Außer Atem

Ein Beitrag von Dirk C. Fleck.

Dieser Sommer geht einem an die Gurgel. Er nimmt uns den Atem. Und so schnappen wir nach Luft wie Ertrinkende, die sich kurz an die Wasseroberfläche gekämpft haben. Unsere hektischen tiefen Atemzüge hören sich nicht nur komisch an, sie sehen auch komisch aus. Man sieht und hört sie überall: beim Bäcker, im Bus, auf der Straße, beim Friseur, im Café, egal, die Menschen ringen um ihr Leben. Sie sind schon ganz blaustichig im Gesicht …

Oder bilde ich mir das ein? Bin ich etwa der Einzige, der sich regelmäßig gezwungen sieht extrem tief zu atmen, um die Lunge jedenfalls ahnen zu lassen, was sie mit Sauerstoff alles anstellen kann? Jemanden am Leben zu halten beispielsweise. Dass sich bei diesem krampfhaften Bemühen eine gewisse Blutleere im Gehirn breit macht, bleibt nicht aus. Dabei stellt sich die Welt einem plötzlich anders vor, sie scheint aus der Zeit gefallen, als hätte sie sich das Raum-Zeit-Kontinuum abgestreift wie ein Kleid. Da passiert nichts mehr linear. Die Botschaften und Einsichten, die mein Unterbewusstsein dem Meer der Möglichkeiten entnimmt, wie es die Quantentheorie nennt, passieren meine Sinne wie am Fließband und keine nimmt sich wichtiger als die andere. Umgekehrt sehe ich mich außerstande, irgendeine Bewertung vorzunehmen. Als sei mir von höherer Warte ein Urteil nicht mehr gestattet.

„Blues ist, wenn sich ein guter Mensch schlecht fühlt.“

Ich verstehe den Satz, der wie eine Leuchtschrift an mir vorbei zieht, aber ich fühle ihn nicht. Vielleicht bin ich schon tot. Nein, ich kneife mich in den Arm und fühle Schmerz. Danach gehe ich ins Badezimmer und schaufel mir kaltes Wasser auf die Unterarme und ins Gesicht. Geht wieder, kann wieder normal atmen. Der Sekundenzeiger meiner Uhr bewegt sich. Gleich 18 Uhr. Zeit für die Sportschau.

Ich genieße die Lümmelei auf der Couch, wenn die Berichte der dritten und zweiten Liga beruhigend aufs Gemüt wirken, jedenfalls bis zu dem Punkt, wenn wieder einmal das große HSV-Desaster in Sandhausen dokumentiert wird. Merkwürdig, wie dieser Verein, dessen Fan ich seit siebzig Jahren bin, es immer noch schafft, mich aus der Ruhe zu bringen. Ein verschossener Elfmeter der Rothosen (Hamburger Morgenpost) ist doch tatsächlich in der Lage, mein stabiles spirituelles Fundament kurzfristig zu erschüttern. Und wenn ich laut SCHEIßE! schreie, wissen auch meine Nachbarn, dass der Hamburger Sportverein es wieder einmal verkackt hat.

Gottseidank kommen sie nicht rüber, um mich zu trösten. Ich liebe es nämlich allein zu sein. Allein zu sein bedeutet, dass der Geist nicht von der Gesellschaft beeinflusst und kontaminiert wird, wie Jiddu Krishnamurti sagt. Und unterhalten muss ich mich auch nicht. Solche Unterhaltungen sind für mich eine Qual, und ich brauche Tage des Schweigens, um mich von der Sinnlosigkeit meiner Worte zu erholen. Einsamkeit ist ein Heilmittel, ehrlich. Allerdings macht sie süchtig, wie der Schauspieler Jim Carrey kürzlich gestand.

„Man geht den vielen Energieräubern aus dem Weg, die einen umlauern“.

Verstehe.

Da ich gerade beim zitieren bin, hier noch drei Aussagen zum Thema Einsamkeit, vor der die meisten Menschen ja so viel Angst haben. Völlig unnötig, wie diese Worte beweisen:

“Sei ein Einzelgänger. Das gibt dir Zeit, dich zu wundern und nach der Wahrheit zu suchen. Habe eine heilige Neugierde. Mach dein Leben lebenswert.“

Albert Einstein

 

„Ich habe die Einsamkeit gewählt, um mich zu verteidigen. Ich halte mich fern von der Menschheit, die mich umgibt, von dieser lauten und arroganten Menschheit. Ich fühle mich der Natur und den Tieren viel näher als den Menschen. Ich bin mit der Sache der Tiere verheiratet, um endlich meine Existenz hier zu verstehen.“

Brigitte Bardot

 

„Ich verstand die Stille des Äthers. Der Menschen Worte verstand ich nie.“

Friedrich Hölderlin

 

Die Luft fühlt sich schon wieder unerträglich stickig an. Ich schließe die Balkontür und drücke drei Finger der rechten Hand auf mein Herz. Es schlägt noch. Dann atme ich so tief durch wie irgend möglich. Schweiß tritt auf die Stirn. Ich schlage ein Buch der US-amerikanischen Schriftstellerin Djuna Barnes (1892-1982) auf, das schon länger lesebereit auf dem Glastisch liegt. Titel: „Solange es Frauen gibt, wie sollte da etwas vor die Hunde gehen?“ Mir wird schwindlig und weit und breit keine Frau in Sicht …

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:  konggaStudio / shutterstock.com

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Kommentare (3)

3 Kommentare zu: “Außer Atem

  1. Nevyn sagt:

    „Blues ist, wenn sich ein guter Mensch schlecht fühlt.“

    Gut und schlecht sind Urteile, keine Gefühle, und jedes Urteil ist ein Tod des Erlebens und ein Rutschen in mentale Konzepte.
    Es soll Menschen geben, die selbst beim Sex darüber nachdenken, wie gut sie gerade im Bett sind, statt das Zusammensein zu fühlen und zu genießen.
    Kein Urteil, kein Blues sondern pralles Leben. Mal als Schmerz, mal als Freude. So einfach kann das sein. Dieses ganze Selbtwertgedöns ist wie eine bunte Eisenkugel am Bein.

    • Fass sagt:

      Habe mir gerade Einzeln sein von R. Safranski gekauft. Leider fehlt mir oft die Konzentration zum Lesen.
      Ein Spotankauf, eine Variante des Seins. Das Statement gefällt mir.

    • paradoxus sagt:

      Guter Artikel und es adelt Dirk C. Fleck, dass er zum Blues fähig ist.
      Ich schliesse mich auch Nevyns Meinung an.
      Buddha akzeptiert das Leiden als Teil des Daseins.
      Der alte Jazz-Standard,
      "You don't know what love is, until you've learned the meaning of the blues"
      weist auf einen Zusammenhang zwischen Leiden und Liebe hin.

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