Ein Meinungsbeitrag von Nora Düsterhöfft.
Warum wirbt das World Economic Forum (WEF) auf seiner Website für die Unterstützung von queerem Leben? Ein Akt moralischer Selbsterweiterung? Das WEF zögert nicht, seine Beweggründe, die LGBTQ-Inklusion zu propagieren, schwarz auf weiß zu benennen:
"There are clear business and moral imperatives for LGBTQ-inclusion in media, advertising and other communications."
Selbst in einer perfekten Welt, in der das wirtschaftliche, rechtliche und geistige Leben im Sinne des Gemeinwohls harmonieren, wäre ein solcher Satz empörend. Eine Frage der LGBTQ-Inklusion ist grundsätzlich eine (menschen-)rechtliche und keine wirtschaftliche. Das WEF macht keinen Hehl daraus, den Menschen als homo oeconomicus einem humanistischen Menschenbild, das den Menschen noch als Zweck selbst setzt, vorzuziehen. Doch nicht nur aus Imagegründen schreibt sich das WEF den Regenbogen auf die Fahne. Die queere Anthropologie definiert den Menschen als willkürliche Konstruktion, die von der metaphysischen Kraft des Sozialen ins Leben gerufen wird. Die absolute gesellschaftliche Konstruiertheit des menschlichen Daseins lässt sich auch als Ideologie der Kontingenz (Nichtnotwendigkeit) oder als Nihilismus bezeichnen. Der neoliberale Staat setzt eben eine solche Leerstelle, das spirituelle Vakuum, voraus: die Auferlegung der Kontingenz oder Zufälligkeit jeglicher menschlicher Eigenschaften ist die Voraussetzung seiner Kontrolltechnologie, eben nicht mehr die repressive Zuschreibung von (sexuierten) Eigenschaften, die von der queer Theorie jedoch als das letzte pièce de resistance anvisiert wird. Was haben queere Theoretiker verpasst?
Die Philosophin Dr. Tove Soiland (die aufgrund ihrer Kritik an der Corona-Politik einen Arbeitsplatz verlor) spricht von einem neuen gesellschaftlichen Phänomen: dem Missbrauch einer linken Wertehaltung für die Interessen des technokratischen Feudalismus, einer neuen Koalition zwischen Kapital und vermeintlich linker Ideologie. Die Gender-Standardformel erscheint als Ausdruck einer – im negativen Sinne – biederen Mentalität, die auf beschränkte Weise rechtschaffend neo-kapitalistische Strukturen ideologisch unterfüttert: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Wie der Philosoph und Publizist Michael Andrick in einem Interview äußerte: angesichts größter Absurdität und in diesem Fall absurd auffälliger Scheinheiligkeit, helfen nur die Mittel der Parodie, der Satire und der Polemik.
Die neue Koalition zwischen Kapital und vermeintlich linker Wertehaltung.
Mich befiel schon immer Unbehagen angesichts queer-femistischer Theorie. Auch als ich selbst noch einige Thesen verteidigte in jugendlicher Kampfeslust und dem Übermut der Überlegenheit, die erste gesellschaftskritische Einsichten begleiten – Wissen, auch oder gerade wenn es Halbwahrheiten umfasst, macht arrogant, und der Wille zur Macht ist ein Wächter, der dem Intellekt treu ergeben ist. Ich hörte mich argumentieren und glaubte mir doch selber nicht ganz. Dem Evidenzgefühl, das die Stimmigkeit oder eben Unstimmigkeit eines Gedankens oder einer These beurteilt, bin ich immer gefolgt.
Capitalism never breaks. It bends. In this Case: It queers.
Die feministische Theoretikerin Soiland macht auf einen historischen Umstand der Theoriegeschichte aufmerksam. Betrachtet man die radikale Kritik an der Heteronormativität vor dem Hintergrund von realen politischen Entwicklungen in den 90er Jahren, springe eine Koinzidenz ins Auge, „von der man sich wundern kann, dass sie bisher nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich zog." Die historische Synchronizität der Entstehung des Neoliberalismus und der politischen Theorie und Praxis von Queer spiegelt sich in einer allzu harmonischen Verschränkung von queerer Anti-Anthropologie und wirtschaftlicher Strategie wieder. Die Frage, ob
„die von der Geschlechtertheorie angestrebte Destabilisierung von Identitäten nicht einfach den Bedürfnissen des neoliberalen Arbeitsregimes entspreche",
wird ergänzt durch Soilands mit Blick auf Foucault formulierte These, dass das gender-Theorem, entgegen der eigenen Selbsteinschätzung, nicht als subversiv bezeichnet werden könne. Sie argumentiert mit Lacans Sprach- und Subjektverständnis und in einem Artikel merkt sie an, dass die Theorie aus Komplexitätsgründen nicht umfassend dargestellt werden kann. Ich muss zugeben, dass Soilands Texte keine leichte Lektüre sind. Doch wenn der gesamte Habitus der woke army auf irritierende Weise bieder bis repressiv daherkommt, erscheint dieses Phänomen umso bedenkenswerter, wenn dieser Eindruck von philosophischer Seite aus bestätigt wird.
Die queere Kritik, die sich auf Butlers Interpretation von Lacan und Althusser bezieht, geht davon aus, dass die geschlechtliche Subjektpostion durch die gesellschaftliche Auferlegung einer Kohärenz sprachlich konstruiert wird. Soiland argumentiert, dass dieses Subjektverständnis in zentralen Aspekten sowohl dem Sprachverständnis Lacans als auch demjenigen Foucaults widerspricht. Dieses sogenannte französische Subjektverständnis, werde gerade im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert.
Die Vorstellung eines machtkritischen, das heißt subversiven Potentials des Inkohärenten kollidiert mit einem postrukturalistischen Machtverständnis.
Um das wirklich zu verstehen und zu durchdringen, bleibt nur: selber lesen und schwitzen.
„Dementsprechend will dieses Laissez-faire auch das Verhalten der Individuen nicht selber leiten, sondern lediglich auf ihr Umfeld Einfluss nehmen, in einer Weise, dass deren latente Ungewissheit von sich aus das Verhalten der Individuen bestimmt. Diese Machttechnologie muss nicht nur darum besorgt sein, sich die Freiheit der Individuen zu erhalten, sondern sie wird diese als die für sie wichtigste Ressource gleich selber verordnen (2004b, 96 f.; 2004a, 76 f.; 1987, 256). Wenn Foucault also im Zusammenhang mit der neoliberalen Regulation von „Kontrollgesellschaft" spricht und in diesem Zusammenhang von 'Sicherheitstechnologien' oder einem 'Sicherheitsdispositiv' (2004a, 96 ff), so meinen diese Begriffe gerade nicht eine rigide Kontrolle der einzelnen Individuen, sondern ganz im Gegenteil die aktive Schaffung von Kontingenzen, in welchen sich die Individuen vermittels ihrer Kreativität selbst zurechtzufinden haben."
Die „Freiheit" des Individuums, die in der Durchkreuzung von vermeintlich eindeutigen, sexuierten Subjektpositionen einer binären, heterosexuellen Matrix ihre höchste Vervollkommnung sucht, ist also auch der Ort neoliberaler Machtausübung.
Nicht mehr die Auferlegung einer Kohärenz, sondern die Auferlegung einer Kontingenz ist das Korrelat zu einer Kontrolltechnologie des neoliberalen Staates.
Das zentrale politische Instrument des queeren Liberalismus ist ihr vehementes Eingreifen in die Sprache. Diese folgt logisch aus den (fraglichen) Grundannahmen, dass die Auferlegung kohärenter geschlechtlicher Positionen durch den sprachlichen Diskurs generiert wird und über diese Anrufung sich der Körper materialisert und dabei eine staatliche Disziplinierung der Seele stattfindet. Vor dem Hintergund, dass gerade durch diese verordnete „Freiheit" neoliberale Machttechnologie operiert, erscheint das staatlich verordnete Gendern der Sprache als neokolonialistische Praxis, die ein kulturelles Erbe im Namen eines neoliberalen Kontingenzfetischismus, wie Andrick es formuliert: "ideologisch überfachtet". Der Geist einer Sprache wird mit beiläufiger Abfälligkeit und Ignoranz behandelt. Ein jahrtausende altes Kulturgut wird im Namen der Kontingenz ideologisch verformt.
Die ideologische Instrumentalisierung der Sprache durch das Gender-Diktat dient der neoliberalen Kontrolltechnologie
Die Schaffung von Kontingenzen und Sprachlosigkeiten zeigt sich auch in der theoretischen Strömung des Neuen Materialismus, einer nahe Verwandten des queeren Liberalismus, der sich programmatisch weigern will, im Namen der Kritik am Anthroprozentrismus die Frage nach der Kategorie Mensch überhaupt noch zu stellen. Wenn bereits das Fragen als Ausdruck von potentieller Diskriminierung gesehen wird, sollte man sich aktiv zur Diskriminierung bekennen - im Sinne der wertneutralen Bedeutung des Wortes: lat. discrīmināre 'trennen, absondern, unterscheiden'. Auch hier trägt die Erzeugung von analytischen Leerstellen dazu bei, dass, laut Pia Garske, mit der Überwindung des Menschlichen im Namen der individuellen Freiheit eine Sprachlosigkeit entstehe, aus der „die Unmöglichkeit erwächst, real existierende Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse zwischen Menschen noch benennen zu können." Doch nicht nur das: Einen Menschen durch mehr weniger subtile Schmähung in die Sprachlosigkeit zu treiben und seinen Selbstausdruck zu verunsichern, ist ein wuchtiges Mittel, seine Seele zu brechen.
Das gender-Diktat greift in die Subjektbezeichnung ein. In dem es die vermeintlich kohärenten binären Positionen durchkreuzt und so vermeintlich befreit, wird – Foucaults Analyse entsprechend – ein Raum der Kontingenz (der Sinnlosigkeit) geschaffen, der die Ermöglichung einer individuellen Selbstbestimmung vorgibt. Dabei ist die durch den Unterstrich erzeugte Leerstelle Zeichen einer abgründigen Bedeutungslosigkeit.
Der gender-Unterstrich ist quasi die konkrete Poesie des Neoliberalismus.
Dass es sich bei dieser Leere um eine Pseudo-Freiheit handelt, habe ich versucht, weiter oben nachzuzeichnen. Die Verunsicherung und Hemmung des spontanen – freien – Selbstausdrucks schafft eine Sprachlosigkeit, die sich bis zu – der neoliberalen Kontrolltechnologie entsprechenden – selbstauferlegten Denkverboten ausweitet: In einem Seminar der Gender Studies beichtete eine junge Studentin, dass sie an sich selbst beobachtet habe, eine Frau als Frau wahrgenommen zu haben (dies eine stimmige Korrelation von Objekt und Urteil). Sie schämte sich also ihrer sündigen Gewohnheit, die gesellschaftliche Auferlegung von Kohärenz zu reproduzieren.
Trotz all dieser zum Himmel stinkenden und schreienden Allianzen zwischen pseudo-linker Ideologie und Kapital, werden Einwände in einschlägigen Medien der queer-Community, soweit ich das bisher überblicken kann, auf Ängste, Ressentiments und Verunsicherungen der Kritiker zurückgeführt, die mit einem selbstgenügsamen Gestus der Bemitleidung kommentiert werden. Die führende gender-Forscherin Paula-Irene Villa meint:
„[...] aber manche trauern einer geordneten Natürlichkeit hinterher, die sie phantasieren. Da verstehe ich, dass das die Leute als Verlust empfinden. Und wenn wir an Rollenbilder denken, hat es auch etwas mit dem Prekärwerden bestimmter Männlichkeiten zu tun. D.h. Männer müssen zunehmend auch lernen, was Frauen schon lange erfahren, nämlich sich selbst als Geschlecht wahrzunehmen und als solches zu gestalten: Diät machen, Haare färben usw. Da sind ja auch neue Zwänge damit verbunden. Ich denke, da ist für die Männer in der sozialen Wirklichkeit einiges in Bewegung geraten, was sie verunsichert."
Angesichts des säkularen Totalitariusmus der queer Theorie, seiner theoretischen Defizite und der hiermit verbundenen Eignung, das neo-kapitalistische und technokratische Paradigma mit einer politischen Epistemologie zu unterfüttern, erscheint es mir kurzsichtig und nicht besonders verständig, Widerstände allein auf Diäten zurückzuführen. Und ja: Wer angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklung nicht verunsichert ist, hat seinen gesunden Menschenverstand an der Garderobe abgegeben. Meines Erachtens rührt der instinktive Widerstand der Menschen, darunter Männern, die erst seit dem Feminismus entdeckt haben sollen, dass sie auch ein Geschlecht haben, nicht selten darauf, dass irgendetwas nicht ganz stimmig ist an dem Ganzen. Wie meine Erklärungsversuche oben vermitteln, sind gerade neo-kapitalistische Machtsicherungsstrategien dadurch gekennzeichnet, dass sie mit Pseudo-Idealen operieren, die dem Original so nahe kommen, dass sie ein großes Verführungspotential besitzen und nicht ohne Weiteres entlarvt werden. Sogar für einen geschulten Akademiker ist die Durchdringung mehr als anspruchsvoll. Wenige Menschen haben die Ressourcen, ihre Intuition, ihren Sinn für Wahrheit, zu erklären.
„Es gibt nur einen lächerlichen DFB und zwei Geschlechter!"
Der Mensch, gerade der nicht Verbildete, hat manchmal einen besseren Instinkt für Integrität und Kohärenz, begründet diese dann leider mit den falschen Argumenten oder wendet sich einfach ab. Umgekehrt hätten die akademisch Geschulten das begriffliche Werkzeug, nur sind sie viel eher entfremdet von einem bodenständigen und menschlichen Wahrheitsgefühl. Gerade deswegen braucht es ein Band zwischen Intellektuellen und anderen Bevölkerungsgruppen, die linke Intellektuelle wie Noam Choamsky noch verkörpern. Der in der Überschrift zitierte Banner-Spruch ist definitiv diskriminierend gegenüber dem Deutschen Fußball-Bund, natürlich kein Angriff auf die Trans-Jugend und bezieht sich auf die unsichtbare Tiefenschicht des queeren Liberalismus. Man muss nicht Lacans Subjekttheorie verstehen um festzustellen, dass die queere Anthropologie die Grenze zur Absurdität weit überschritten hat. Die Koalition zwischen Pseudo-Linker politischer Epistemologie und Kapital ist realer als deren vordergründige Anti-Diskriminierungsagenda. Die Fußballfans wissen: Alles in allem ist das eine Farce. Lächerlich. Und da haben sie Recht, ohne eine Zeile Foucault gelesen zu haben. Aber natürlich ist es einfacher auf Fußballfans, die eher nicht im bildungsbürgerlichen Milieu beheimatet sind, herunterzuschauen und deren beherzte Direktheit als diskriminierende Geste zu diffamieren.
Junge Männer, die sich die Nägel lackieren: ästhetische Streitfrage, in den seltensten Fällen Subversion.
Der CSD tut als ob Freigeist, spielt jedoch schon lange nur noch mit dem unerfüllten Transzendenzbegehren (der spirituellen Obdachlosigkeit) und der sexuellen Hitze der Jugend, die sich in Enthemmung und Rausch erfüllen soll. Sie müssen nicht mehr nach Mallorca fahren (ist teuer und außerdem müsste man fliegen, und das heimlich) – Ballerman +, das heißt: Sau rauslassen mit weißer Weste und Social Credits, gibt's direkt vor der Haustür. In dem Fall kein böses Erbe der Aufklärung, sondern Erbe der 68er Bewegung, denen man doch auch vorwerfen kann, sexuelle Freiheit an die Logik des Konsums geknüpft zu haben, die sich an die Individualitätsvorstellungen des neoliberalen laissez faire nahtlos anschließt. Wie gesagt. Jeder soll machen. Und wenn es politisch, philosophisch im Namen der Freiheit geschieht? Auch das Phänomen, dass junge Männer sich die Nägel lackieren – tja, ich weiß nicht. Foucault würde sagen: ästhetisch diskutierbar, aber subversiv?: unwahrscheinlich. Ich plädiere dafür, statt Nagellack und Drogenkonsum Soilands Lesart des späten Foucault zu verstehen. Und ich gebe zu: Queere Partys sind lustiger.
Quellen und Anmerkungen
Videos: - Interview: Warum politische Moralisierung gefährlich ist - Publizist und Philosoph Michael Andrick, unter https://www.youtube.com/watch?v=pnN2tQHUfJ8 (zuletzt aufgerufen am 27.02.2024) - Interview: Feministische Trigger-Themen: Gleichberechtigung, Biologie und "Queer-Feminismus" - Dr. Tove Soiland https://www.youtube.com/watch?v=JS4q98DVbhg, (zuletzt aufgerufen am 27.02.2024) Artikel und Monographien - Garske, Pia: What's the „matter"? Der Materialitätsbegriff des „New Materialism" und dessen Konsequenzen für feministisch-politische Handlungsfähigkeit. In: PROKLA. Nr. 174, Jg. 44/Nr. 1, 2014, S. 111–129, S. 123. - Meissner, Hanna: Von der Romantik imaginärer Verluste: Bringing the material back in? In: Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft. Band 23, Nr. 2, 2014, S. 106–115, S. 106. - Soiland, Tove : ‚Gender': Kontingente theoretische Grundlagen und ihre politischen Implikationen, o.O. [online] 2009. + Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische Perspektiven auf die Gegenwart, Münster 2022. (Dort finden Sie auch weitere Angaben zu Primärquellen (Lacan, Foucault etc.).) - Villa, Paula-Irene: Feminismus oder Grundlagenforschung [Interview], [online] https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/gender-studies-paula-villa-100.html (zuletzt geöffnet am 23.08.2023) +++ Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: esfera / Shutterstock.com
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