Das Phantom aus der Mason Street

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Niemand in San Francisco kannte seinen Namen, man nannte ihn einfach den General. General genannt zu werden, das war schon was in der Geary Street. Selbst David Apfelbaum, der Besitzer von »Davids Deli«, in dem der General umsonst essen durfte, wusste lediglich zu berichten, dass der Mann vor sechs Jahren kurz nacheinander Frau und Job verloren hatte und seitdem auf der Straße lebte. Seit sechs Jahren wanderte er im Financial District im Quadrat. Geary, Union Square, Taylor und Mason zwischen diesen Häuserblocks schritt er seine Zeit ab. Dabei trug er immer die gleichen Klamotten: Drillichjacke, Leinenrucksack, Jeans und Sandalen. Wenn der General Passanten um Kleingeld bat, dann geschah es unaufdringlich. Der Mann konnte allerdings auch ausrasten. Manchmal passierte es, dass er an einer Kreuzung stehen blieb, sich ein Opfer aus der Menge pickte und es unflätig beschimpfte. Die meisten Anwohner, die einmal Zeuge einer solchen verbalen Hinrichtung geworden waren, hielten ihre Sympathien für den General dennoch aufrecht. Obwohl niemand sicher sein konnte, nicht selbst Opfer einer solchen Attacke zu werden.

Eines Abends kam der General wieder einmal zu David ins Restaurant und bat um eine warme Suppe. Es war die Zeit, da die Theatergäste einen kleinen Snack zu sich nahmen, bevor sie im gegenüberliegenden Curran Theatre das »Phantom der Oper« besuchten. Der General wartete wie immer am Tresen auf sein Essen. Sein Blick streifte verloren über die Köpfe der Anwesenden, als er plötzlich irritiert innehielt. Seine Aufmerksamkeit galt einer bildschönen Frau in einem blauen Abendkleid, die sich an der Bar angeregt mit einem Herrn im Smoking unterhielt.

»Achten Sie nicht weiter auf sie«, sagte David, als er dem General die Suppe servierte. Die freundliche Mahnung schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen, denn sein Gast widmete sich nun ganz dem Verzehr. Allerdings zitterte der Löffel in seiner Hand, während sich die Frau im gegenüberliegenden Wandspiegel betrachtete. Plötzlich entdeckte sie den General und konnte ihre Augen nicht abwenden von ihm. Ihrem Begleiter blieb das nicht verborgen.

»Wer ist dieser Kerl?«, fragte er so laut, dass jeder der Umstehenden es hören konnte.

»George, bitte!«, zischelte sie.

»Was ist dran an diesem Penner, dass du ihn die ganze Zeit so anstarren musst!?«, hakte der Mann nach.

Der General legte den Löffel beiseite. Er war müde geworden am Leben, das spürte man. Er sah zu der Frau hinüber. Für einen Moment schien es, als würden seine Pupillen bei ihrem Anblick brechen. Auf dieser Blickachse wurden Erinnerungen verschoben, stillschweigende Bekenntnisse, Vorwürfe und Entschuldigungen. Das ganze Restaurant schien den Atem anzuhalten. Der Mann im Smoking rutschte vom Barhocker und baute sich vor dem General auf. Der sah durch ihn hindurch, er schien sogar dankbar zu sein, dass ihm jemand in die Sichtachse geraten war.

»Warum starren Sie die Lady so penetrant an, Mister?«, fragte der feine Herr und rückte die Fliege zurecht.

Der General reagierte nicht.

»Wieso glaubt jemand wie Sie überhaupt daran, dass sich eine Lady für ihn interessieren könnte?!«

Der Satz war kaum ausgesprochen, da flog dem Smokingmann die Suppe ins Gesicht. David griff beschwichtigend ein und schob den General sanft hinaus auf die Straße.

»Wer ist das?«, fragte dieser zitternd.

»Senator Adams«, antwortete David.

»Ist Meredith mit ihm zusammen?«

»Nein. Sie ist mit Raymond Hillary verheiratet«, sagte David. Er war gefragt worden, er hatte geantwortet.

»Raymond Hillary …« Der General ließ den Namen auf der Zunge zergehen. »Raymond Hillary …«, wiederholte er leise. Raymond Hillary war sein Vorgesetzter in Vietnam gewesen, er hatte ihm befohlen, zwei Dörfer auszuradieren, mit Mann und Maus, wie er sich auszudrücken beliebte. Als er sich weigerte, hatte ihn Hillary dem Militärgericht überantwortet. Raymond Hillary … Inzwischen hatte es das Schwein zum Verteidigungsminister der USA gebracht.

»Danke«, sagte der General und drückte David die Hand. David konnte sich nicht erinnern, wann dieser Mann jemals einem anderen Menschen die Hand gegeben hatte.

Der General befand sich wieder in seinem Quadrat. Bei Macys hielt er an, um sich das schwarze Kostüm im Schaufenster zu betrachten, das Meredith besser gekleidet hätte, als der blaue Fummel, den sie heute Abend trug. An der Cable-Car-Station packte »Magic Ken« seine Ausrüstung zusammen. Seit zwei Jahren stand der silberne Clown auf einer Apfelsinenkiste und erging sich in pantomimischen Zuckungen. Das Publikum liebte ihn, jedenfalls war sein Hut nach jeder Vorstellung prall gefüllt mit Dollarscheinen.

Der General nahm den Weg durch die Grünanlagen des Union Square. Neben dem Geldautomaten in der Taylor Street blieb er stehen. Natürlich wurden die Leute nervös, die dort ihre Scheine zogen. Aber da er sich nicht rührte, gaben sie ihm freiwillig mehr, als er erhofft hatte. Es war kurz vor Mitternacht, die Theater hatten geschlossen, die Sirenen der Krankenwagen brachen sich nur noch selten in den Straßenschluchten und die Homeless verkrochen sich in den Hauseingängen. Ein Dutzend Mal hatte der General das Viertel heute Abend umschritten, und immer noch marschierte er stramm vorwärts, als sei es ihm unmöglich, die Motorik zu stoppen, die ihn seit der überraschenden Begegnung mit seiner Ex-Frau in Gang hielt.

Jetzt näherte er sich zum dreizehnten Mal dem Nachtclub in der Mason Street, durch dessen halb geöffnete Tür ein roter Lichtstreifen auf die Straße fiel. In der kleinen Seitengasse direkt hinter dem Club standen die Müllcontainer des Fairmont-Hotels. Er trat einige Schritte in das Dunkel, um an einer Mauer Wasser abzuschlagen. Als er sich die Hose zuknöpfte, stieß er mit dem Fuß gegen ein Bein. Neben ihm lag ein Mann am Boden. Er hatte einen Smoking an, und seine Lackschuhe glänzten im Licht des Mondes. Der General bückte sich und drehte den leblosen, aber noch warmen Körper auf den Rücken. Es war der Kerl, mit dem er bei Davids aneinander geraten war! Um seinen Hals hing eine Drahtschlinge und aus den Augen sickerte Blut.

Der General wischte seine Finger an der Drillichjacke ab. Plötzlich sprang jemand hinter dem Müllcontainer hervor und rannte an ihm vorbei auf die Mason Street. Der Flüchtige zog das rechte Bein stark nach. Hillary!, fuhr es dem General durch den Kopf. Hillary war in Vietnam angeschossen worden, seitdem humpelte er und zog beim gehen das rechte Bein nach! Nur weg hier!, fuhr es dem General durch den Kopf, die Geschichte glaubt dir doch kein Mensch! Ein Streifenwagen trudelte vorbei. Einer der Beamten leuchtete mit der Taschenlampe in die Gasse, ihr Schein traf den General mitten ins Gesicht. Er hob die Arme, denn er wusste, dass die Cops nicht lange fackelten. Als die Handschellen klickten, hatte er das sichere Gefühl, am Ende eines langen Weges angekommen zu sein.

Es war nicht einfach, eine Besuchserlaubnis für das Staatsgefängnis von St. Quentin zu bekommen. Schon gar nicht für Untersuchungshäftlinge. Aber Mr. Apfelbaum hatte Beziehungen zum Bürgermeister. Er wartete schon eine ganze Weile in dem schmucklosen Besucherzimmer, als endlich zwei Wachtposten den Gefangenen herein führten und sich neben der Tür aufbauten. David und der General sahen sich lange schweigend an.

»Ich war es nicht, David«, sagte der General schließlich.

»Ich weiß, mein Freund«, antwortete David.

»Haben sie noch die Todesstrafe in Kalifornien?«, fragte der General und drehte am Ehering, den David zuvor noch nie an seiner Hand bemerkt hatte.

„Ja“, antwortete David kaum hörbar.

Der General verschränkte die Arme im Nacken und blickte an die Decke. David erhob sich und ging langsam hinaus. Der General dankte es ihm mit einem Lächeln …  

PS: Dies ist einer von zwölf Kurzkrimis, deren Vermarktung ich in den achtziger Jahren einer Agentur für Trivialliteratur überlassen hatte. Ich hatte meinen Job bei einer Zeitung gekündigt und brauchte Geld, das allerdings auf sich warten ließ. Irgendwann folgte ich dem Rat der Presseagentur GPH, die mir folgendes schrieb: „Lieber Herr Fleck, geben Sie es auf, Sie lernen es nie! Ich muss so deutlich werden, sonst schreiben Sie sich noch die Finger wund. Die Leute wollen etwas fürs Gemüt und keine literarischen Verrenkungen.“

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: HWWO Stock / shutterstock

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Kommentare (3)

3 Kommentare zu: “Das Phantom aus der Mason Street

  1. Der General ist ein jeder, der in einem System wie diesem zurecht kommen muss und letztlich scheitert, weil er die letzte Hürde, das Ablegen seiner Menschlichkeit, nicht nimmt.
    Genau genommen kann man in diesem System nur Karriere machen, wenn man diese Hürde nimmt. Doch um welchen Preis macht man dann Karriere? Um den des Verlustes seins Menschseins. Da kann ich verstehen, dass der General froh ist, diese Welt zu verlassen.
    Ich hoffe nur, die Karrieristen finden ihre Menschlichkeit zurück, befürchte jedoch, sollten sie das tun, würden sie ihr eigenes Tun so abscheulich finden, dass sie sich wünschen, diese Welt zu verlassen.

  2. fredan sagt:

    Ich danke auch. Vor allem, weil ich selbst auf meine Todesstrafe sehnlichst warte, ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht. Gefoltert mit Lärm und angeblichem BrainComputerInterface, verfolgt von einer Bande Krimineller, die sich als "True Unity" im Zeichen ihrer Gewalt bezeichnet. Ich, dann auch bald befreit von diesdem ranzigen Volk, kann den General gut verstehen. Immerhin er hat es geschafft.

  3. marinasil sagt:

    Herzlichen Dank für den Artikel jenseits von Politik. Der kritische, politisch interessierte Leser kennt die Hintergründe des Ukrainekrieges, den Genozid in Palästina, das Impfdesaster und starrt dabei auf das politische Geschehen, wie Mowgli auf die Schlange – erstarrt vor Angst. Die brauchen wir nicht. Angst gebiert Angst. Nochmals, danke dass der Leser in eine Welt geführt wird, die sicherlich keine Lovestory ist, aber dennoch von dem zentralen Geschehen ablenkt.

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