Der soziale Krieg

Mit der globalen Krise des Systems wächst die Armut. Auch in Deutschland. Alles Einbildung, suggeriert der politische Propagandaapparat.

Von Susan Bonath.

Gerät das »ewige Wirtschaftswachstum« an seine natürlichen Grenzen, ringen die »Global Player« mit allen Mitteln um Märkte und Profite. Die Herrschenden rüsten auf, in jeglicher Hinsicht. Krieg und Zerstörung gehen einher mit massivem Sozialabbau und wachsender Verelendung immer größerer Schichten. Das erleben wir derzeit weltweit, auch in Deutschland. Doch Bundesregierung und Medien werden nicht müde, der Bevölkerung immer wieder dieselben neoliberalen Märchen a la »Leistung lohnt sich« vorzubeten. Die drei Affen (nichts hören, nichts sehen, nichts wissen) sind allgegenwärtig.

Immer offensichtlicher wird das Elend in deutschen Großstädten. Wer durch Berlin geht, wird zwangsläufig jeder Menge Obdachloser und Bettler begegnen. Unter Brücken und auf Brachen wachsen ganze Slums aus dem Boden. Früh am Morgen kann man geschützte Nischen an einer Hand abzählen, die nicht belegt sind. Manche liegen einfach in ihren Schlafsäcken, daneben Reisetaschen, Trinkkartons, Wägelchen, Plastiktüten. Andere verstecken sich notdürftigen Unterschlüpfen.

Leben im Müllsack

»Mein Leben liegt dort«, sagt der 64jährige Achim gegenüber KenFM. Er deutet auf einen blauen Müllsack und einen brauen Gitarrenkoffer. Sein aus Rumänien stammender Freund Radú, der neben ihm am Bahnhof Berlin Friedrichstraße hockt, nickt. Er befreit umständlich das Instrument und reicht es Achim. Mit flinken Fingern und offensichtlich guten Ohren stimmt dieser die Saiten, spielt dann virtuos und unverkennbar Rio Reisers »Zauberland« an, um sich dann selbst abrupt zu unterbrechen. »Singen tu´ ich nicht«, schüttelt er den Kopf und lacht. Achim hat sein linkes Bein auf dem Gehweg ausgestreckt. Statt eines Schuhs trägt er einen dicken, schmutzigen Verband. »Den hat man mir im Bundeswehrkrankenhaus verpasst«, erklärt er. »Offene Wunden und so…« Denn früher, berichtet er weiter, habe er zehn Jahre gedient. »Da erwarte ich von denen wenigstens das.« Sein rumänischer Freund helfe ihm. Beim Laufen, beim Flaschensammeln, beim Zelt aufbauen. Zuletzt seien sie Stammgäste am Spreeufer nahe des Reichstags gewesen. »Jetzt ha´m die uns da vertrieben.« Radú bekräftigt: »Verjagt!«

Ministerium stört sich am Anblick des Elends

Wie unter anderem die taz berichtete [1], ließ das Ordnungsamt Berlin Mitte das Obdachlosencamp mitten im Prunkviertel am vergangenen Donnerstag räumen. Bezirksstadtrat Carsten Spallek (CDU) begründete gegenüber dem Blatt, es habe Beschwerden gegeben, unter anderem aus den umliegenden Büros. Der Großteil dieser Büros gehört dem Bundesbildungsministerium. Dort hat man sich am Anblick des Elends offenbar gestört. Laut Achim kampierten an »seinem Platz« teils mehrere Dutzend Menschen: Einheimische und EU-Migranten. Letztere haben in Deutschland keinen Anspruch auf Sozialleistungen.

Obdachlosenverbände schätzen die Zahl derer, die in Berlin »Platte machen«, auf 3.000 bis 6.000. Das heißt: Sie finden oder wollen keinen Schlafplatz in überfüllten Notunterkünften. Hinzu kämen gut 10.000 notdürftig untergebrachte Menschen [2]. Die Heime platzten inzwischen aus allen Nähten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) rechnet deutschlandweit mit einem Anstieg der Obdachlosenzahlen von derzeit etwa 335.000 auf 536.000 bis 2018 [3]. Genaue Zahlen zur Obdachlosigkeit gibt es aber nicht. Im vergangenen Jahr weigerte sich die Bundesregierung zum wiederholten Mal, Betroffene zahlenmäßig zu erfassen [4].

Arbeit schützt vor Armut nicht

Dass die Armut steigen und sich damit auch die Slums in den kommenden Jahren vergrößern dürften, ist zu erahnen. Der WDR errechnete kürzlich, dass im Jahr 2030 etwa Hälfte aller Ruheständler eine mickrige Rente wird aufstocken müssen [5]. Auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag antwortete die Bundesregierung zudem, dass der derzeitige Mindestlohn von 8,50 Euro selbst nach 45 Beitragsjahren nicht für eine Altersversorgung oberhalb des Grundsicherungsniveaus reichen wird [6]. Um überhaupt auf diese Minileistung zu kommen, müsste der Stundenlohn bei 11,38 Euro liegen, heißt es in dem Papier. Die Zahl der erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher, von denen der größte Teil übrigens einer Beschäftigung nachgeht, verharrt seit Jahren bei über vier Millionen, hinzu kommen etwa 1,7 Millionen betroffene Kinder und über eine Million Bezieher von Grundsicherung bei Erwerbsminderung, bei Behinderung oder im Alter, Tendenz steigend. Mit Kürzungspaketen schraubte die Bundesregierung das Netto-Rentenniveau (vor Steuern) von 55 Prozent 1990 auf inzwischen 47,5 Prozent herab. Bis 2030 wird es auf 43 Prozent weitersinken [7].

Lohnabhängige zum Schweigen gebracht

Dass der deutsche Imperialismus blüht, ist nicht zuletzt ein Produkt der Agenda 2010. Die Einführung von Hartz IV vor gut elf Jahren, vorbereitet durch jahrelange Verunglimpfung Erwerbsloser als »Faulpelze«, »Parasiten« und »Schmarotzer«, verhalf einem riesigen Niedriglohnsektor zum Boom. Mit nunmehr gesetzlich verankerten Erpressungsinstrumenten alias Sanktionen bei Ungehorsam können Jobcenter jeden von dieser Leistung Abhängigen in jede Leiharbeitsfirma, in jedes Gratispraktikum, jede Maßnahme, jeden Ein-Euro-Job zwingen. Seit Jahren verhängen Jobcenter jährlich rund eine Million Sanktionen. Das bedeutet: Verpassen Betroffene einen Termin, lehnen sie einen Job oder eine Maßnahme ab oder weisen schlicht zu wenige Bewerbungen nach, wird ihnen die Mindestsicherung um zehn bis 100 Prozent gekürzt. Die Folgen sind klar: Obdachlosigkeit, Betteln, Kriminalität zur puren Lebenserhaltung. Hartz IV schwächte in einzigartigem Ausmaß die Gewerkschaften und vergrößerte die Angst der Beschäftigten vor Entlassungen. Es brachte die lohnabhängige Klasse geradezu zum Schweigen.

Ändern will die Bundesregierung daran natürlich nichts: Die Hartz-IV-Sätze hebt sie trotz mahnender, seit über einem halben Jahr vorliegender Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) nicht auf ein kostendeckendes Niveau an, obwohl das Bundesverfassungsgericht dies mit einem Urteil schon 2010 vorgegeben hatte. Ihre seit Jahren geplante Hartz-IV-Reform alias »Rechtsvereinfachungen«, die die Bundesregierung nun zum August durchpeitschen will, sieht weiterhin Sanktionen und sogar weitere Kürzungen für Alleinerziehende und ihre Kinder vor.

Heer der Billigsklaven vergrößern

Das Interesse der Wirtschaft an Billiglöhnern ist naturgegeben ungebrochen. Das Geheimnis zur Verhinderung eines Aufstands der Abgehängten ist einfach: Die Konkurrenz »da unten« gilt es zu verschärfen. Natürlich werden künftig Kriegsflüchtlinge mit Einheimischen um Jobs und Wohnungen buhlen.

Das ist auch der Regierung klar. Dafür will sie ihre Erziehungsmethode a la Hartz IV auf erstere ausdehnen. Das neue Regelwerk mit dem wohlklingenden Namen »Integrationsgesetz« will sie bereits im Mai beschließen [8]. Es ist nichts anderes als Hartz IV 2.0 für noch nicht anerkannte Asylbewerber (denn nach der Anerkennung erhalten sie Hartz IV) mit allem Drum und Dran: 100.000 weitere Ein-Euro-Jobs, ein scharfes Sanktionsregime, ein vorgeschriebener Wohnort, rigorose Ausweisung aller, die sich nach einer gewissen Zeit nicht selbst über Wasser halten können, egal, ob in der Heimat Bomben fallen, Anschläge oder der Hungertod drohen. Künftig dürften sich die Slums nicht nur mit Einheimischen und EU-Migranten füllen, sondern auch mit Flüchtlingen.

Alles nur Einbildung?

So unübersehbar die wachsende Armut, vor der die Mittelschicht nicht gefeit ist, auch ist – der Propagandaapparat suggeriert: Alles pure Einbildung. Den jüngsten Armutsbericht des Paritätisches Wohlfahrtsverband vom Februar, worin erneut vor wachsenden sozialen Verwerfungen gewarnt wird, schimpfte Spiegel online in einem Kommentar als »Schwarzmalerei« und »alljährlichen Blues-Song« des Verbandes [9]. Schlimmer noch, so das Medium: Ein solches »Spiel mit dem Feuer« treibe die Menschen erst in die Fänge von »AfD-Politikern, NPD-Wirrköpfen und Pegida- Gröhlern« (Anm. d. Red.: Rechtschreibfehler im Original, richtig müsste es heißen: Gröler). Mit anderen Worten: Es gebe weder reale noch drohende Armut. Alles nur ein Märchen.

In die gleiche Kerbe schlug kürzlich auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) mit einem ganzen Dossier über angeblich eingebildete Armut. So titelte das Blatt Mitte April unter der Rubrik »Arm und Reich« mit »Das Märchen von der Altersarmut« [10]. Es gebe gar keinen direkten Zusammenhang zwischen Renten-»Reformen« und Armut, außerdem stiegen die Altersbezüge trotz allem schneller, als die Inflation, wiegelte das Blatt ab. In weiteren Beiträgen erklärte die FAZ die Angst jüngerer Menschen vor Altersarmut für völlig unbegründet. Schuld sei schließlich selbst, wer nicht genügend privat Vorsorge.

Globales Teilen und Herrschen

Schaut man auf den Globus, zeigt sich deutlich: Abbau sozialer Rechte, wachsende Erwerbslosigkeit und eine zunehmend prekarisierte Mittelschicht sind kein deutsches, sondern ein gesamteuropäisches und weltweites Problem. Kein Wunder: Wenn sich, wie derzeit, das Kapital in immer weniger Händen akkumuliert und die Reichen immer reicher werden, muss für immer mehr Menschen immer weniger übrigbleiben.

Mit der Vertreibung von Menschen von einem Fleck auf den anderen wird niemand die globalen Verwerfungen beseitigen können. Das Elend lauert überall. Spätestens seit dem Sturz des Ostblocks war es nur eine Frage der Zeit, wann es Europa und Deutschland in dieser Deutlichkeit erreicht. Soziale Daumenschrauben sind neben Kriegen die schärfste Waffe des Kapitals. Es geht gegen Lohnabhängige, ob beschäftigt oder erwerbslos, und Kleinunternehmer gleichermaßen. Was wir erleben, ist eine Ausplünderung des gesamten Planeten ohnegleichen.

Der Konkurrenzkampf am unteren Ende hilft den Herrschenden, ihr Plünderfeldzüge fortzusetzen. Gezielt werden Junge gegen Alte, Erwerbslose gegen Flüchtlinge, regulär Beschäftigte gegen Leiharbeiter, Niedriglöhner gegen Hartz-IV-Bezieher, Kleinunternehmer gegen Freiberufler und so weiter gehetzt. Erkennen die unteren Schichten dies nicht, droht ein Desaster ungeahnten Ausmaßes.

[1] http://taz.de/Obdachlose-in-Berlin/!5297952/

[2] http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/obdachlose-mitten-in-berlin-schiessen-kleine-slums-aus-dem-boden-aid-1.5924207

[3] http://www.bagw.de/de/presse/index~81.html

[4] http://www.zeit.de/gesellschaft/2015-07/obdachlose-keine-statistik

[5] http://www.br.de/nachrichten/tagesschau/altersarmut-rente-tagesschau-news-100.html

[6] http://www.t-online.de/wirtschaft/jobs/loehne-gehaelter/id_77635870/rente-mindestlohn-schuetzt-arbeitnehmer-nicht-vor-altersarmut-.html

[7] http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Alter-Rente/Datensammlung/PDF-Dateien/abbVIII37.pdf

[8] https://www.jungewelt.de/2016/04-19/021.php

[9] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armut-paritaetischer-wohlfahrtsverband-spielt-mit-dem-feuer-a-1078831.html

[10] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/was-wird-aus-der-rente/

 

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.


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