Anpassung oder Widerstand? | Von Multipolar-Redaktion (Podcast)

Ein Standpunkt von der Multipolar-Redaktion

Vorbemerkung: Die folgenden Auszüge sind dem Buch „Anpassung oder Widerstand? Der Bürger als Souverän – Grenzen staatlicher Disziplinierung“ entnommen, das 1987 erschien, damals im Kontext des zivilen Ungehorsams innerhalb der Friedens- und Anti-Atom-Bewegung.

Es war die letzte Buchveröffentlichung des 1925 geborenen und 1990 verstorbenen Strafrechtsprofessors Joachim Hellmer, von dem seinerzeit Gastbeiträge auch in der Süddeutschen Zeitung und der Zeit veröffentlicht wurden. Multipolar veröffentlicht einige Auszüge aus diesem Buch, das mehr als 30 Jahre nach Erscheinen sehr aktuell wirkt.

Bürger und Staat

Ich erinnere mich an ein Kindheitserlebnis. Es muss etwa 1936 gewesen sein. In einer deutschen Zeitung war auf der ersten Seite Stalin mit bluttriefenden Händen abgebildet. Darunter stand etwa: Der Schlächter von Moskau. Ich fragte, wer Stalin sei, und als mich meine Eltern aufgeklärt hatten, schien es mir unfasslich, dass der Regierungschef eines Landes ein Mörder sein sollte. Der oberste Repräsentant eines Staates konnte doch kein Verbrecher sein. Staat und Verbrechen – das war für mich wie Feuer und Wasser.

Etwas von diesem kindlichen Glauben wohnt heute noch in jedem von uns. Unglaublich erscheint uns der Gedanke, dass der Staat Unrecht begehen könnte. Unter Staat versteht gerade der Deutsche die Personifizierung des Rechts. Der Staat ist für uns schlechthin der Hüter der Verfassung, ja die Verfassung selber. Widersprüche, ja Gegensätze zwischen Staat und Verfassung sind für uns undenkbar. Was der Staat tut, ist grundsätzlich wohlgetan.

Der Staat macht sich diese Einstellung seines Bürgers natürlich zunutze. In weiten Bereichen werden von ihm Verfassung und Staat als Synonyme behandelt, vieles wird als Verfassungsschutz ausgegeben, was nur Staatsschutz ist. So haben die Verfassungsschutzämter nicht etwa die Aufgabe, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen, was bedeuten würde, dass in erster Linie die Einhaltung der Grundrechte gegenüber dem Bürger überwacht werden müsste, weil diese Grundrechte am Anfang unserer Verfassung stehen, sondern es werden durch diese Ämter – umgekehrt – nur die Bürger auf ihr Verhalten gegenüber dem Staat überwacht. (…)

In der Strafgerichtsbarkeit stehen sich zwar Bürger und Staat gegenüber, aber nicht der Staat wird durch den Bürger kontrolliert, sondern der Bürger durch den Staat. Eine Anklage des Staates vor den Strafgerichten gibt es nicht, nur eine Anklage des Bürgers durch den Staat, weil im Strafgesetz nur Fehlverhaltensweisen des Bürgers definiert sind und nicht des Staates. (…)

Daneben räumt unsere Verfassung noch das Widerstandsrecht gemäß Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz ein: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieses Widerstandsrecht wird von den Politikern unseres Staates bezeichnenderweise lediglich als Staatsnotstandsrecht ausgelegt, das heißt, der Bürger darf dem Staat zu Hilfe eilen, aber er darf nicht gegen den Staat Widerstand leisten. (…)

Das Schweigen des Volkes ist die Macht des Staates. Deshalb wird bei uns die schweigende Mehrheit auch als staatserhaltend angesehen. Sie ist aber nicht das, was die Demokratie ausmacht. Die meisten Deutschen haben auch zu dem geschwiegen, was Hitler gemacht hat. Eigentliches Kennzeichen einer Demokratie ist, dass sich eine möglichst große Zahl von Bürgern der Problematik des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat bewusst ist und bei allen irgendwie zweifelhaften staatlichen Maßnahmen Kritik übt und Einspruch erhebt. (…) Nur eine Mehrheit von kritischen Bürgern kann verhindern, dass der Staat wiederum über die Grundrechte der Bürger hinweggeht und sich damit erneut selber ein Grab gräbt. (…)

Während im Verhältnis Einzelner zueinander die ethische Norm das hauptsächliche Regelungsinstrument war (Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Achtung, Höflichkeit, Anstand, Zuneigung, Liebe), spitzt sich das Verhältnis des Einzelnen zur Institution und damit zum Ganzen auf den Gegensatz zwischen Gehorsam und Ungehorsam, Anpassung und Widerstand zu. Gegenüber Ge- und Verbot, Befehl und Zwang, gibt es eben nur diese beiden, Anpassung oder Widerstand. (…)

Auch die Grundrechte der heutigen Verfassung sind nur ein Kapitel in der Geschichte des Kampfes des Individuums gegen den immer stärker werdenden Staat, gegen eine immer noch vom Individuum abstrahierte und Gewalt ausübende Staatsmacht. Wenn wir heute in der Verfassung Grundrechte haben, dann lässt sich dies überhaupt nur vor dem historischen Hintergrund des Gegensatzes zwischen Individuum und Staat und einer missbräuchlichen Verwaltung der Interessen des Individuums durch den Staat erklären. (…)

Widerstand und klassische Ethik

Wer nur dann von Sittlichkeit spricht, wenn die ganze Menschheit davon profitiert, hat sich etwas sehr Edles vorgenommen. Aber er würde erleben, dass der Staat sich sofort an die Stelle der Menschheit setzt und die edlen Motive des Einzelnen für sich in Anspruch nimmt. Dem Staat fällt es natürlich leicht, dem Bürger zu sagen: „Um Euch zu schützen, ist es meine Pflicht, möglichst viel Macht, Polizei und Militär anzusammeln; denn Euer Nachbar oder ein böser Feind würde Euch sonst vernichten oder unterjochen“, weil die Wahrheit dieser Behauptung kaum nachprüfbar ist. Auf keinen Fall dient er damit dem Recht des Einzelnen auf Leben und körperliche Integrität; denn Gewalt oder Drohung mit Gewalt können diese immer nur zerstören. So meint er in Wirklichkeit denn auch etwas anderes, nämlich seine eigene Macht, seine eigene Überlegenheit und Unanfechtbarkeit, und er schützt nur eine Pseudo-Ethik vor. (…)
Das Zeitalter ohne Ethik

Der „wissende“ Mensch unseres Jahrhunderts, für den es immer weniger Geheimnisse gibt, ist nicht etwa die Frucht höherer Intelligenz – dann müsste die Welt von heute wohl anders aussehen –, sondern größerer Hemmungslosigkeit und weniger Rücksichtnahme auf religiöse Gebote und menschliche Gesetze. Der „wissende“ Mensch unseres Jahrhunderts ist aber nicht nur besserer „Kenner“ der Welt, sondern er ist auch ratloser und ohnmächtiger gegenüber den Problemen des Lebens. Er hat an moralischer Kraft der Selbstbestimmung und der Lösung allgemein-menschlicher und politischer Probleme verloren, und zwar in einem Augenblick, in dem es angesichts der technischen Macht, über die er verfügt und die ausreicht, die ganze Welt zu vernichten, gerade auf diese Kraft in erhöhtem Maße ankäme. Die Kehrseite des Aufschwungs der Naturwissenschaften ist die ethische Schwäche, an der wir heute leiden. (…)

Widerstandsrecht und Widerstandspflicht

Wir kommen auf das schon eingangs erwähnte Widerstandsrecht zurück. In unserer Verfassung heißt es (Artikel 20, Absatz 4 Grundgesetz): „Gegen jeden, der es unternimmt, diese (gemeint ist: die verfassungsmäßige) Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieses Widerstandsrecht ist in Deutschland ein Novum. Während die klassischen Demokratien unter „Verfassung“ von Anfang an vor allem die Sicherung der Rechte des Einzelnen gegenüber der Obrigkeit verstanden haben und verstehen (Magna Charta Libertatum 1215, Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776 und französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789), wird die Verfassung in Deutschland vor allem als Ordnungsinstrument des Staates aufgefasst. (…)

Einen Widerstand und ein Widerstandsrecht hat es durch die ganze Menschheitsgeschichte gegeben. Das Widerstandsrecht war bloß nicht immer normiert. Mit aufkommender Naturrechtslehre haben sich Widerständler auf ein übergesetzliches Widerstandsrecht berufen, wie ihm in klassischer Form Schiller im Wilhelm Tell Ausdruck verliehen hat („… und holt herunter seine ew´gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich …“). Aber auch als Naturrecht geriet es, vor allem in Deutschland, in eine Krise und wurde von Kant („Weil bei einer schon subsistierenden bürgerlichen Verfassung das Volk kein zu Recht beständiges Urteil mehr hat zu bestimmen, wie jene solle verwaltet werden“) und erst recht von Hegel („… dass das Wohl eines Staates eine ganz andere Berechtigung hat als das Wohl des einzelnen …“) abgelehnt.

Welcher Kollektivismus! Der Standpunkt, dass auch normiertes Unrecht gültig sei, brach sich immer mehr Bahn. Dementsprechend hat auch der Bundesgerichtshof in (den wenigen) Verfahren, die gegen Justizpersonen des Dritten Reiches wegen Rechtsbeugung eröffnet wurden, immer wieder entschieden, dass selbst Verurteilungen zum Tode rechtens waren, wenn sie mit den damaligen Gesetzen übereinstimmten.

Auch in unserer geltenden Verfassung fehlte zunächst ein Widerstandsrecht. Der Antrag des seinerzeitigen Abgeordneten der Deutschen Partei im parlamentarischen Rat Hans-Christoph Seebohm, ein Widerstandsrecht in die Verfassung aufzunehmen, wurde von der überwältigenden Mehrheit abgelehnt, nachdem sich auch der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid („Wir führen arme Teufel in Versuchung“) dagegen ausgesprochen hatte. Das Widerstandsrecht wurde erst später, 1968, zusammen mit den Notstandsgesetzen (gewissermaßen als Ausgleich für die Einschränkung der Grundrechte) in die Verfassung aufgenommen.
Die Erfahrungen der Hitlerzeit haben aber nicht ausgereicht, das deutsche Verfassungsverständnis zu wandeln! Wenn man hört, was zum Widerstandsrecht geäußert wird, stellt man fest, dass sich fast alle Stimmen darin einig sind, dass ein Widerstandsrecht zwar für die Diktatur, nicht aber für die Demokratie in Frage kommt. (…) Demgemäß wird das im Grundgesetz normierte Widerstandsrecht als Staatsnotstandsrecht aufgefasst, also das Recht des Bürgers, den Staat (!) durch Widerstand gegen Kräfte zu schützen, die ihn gefährden. Also Widerstand für, nicht gegen den Staat!

Damit bricht der deutsche Staat mit einer vielhundertjährigen europäischen Geschichte. Er hält sich – das ist für eine Ideologie bezeichnend – für den bestmöglichen Staat, für den Endpunkt der Entwicklung, für sakrosankt. Hier hat die Kritik anzusetzen. (…)

Nach der Verfassung hängt das Widerstandrecht außerdem noch davon ab, dass andere Abhilfe nicht möglich ist. Andere Abhilfe ist bei uns zum Beispiel durch Beschreitung des Rechtswegs möglich. (…) Der Vorbehalt der Rechtswegbeschreitung hat (…) [aber] gerade in entscheidenden Momenten nicht zu dem verfassungsmäßig gebotenen Schutz der Grundrechte des Bürgers geführt. Es gibt daher sehr wohl Bedarf an einem Widerstandsrecht, auch in der Demokratie. Das Widerstandsrecht in der Demokratie unterscheidet sich von dem in der Diktatur nur dadurch, dass es legal ist. In der Diktatur gibt es kein legales Widerstandsrecht, sie betrachtet sich als absolut unangreifbar, und jede abweichende Auffassung wird von ihr als Verfassungsverrat verfolgt.

Die Demokratie dagegen lebt von der abweichenden Auffassung. Erst wenn es Gegenstimmen gibt, gibt es Innovationen und kann man von Demokratie sprechen. Die Demokratie ist – im Gegensatz zur Diktatur – nicht starr auf eine bestimmte Weltanschauung festgelegt, sondern der schöpferischen Kraft und Phantasie des Einzelnen anheimgegeben, der seine Auffassung vom gesellschaftlichen Leben und vom notwendigen Inhalt der Gesetze auch außergerichtlich durch sein persönliches Handeln – natürlich ohne Verletzung der Grundrechte anderer – bezeugen kann. Er kann deshalb nicht zum Gehorsam gezwungen werden, sein Gewissen geht im Rahmen der Verfassung den Weisungen der Exekutive vor, vorausgesetzt – das soll noch einmal betont werden –, er verletzt dadurch nicht die Grundrechte anderer und die tragenden Stützen der Verfassung, die ihm diese Freiheit des Gewissens garantiert.

Wenn die Demokratie notfalls vom Widerstand des Einzelnen lebt, dann gibt es nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern auch eine Widerstandspflicht für den Fall, dass ethische Positionen, die in den Grundrechten unserer Verfassung geschützt werden, verletzt worden sind.

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Die Bücher „Wir sind die Guten“, „Wer regiert das Geld?“ und „Chronik einer angekündigten Krise“ von Paul Schreyer werden in diesem Zusammenhang empfohlen.

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Dieser Artikel erschien zuerst am 06. Januar auf dem Medienportal Multipolar

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Danke an die Redaktion für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:     Jaz_Online/ shutterstock

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