ein wenig dreckig. Die Goldadern der Sehnsucht sind versiegt und so glotzen wir uns an, die Plastikgans vom Balkon gegenüber und ich. Aber am Boden zu sein heißt ja auch, Wurzeln schlagen zu können.

Auf dem Fußweg da unten rollert ein etwa siebenjähriges Mädchen in ihrem Sommerkleidchen vorbei, gefolgt von einem freudig hüpfenden tibetanischen Tempelhund. Ich hatte auch mal so einen Lhasa Apso. Nima hieß er, was tibetisch ist und Himmel heißt. Da kommen sie zurück. Diesmal rollen und rennen sie um die Wette. Der Hund hält erstaunlich gut mit. Vielleicht sollte ich meinen Balkon in Höhe der Baumkronen verlassen und eintauchen in die Stadt, die sich seltsam ruhig verhält an diesem Tag. Der Presslufthammer an der Ampel zählt nicht, es ist nur ein vorübergehender Anschlag auf die vom Vogelgezwitscher verzierte Ruhe.

Vier verwegen aussehende Männer haben sich an der Alster eine Kinderwagenburg gebaut. Die Babykutschen erinnern an geklaute mit Utensilien gefüllte Einkaufswagen. Eine Frau mit einem etwa dreijährigen Kind an der Hand nähert sich der Runde. Das Kind löst sich von der Mutter, läuft unsicher schaukelnd auf die Gruppe zu und fällt einem der Männer in die Arme. Drei weitere Frauen sind im Anmarsch, sie tragen ihre Babys auf dem Rücken oder vor dem Bauch. Die Begrüßung untereinander ist herzlich. Die Mütter setzen sich ins Gras und empfangen den ersten kreisenden Joint. Was habe ich da nur gesehen vorher?

Ich sitze auf einer Bank am Kaifu-Ufer. Hinter mir der brackige, grüne Wasserarm, über den ein knarzendes Ruderboot getrieben wird. Ich fische nach den Gesprächsfetzen der Vorübergehenden, aber kann mir die Worte nicht deuten. Ein Drittel meiner Zeit geht für Fehlerprüfung drauf ... / Das würde ich doch auch machen, wenn ich Chinese wäre / Da kommt er mir nichts dir nichts einfach so vorbei ... / Bei Penny sind sie billiger / Du musst natürlich erst unterschreiben, darum geht es / Ist das nicht relativ weit im Süden? / Was glaubst du, wie leid mir das tut! – Ist mir scheißegal ... / Es ist doch immer das Gleiche mit ihr. / Die steigen nie auf bei dem Trainer / Du musst sie mindestens zweimal am Tag gießen…

Ich sehe aus euren Gesichtern sofort die Kinder heraus, die das Leben dort verschüttet hat. Ein amüsantes Spiel. Für die Dauer dieser Augenblicke seid ihr zu euch selbst gepolt.

Das Lächeln einer Frau, die jemandem zum Abschied gewunken hat, hält noch vor, als die Person längst entschwunden ist. Etwa zwanzig Sekunden lang.

Eine Gruppe Jugendlicher kommt mir entgegen. Fünf Jungen, zwei Mädchen. Sie marschieren als lachende, sich in den Hüften wiegende Front auf mich zu. Ich tauche ohne anzustoßen hindurch. Jung sein ist kein Verdienst, denke ich, man kann nichts dafür. Die Jugendlichkeit hingegen ist eine Eigenschaft, die man nicht verliert.

Die Mädels legen Kaugummi kauend eine gewisse Trotzhaltung gegenüber den braven Hanseaten an den Tag, zwischen die sie an diesem strahlenden Tag geraten sind.

Ein kleiner Mann mit eingefallenen Wangen, müden Augen und einer kalten Zigarre im Mund hängt am Arm einer stämmigen, fleischigen Frau. Im Vorübergehen höre ich sie beschwörend sagen: »Versetz dich doch mal in meine Lage ...!« Warum rührt mich das?

Eine leichte Brise weht durch Hamburg, gewürzt mit dem Aroma der Nordsee. Am Isebekkanal sonnt sich eine junge Mutter bei geschlossenen Augen, während ihre etwa fünfjährige Tochter mir ihren Teddy entgegenhält. NUM heißt er und ich darf ihm die Hand schütteln.

Am Feenteich steckt sich eine Punkerin Blumen in die Springerstiefel. Wiesenblumen, rot, gelb, weiß. Dann schaut sie an sich herab, tritt einmal kräftig auf und marschiert mit den Köpfe schüttelnden Blümchen davon. Die kriegen sie nicht, da wette ich drauf.

Inzwischen bin ich auf der Straße umgeben von »Enkelinnen« und »Enkeln«, die mich kaum noch wahrnehmen. Bei dem Ge- danken, dass diese Generation den langen Marsch durch das Minenfeld LEBEN gerade erst angetreten hat, schnürt es mir die Kehle zu.

Zwei Tauben haben sich auf der Brüstung meines Balkons nieder gelassen und schwanken aufgeplustert im Wind. Ich öffne die Tür. Sie scheinen ernsthaft zu überlegen, ob sie meiner Einladung nachkommen sollen. Tun sie nicht, aber sie fliegen auch nicht weg. Also lege ich ihnen eine Scheibe Brot zu Füßen, die vom Frühstück übrig geblieben ist. Wer weiß, was meine milde Gabe für einen Einfluss auf das Weltgeschehen hat. Wer weiß das schon? Denken Sie nur an die Chaostheorie und den berühmten Schmetterlingsflügelschlag. Meine Besucher auf der Balkonbrüstung nicken mir zustimmend zu …

PS: Dieser Text erhält Anleihen aus meinem Buch „Gefleckte Diamanten“.

+++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: GoodStudio / shutterstock


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