Rede des ARD- und arte-Journalisten Dr. Werner Köhne, Kolumnist der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand und Autor des Buches "Minima Mortalia".
"Das Schwierigste für Personen, die eingesperrt sind, ist die Monotonie. Ich versuche, jeden Tag so verschieden wie möglich zu gestalten, so unterschiedlich es geht – und es ist nie verschieden genug für mich."
So äußert sich Julian Assange in einem seiner Interviews. Leben heißt Verschiedenheit. Der Mensch allein und ohne sinnlichen Weltbezug, ohne Kommunikation mit anderen; das ist Isolationsfolter. In diesem Zustand trifft der Sonderbeauftragte der UNO für Folter, Nils Melzer, Julian Assange im Hochsicherheitstrakt eines Londoner Gefängnisses. Am Ende des Treffens berichtet Melzer, Julian Assange habe seine Hand etwas fester gedrückt als normal, mit dieser verzweifelten Bitte: "Please, save my life." Bitte retten Sie mein leben. – Wo sind wir hier: in einem schlechten Film – oder mitten in einer martialisch anmutenden Realität?
Julian Assange, der Erfinder von Wikileaks, befindet sich zur Zeit auch zwei Jahre nach dem Treffen mit Nils Melzer immer noch in der britischen Justizvollzugsanstalt Belmarsh, ausgesetzt einer Isolationsfolter, konfrontiert mit der täglichen Drohung, an die USA ausgeliefert zu werden, wo ihm 175 Jahre Haft oder gar die Todesstrafe drohen. Da wird ein Aufklärer, der mit Hilfe von Whistleblowern über Kriegsverbrechen berichten konnte, kaltgestellt – und mit ihm ein dringend notwendiges Korrektiv zur Macht.
Das etwas andere Profil
Eine erste Einschätzung: Julian Assange hat in einer Zeit, die in all ihren Turbulenzen für einen dramatischen Übergang in eine neue Epoche steht, die Gundlagen für Demokratie, Freiheit und – vor allem – Wahrheit neu justiert. Das ist sein Verdienst. Er war für sechs, sieben Jahre wie wohl kein zweiter der Phänotyp der Stunde. Das hat sich geändert. Mittels der wichtigsten Währung unserer Zeit, der Ökonomie der Aufmerksamkeit, haben Politik und willfährige Medien an ihm ein Exempel statuiert, im Verbund mit einer passiv dahintreibenden Mehrheit, die sich über den digitalen Dauer-Shitstorm ohnehin von sich selbst und seinen moralischen Werten zu entfremden droht. Beides sorgt dafür, dass alles irgendwie relativiert wird, austauschbar: Ereignisse, Überzeugungen, Charaktere. Es sollte also Zeit sein, die Bedeutung dieses Mannes für die Zeitgeschichte hervorzuheben.
Geht die Neuzeit zu Ende? - Ein Vergleich
Als Philosoph erlaube ich mir mal an dieser Stelle, ein wenig ideengeschichtlich herumzuwildern. Man fragt sich ja zuweilen: Wie war und ist in der Geschichte das Verhältnis von Kontinuität und Bruch? Was war jeweils das Neue – und wie stellt es sich dar in Kenntnis von Marshall McLuhans Diktum "Das Medium ist die Botschaft"?
Ich stoße 500 Jahre zurückgehend auf den Philosophen Blaise Pascal, der sich wie viele Denker damals um Einsicht bemühte, die neue Zeit auszuleuchten. Dabei fällt auf: Pascal fasst das Schicksal der Epoche überraschend modern, wie das folgende Zitat beweist:
"Die Tragödie des Menschen beginnt damit, dass er es nicht mehr aushält, allein und still in seinem Zimmer zu sein."
Was für eine Einsicht! Sie führt uns geradewegs in die Seelenlandschaft der späten Moderne – also in das Innere unserer Zeit. Blaise Pascal war nicht nur Philosoph, Mathematiker und Astronom, er war auch ein Kind seiner Zeit, für die Gott und die Heilsgeschichte noch ein existentiell gewichtiges Thema waren, getragen von einem aristotelischen, eher sanften Weltbild. Das löste sich indes auf, was eine tiefe Beunruhigung verursachte. In diesem Sinne ist Pascals zweites Zitat einzuordnen. Er spricht hier als jemand, der mit einem Bein noch im Mittelalter steckt.
"Das ewige Schweigen der unendlichen Räume macht mich schaudern."
Und wie steht es mit dem von Pascal erwähnten Schauder vor dem Unendlichen. Die kosmischen Räume beunruhigen uns ja kaum noch, auch nicht die Erfahrung, dass Gott in den ewigen Weiten des Alls irgendwie verschwunden scheint. Gleichwohl haben wir ein Problem mit dem Unendlichen. Wir leben in Zeiten unendlich flutender Informationen, hinter denen die Heilsgeschichte und das alte göttliche Maß der Wahrheit verschwinden. Was ist Wahrheit? Welche Rolle spielt sie noch?
Julian Assange und die Frage nach Wahrheit und Freiheit
Wenden wir uns wieder Julian Assange zu, um mit ihm zu fragen: Können wir bei der Wahrheitsfrage noch auf Informationen vertrauen, die geeignet wären, einen positiven Wandel in der Welt auszulösen?
Was läuft da offensichtlich schief? Eine einfache fast banale Antwort liefert Julian Assange in einem Interview. Darin stellt er sich die Frage, warum ein Dokument, das unbezweifelbar wahre Informationen über Kriegsverbrechen enthält, nicht von Journalisten wahrgenommen wird:
"Hierfür habe ich zwei Erklärungen: Die erste, wohlwollende Erklärung ist die, dass diese Personen nicht wissen, wie man eine intellektuelle Debatte führt. Sie sind durch die Mainstream-Medien gezähmt worden. Sie reagieren nur noch auf das, was die New York Times auf ihrer Titelseite schreibt. Ich denke, der Hauptgrund ist jedoch, dass viele nur schreiben, um ihre Konformität mit den Werten ihres Herausgebers anzupreisen." So ist es wohl. Julian Assange wollte diesem Trend zur Auszehrung der Wahrheit schon sehr früh begegnen.
In Julian Assange kreuzen sich in einmaliger Weise Biografie und Zeitgeschichte, "Zeitgeist" und der "Geist der Zeit". Gerade Letzteres bedarf der Erläuterung. Zeitgeist ist jenes schwankende Subjekt, in dem die Moden sich abwechseln. Der Geist der Zeit aber stellt die reflektierte Form der Einsicht in die Zeitläufe – frei nach Hegels Diktum: Die Philosophie ist die Zeit in Gedanken erfasst. Und die Gedanken sind geistig reflektierte Bewegungen in der Zeit.
Dies äußert sich bei Julian Assange schon früh. "Ich war ein sehr neugieriges Kind, das immer nach dem Warum fragte und Wissensgrenzen überwinden wollte, was dazu führte, dass ich im Alter von 15 Jahren Verschlüsselungssysteme knacken konnte, die beispielsweise die Weitergabe von Software verhindern oder mit denen Informationen auf Regierungscomputern versteckt werden sollten."
Will man es klarer formuliert haben? Da spricht der frühjugendliche Hacker, der spielerisch und doch in einigem Ernst sich der Frage nach der Entschlüsselung und Verschlüsselung gewichtiger Fakten und Informationen widmet – im Bewusstsein, hier- bei der Wahrheit verpflichtet zu sein und einer Gemeinschaft anzugehören, die zugleich das globale Dorf als Wirkungsfeld entdeckt. So was machte damals noch Spaß und erschütterte die Macht. So was brachte Assange zur Weltsicht der Aborigines, aber auch nach Kalifornien.
Dort lebte ein gewisser Steve Jobs mit dem ersten Apple-PC seine Hippie-Visionen aus, mit Hilfe von Start-Uppern, Nerds und kapitalistischen Geldgebern. Es lag da was in der Luft – und Menschen wie Assange spürten das. Aber diese Allianz aus Spiel, Traum und harten Dollars konnte nicht lange halten. Er ist 25 Jahre alt, als das Internet seinen Siegeszug beginnt. Man konnte fast glauben: Übernimmt die Jugend nun das Ruder? Oder die Piraten? Oder die Cyberpunk-Bewegung, der sich Assange anschloss:
"Das war eine Ansammlung von Leuten aus Kalifornien, Europa und Australien. Viele von ihnen hatten das Gefühl, dass die Beziehung zwischen Individuum und Staat verändert werden und der Staat von den Individuen auf Machtmissbrauch hin überwacht werden sollten." Aber – und das unterschied Julian Assange von all den Bewegten aus dieser Zeit, hießen sie nun Bill Gates, Mark Zuckerberg, Mister Irgendwer von Amazon oder Mister Irgendwie von Google, die heute die Welt über Datenabgriff und Cloud-Zentrierung regieren – Assange blieb konkret am Ball seiner Kindheitsträume und das Ergebnis war Wikileaks: Eine Konfrontation mit den Mächtigen.
Ist es Zufall, dass sich in meiner Spurensuche Steve Jobs und Julian Assange noch einmal "at the edge of time", auf der Klinge der Geschichte, kreuzten? 2006 inszenierte Jobs eine seiner legendären Apple Präsentationen in San Fransisco, schon mit den ersten Merkmalen von Krebs gezeichnet, aber deshalb umso mehr die Rolle des Messias ausfüllend, sein Gerät wie einen heiligen Gral in den Händen haltend vor einer devot eingestimmten Gemeinde, während Julian Assange im selben Jahr Wikileaks gründete.
Die neue Philosophie
Freiheit nach Assange: Sie bewährt sich nicht nur darin, Verbrechen und politische Mauscheleien der Herrschaftssicherung offenzulegen und zu entschlüsseln. Sie wird auch aktualisiert, wenn Techniken der Verschlüsselung angewendet werden – zum Selbstschutz der Aktivisten, aber auch als alternatives Lebenskonzept überhaupt.
Es ist erstaunlich, wie Assange dieses Konzept erweitert und abstützt. Etwa durch Anleihen aus der Physik, deren ruhig dahinströmenden Gesetze er zum Paradigma für Prozesse der Wahrheitsfindung nutzt. Ein Moment daraus: "Wir nehmen einen erstrebenswerten Endzustand und überlegen uns, welche Veränderungen nötig wären, um von unserem Ausgangsort dorthin zu gelangen. Damit möchte ich erklären, wie Informationen in der Welt bestimmte Aktionen verursachen. Falls der erstrebenswerte Endzustand eine gerechtere Welt ist, dann lautet die Frage: Welche Aktionen verursachen eine Welt, die gerechter ist?"
Man mag diese Verdichtung zwischen physikalischer Gesetzmäßigkeit und daraus abgeleiteter Moral naiv finden – eine Ideologie bietet sie nicht. Wo in unserem Leben finden wir Beharrung und die Sicht auf ein "Eu Zän", ein gelungenes Leben? Erinnert sei in diesem Zusammenhang an einen Wahrheitsbegriff, wie ihn Martin Heidegger im altgriechischen Begriff "Aletheia" vorfand.
Demnach ist Wahrheit kein in sich vereister Begriff, sondern beinhaltet einen Vorgang der Verbergung und Entbergung – ein Sein in der Zeit, das im Gegensatz steht zur starren Wahrheitstheorie sonst, in der zwischen Aussage und Sachverhalt unterschieden wird. Was all dies zeigt: Assange war und ist hier nicht nur investigativer Journalist, Politaktivist, Programmierer und Gründer von Wikileaks.
Er ist auch ein Verschlüsselungsingenieur, der in der Codierung in einer ansonsten mediengesteuerten Gesellschaft einen Baustein der Freiheit findet. Freiheit ist wohl nur noch da möglich, wo überschaubare Gemeinschaften entstehen, die ihren Willen zum Widerstand paaren mit der Bereitschaft zur "Amor fati"– der Gelassenheit und der Liebe zum Leben.
Zum Schluss noch eine Episode, die die gegenwärtige Situation markiert. Wieder greife ich auf Nils Melzer zurück. Der wird bei seinem Besuch im Auswärtigen Amt in Berlin mit Fragen konfrontiert, die in ihrer dumpfen Ignoranz einem die Haare zu Berge stehen lassen. Später wird er dazu wie folgt interviewt:
– Herr Melzer, warum befasst sich der UNO-Sonderberichterstatter für Folter mit Julian Assange?
– Das hat mich das Auswärtige Amt in Berlin kürzlich auch gefragt: Ist das wirklich Ihr Kernmandat? Ist Assange ein Folteropfer?
– Was haben Sie geantwortet?
– Der Fall berührt mein Mandat in dreifacher Hinsicht. Erstens: Der Mann hat Beweise für systematische Folter veröffentlicht. Statt der Folterer wird nun aber er verfolgt. Zweitens wird er selber so misshandelt, dass er heute selbst Symptome von psychologischer Folter aufzeigt. Und drittens soll er ausgeliefert werden an einen Staat, der Menschen wie ihn unter Haftbedingungen hält, die von Amnesty International als Folter bezeichnet werden. Zusammengefasst: Julian Assange hat Folter aufgedeckt, er wurde selber gefoltert und könnte in den USA zu Tode gefoltert werden. Und so etwas soll nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen?
– So viel zu Julian Assange und gutem denkkräftigen Journalismus à la Nils Melzer. Der herrschende Zeitgeist aber richtet sich gegenwärtig noch immer gegen den Geist der Zeit. Daran droht Julian, der für letzteren steht, zu zerbrechen. Was niemals geschehen darf. Niemals!
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