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Buchrezension: "Corona-Schicksale"

Buchrezension: "Corona-Schicksale"

Eine Rezension von Paul Soldan.

Fünf Jahre sind seit der Ausrufung der Corona-Pandemie vergangen. Eine Krise, die seit Bestehen der BRD die einschneidendsten Grundrechtsbeschränkungen und massivsten Ausgrenzungen von Bevölkerungsteilen hervorgerufen hat. Seit wenigen Monaten lassen sich hin und wieder halbherzige Forderungen nach einer Aufarbeitung in der Öffentlichkeit vernehmen, die aber, kaum dass sie ausgesprochen sind, gleich wieder verstummen. Von einer echten Aufarbeitung ist nach wie vor keine Spur. Obwohl die Veröffentlichung der RKI-Protokolle im Jahr 2024 der Justiz und der Presse ausreichenden Anlass dazu bieten.

Doch noch immer ist das Thematisieren der teils unmenschlichen Geschehnisse in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft ein Tabu. Ohne Aufarbeitung kann aber keine Heilung entstehen, und ohne Heilung wird es für die Gesellschaft schwer bis unmöglich, wieder zusammenzufinden. 

Damit das Unrecht aus der Corona-Zeit nicht vergessen wird, hat der Germanist und Autor Eugen Zentner eine Kurzgeschichten-Sammlung verfasst. „Corona-Schicksale“ lautet der Name seines literarischen Debüts, in dem sich Zentner jenen Jahren widmet und die verschiedenen Schicksale darstellt, die bis heute erschauern lassen. Es geht um Themen wie Denunziation und Polizeigewalt, um Diffamierung Andersdenkender und soziale Ausgrenzung, um Vereinsamung und berufliche Überforderung. 

Erschienen ist das Buch 2025 im „massel Verlag – Bücher wie Glück“, der mit seinen Werken Brücken bauen möchte, zwischen der Vergangenheit und der Moderne, zwischen Geschlechtern und Generationen, zwischen Analogem und Digitalem.

Mit seinen fünfzehn Kurzgeschichten nimmt Zentner den Leser mit auf eine Reise, die beim ersten Lockdown beginnt und im Winter 2021/2022 endet. Die dargestellten Corona-Schicksale wirken auf den ersten Blick wie reale Erfahrungsberichte, sind jedoch rein fiktiv. Eindrucksvoll lässt Zentner die Stimmung jener Tage wieder aufleben. Nicht wenige dürften sich mit selbst gemachten Erfahrungen in den Geschichten wiederfinden. Die Figuren sind klar und gut gezeichnet, wodurch man als Leser schnell Kontakt zu ihnen aufbaut und sich in ihre Situationen sowie in die Ängste und Nöte einfühlen kann. 

Was Zentners Kurzgeschichten mit der damaligen Realität so stark verbindet, sind die intensiven Gefühlszustände und Leitgedanken, die sich stets in den Corona-Schicksalen in unterschiedlicher Ausprägung wiederfinden. Häufig prangen sie darüber wie unsichtbare Zusatzüberschriften.

Vernunft

„Vernunft“ war eine der Hauptdevisen und sinnbildhaft für diese Zeit. Vernünftig zu sein stand fortan nicht mehr dafür, durch nüchterne Überlegungen rational abzuwägen, sondern den verordneten Regierungsmaßnahmen unhinterfragt zu folgen – unabhängig wie unvernünftig diese auch waren. Wer einmal als „unvernünftig“ identifiziert worden war, bekam schlagartig Schwierigkeiten mit seiner Glaubwürdigkeit. 

So ergeht es auch Maurice, der gegen die nächtliche Ausgangssperre verstößt, nachdem er einen panischen Anruf von seiner Freundin erhalten hat, in dem sie ihn anfleht, schnellstmöglich zu ihr zu kommen. Als er auf dem Weg zu ihr von zwei Polizisten angehalten wird, gelingt es ihm nicht, trotz eindringlicher Worte, sie von seiner Notsituation beziehungsweise der von seiner Freundin zu überzeugen. „‘Wären Sie als Maßnahmenkritiker‘, er [der Polizist] betonte dieses Wort mit sichtbarer Häme, ‚vorher nicht negativ aufgefallen, fiele es uns nicht so schwer, Ihnen zu vertrauen.‘“ Ein wütender Facebook-Post und eine Festnahme auf einer Demonstration kurz zuvor genügen, um ihn aus Sicht der Beamten in ausreichenden Misskredit zu bringen.

Fassungslosigkeit

Dieser neuen Vernunft folgte nicht selten das Gefühl enormer Fassungslosigkeit. Ab einem gewissen Punkt schien es schier unmöglich gewesen zu sein, seine Mitmenschen mit tatsächlicher Vernunft und Argumenten zu erreichen. Dies durchzog Freundes- und Kollegenkreise, Familien sowie auch alle anderen Bereiche.

Wie es Nina während einer einfachen Bahnfahrt erlebt. „Sie benahmen sich nicht wie Menschen, sondern wie Tiere“, denkt sie sich, als ein selbsternannter Corona-Sheriff sie in aggressivem Ton auffordert, ihre Maske aufzusetzen. Dass sie, aufgrund von leichtem Asthma, ein Maskenattest besitzt, interessiert ihn wenig wie auch viele andere Passagiere, die in paranoider Panik mit gewetzten Klauen und gefletschten Zähnen auf die kompromisslose Einhaltung der starren Regeln beharren. Ninas Rechtfertigungen bleiben zwecklos, wodurch sie sich unvermittelt in der ausweglosen Situation „einer gegen alle“ wiederfindet. Vernunft und Mitgefühl der Fahrgäste sind nicht mehr zu fassen. Weder für Nina noch für die Gäste selbst.

Ohnmacht 

Eines der wohl schwerwiegendsten Gefühle, mit dem sich nicht nur die Betroffenen aus der realen Pandemiezeit konfrontiert sahen, sondern auch jene aus Zentners Corona-Schicksalen, war Ohnmacht. Denn egal, was man auch versuchte, sie war nicht zu beseitigen. Es war die Ohnmacht, nicht mehr zu seinen Mitmenschen durchzudringen, vom Staat wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden und sich gegen dessen Übergriffe und Gängelungen nicht wehren zu können sowie die Ohnmacht, von der Gesellschaft wie ein Mensch zweiter Klasse angesehen zu werden.

Ganz besonders schmerzlich waren die Konflikte innerhalb der eigenen Familie, wie es die Geschichte „Weihnachtspieks“ erzählt. „‘Mutter, frag sie bitte, ob sie sich hat testen lassen‘“, befiehlt Lisas Bruder Peter in scharfem Ton, als sie zum Weihnachtsessen in den Flur tritt. Peter ist geimpft, Lisa nicht, was für ihn ein nicht hinnehmbarer Zustand ist. Vehement fordert er von seiner Schwester mehr Vernunft ein, hält sie panisch auf Abstand und besteht auf einen Test. Als Lisa fragt, wovor er solche Angst habe, da er doch schließlich durch seine Impfung geschützt sei, weicht er aus. „’Lenk nicht ab‘“, raunt er und versteht dabei nicht, dass sich seine eingeforderte Vernunft bei ihm selbst ins Gegenteil verkehrt hat. Die Mutter befindet sich zwischen den Stühlen und reibt sich beim Versuch, es beiden Seiten recht zu machen – was einfach nicht möglich ist –, immens auf. Für sie zählt nur der Weihnachtsfrieden. Jedoch versteht auch sie nicht, dass ein Diktatfrieden, bei dem sich Lisa der Paranoia ihres Bruders vollständig unterordnen soll, nur ein Scheinfrieden ist, der mit echtem Frieden und Harmonie nichts zu tun hat.

Diese Geschichte zeigt mustergültig, wie auf verloren gegangene Vernunft Fassungslosigkeit folgt, da die Dreistigkeit Peters, Lisa seine Panik eins zu eins überstülpen, sie schlicht überfordert, und wie sie anschließend mit einem Gefühl lähmender Ohnmacht zurückbleibt, da niemand sie versteht und niemand auf ihrer Seite ist.

Zentners fünfzehn Kurzgeschichten berühren, machen wütend und auch traurig. Sie wühlen auf und lassen den Leser das Surreale dieser Jahre noch einmal spürbar nachempfinden. Sie sind ein wichtiger Beitrag, um die schmerzlichen Erlebnisse nicht zu vergessen. Schließlich wird uns diese Zeit noch eine ganze Weile begleiten. Zudem sind die Corona-Schicksale auch aus künstlerischer Sicht überaus wertvoll, da sich Autoren dem Thema bislang hauptsächlich in Essays und Sachbüchern gewidmet haben. Eugen Zentner hat das Thema "Corona" nun auch in die Literatur gebracht.

Hier geht es zum Buchkauf: https://www.masselverlag.de/Programm/Corona-Schicksale/

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: massel Verlag


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