Ein Kommentar von Dirk C. Fleck.
Ich konnte nicht einschlafen und so versuchte ich, mir einige frische Gedanken zu notieren, die eventuell für den Sittenroman taugen, an dem ich seit zwanzig Jahren arbeite. Im Sittenroman ist der Held immer ein Paria, ein von der kranken Gesellschaft Ausgestoßener. Allerdings ist der Sittenroman als Gattung ausgestorben. In ihm hat man sich bemüht, das Aroma einer Epoche einzufangen, es dem Leser sozusagen schmackhaft zu machen. Flauberts Madame Bovary ist einer, Zolas Nana und im weiteren Sinne auch Musils Der Mann ohne Eigenschaften, um nur einige zu nennen.
Wie schmackhaft ist das Aroma unserer Zeit, was zeichnet das Ende der Zivilisation, an dem wir so fleißig werkeln, im Kern aus? Wonach duftet es, wenn man dieser faulenden Geschwulst überhaupt noch so etwas wie einen Duft zubilligen will? Gestank, ja, das trifft es wohl eher. Außerdem, und das ist das eigentliche Merkmal unserer Epoche, präsentiert sie sich durch und durch pornografisch. Alle Zeitalter hatten pornografische Züge, aber durch und durch? Nein. Das bleibt uns vorbehalten. Ob Politik, Wirtschaft, Sport, Unterhaltungs- und Freizeitindustrie, Debattenkultur, Demokratieverständnis, ja selbst große Teile der Kulturszene: versifft, haltlos, brutal, egoistisch, bar jeder Vernunft und bar jedes Wertekanons - pornografisch eben. Und an den Schalthebeln dieser Geschichte sitzen Menschen, deren Herz im spirituellen Sinne auf die Größe einer vertrockneten Erbse geschrumpft ist und die Empfindungen ausschließlich dann zu zeigen vermögen, wenn man ihnen den kleinen Finger ritzt oder so.
Unserer pornografischen Epoche liegt eine Entwicklung zugrunde, die sich in der Menschheitsgeschichte von Anfang an aufgebaut hat und die wie ein reißender Strom über alle humanistischen Ideale hinweg gefegt ist. An seinen Ufern liegen die Leichen unzähliger Mahnwesen, die der Schlammlawine unserer Zivilisation zum Opfer gefallen sind. Der Schriftsteller Ulrich Horstmann (Jahrgang 1949) hat in seinem Buch Das Untier meiner Meinung nach eine sehr überzeugende Erklärung dafür gefunden:
"Wir Untiere wissen es längst, und wir wissen es alle. Hinter dem Parteiengezänk, den Auf- und Abrüstungsdebatten, den Militärparaden und Anti-Kriegsmärschen, hinter der Fassade des Friedenswillens und der endlosen Waffenstillstände gibt es eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: dass wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich - ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende. Was sonst trüge das, was das Untier "Weltgeschichte" nennt, wenn nicht die Hoffnung auf die Katastrophe, den Untergang, das Auslöschen der Spuren. Wer könnte eine sich Jahrtausend und Jahrtausend fortsetzende Litanei des Hauens, Stechens, Spießens, Hackens, die Monotonie des Schlachtens und Schädelspaltens, das Om mani padmehum der Greuel ertragen, ja seinerseits nach Kräften befördern, der nicht zugleich in der Heimlichkeit seiner Vernunft gewiß wäre, daß diese rastlosen Übungen ihn und seine Gattung Gemetzel um Gemetzel, Schlacht um Schlacht, Feldzug um Feldzug, Weltkrieg um Weltkrieg unaufhaltsam jenem letzten Massaker, jenem globalen Harmageddon näherbringen, mit dem das Untier seinen Schlußstrich setzt unter die atemlose Aufrechnung sich fort- und fortzeugenden Leids.“
Zurück zu meinem Sittenroman. Die Arbeit an ihm ist längst aus dem Ruder gelaufen. Er ist zu einer unendlichen Geschichte mutiert, die ich mit immer neuen Informationen mäste. Längst bin ich vom Schreiber zum Sammler geworden. Zum Glück habe ich mir für das ambitionierte Werk kein Limit gesetzt, weder zeitlich, noch was den Umfang betrifft. Zum Glück? Ein Roman ist ein wildes Tier, das es rechtzeitig zu bändigen gilt. Das habe ich in diesem Fall versäumt. Also muss ich wohl damit leben, dass mein Projekt zu scheitern droht. Gelegentlich werfe ich einen Blick in das angeschwollene Archiv. Ich zapfe es auch an, um meiner journalistischen Arbeit mit der einen oder anderen Anleihe Seriösität und Stabilität zu verleihen. Eben zum Beispiel fand ich den folgenden Auszug aus der Schrift „Tschong Lun”, eine konfuzianische Rechtfertigung der Diktatur aus der Han-Zeit (2. Jahrh. n. Chr.), die der chinesische Staatsmann Tsui Schi verfasst hatte. Sie lässt sich perfekt auf die heutige Situation übertragen:
„Unordnung im Staate kommt gewöhnlich daher, wenn im Laufe langer Friedenszeiten die Sitten sich unmerklich verschlechtern und die Regierung schrittweise in Verfall gerät, ohne dass man sich zu Reformen aufrafft. Regierung und Staatsautorität sind heute angefault und ein Spielzeug geworden. In allen Kreisen herrschen Nachlässigkeit und Zügellosigkeit. Die Sitten sind heruntergekommen und verderbt. Das Volk befindet sich in Gärung. Aber mit bloßer Ausbesserung der Risse, Bekämpfung von Verderbnis und Irrlehre ist es allein nicht getan. Die heutige Lage erfordert einschneidende Maßnahmen. Aber heute hat der Lenker des Staatswagens die Zügel zur Erde gleiten lassen. Die vier Hengste haben ihr Gebiss abgestreift und rennen quer. Die erhabene Bahn neigt sich zum Abgrund. Da kommt man nicht einfach mit den Lehren einfacher Moralweisheit aus, sondern man muss zu diktatorischen Maßnahmen greifen. Die anständige Gesinnung muss durch doppelt hohe Prämien ermuntert, das Verbrechen durch einschneidende Strafen abgeschreckt werden.”
Geschichte wiederholt sich. Den Zombies unter uns, die ca. tausend bis dreitausend Jahre leben, muss das todlangweilig vorkommen …
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman "Go! Die Ökodiktatur" ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Bachurin Maksym / shutterstock.com
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