Lyrische Beobachtungsstelle

50 Jahre „weißer Hai“ | Von Paul Clemente

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Über die Faszination von Meeresungeheuern.

“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Nach einer durchkifften Partynacht läuft die junge Christine Watkins zum naheliegenden Strand. Der Morgen dämmert. Jetzt noch eine Erfrischung. Noch ein kühles Bad im Meer. Sie springt in die Wellen. Aber - etwas beobachtet sie. Aus der Tiefe. Unter ihr. Dieses Unbekannte schießt empor. Auf Christine zu. Entnervende Musik ertönt. Plötzlich: Etwas zerrt am ihr. Zieht sie hinab. Einmal, zweimal. Sie spürt Schmerz. Schreit. Schlägt um sich. Versucht wegzuschwimmen. Hält sich an der Boje fest. Keine Chance. Christine verschwindet in der Tiefe. Die kleine Nebelglocke läutet zu ihrem Tod.

Mit dieser Szene eröffnet Steven Spielbergs Kultklassiker „Jaws“, deutscher Titel: „Der weiße Hai“. Exakt fünfzig Jahre ist das her. Aber die Szene wirkt ungebrochen. So wie der Duschmord in Hitchcocks „Psycho“ zahlreichen Zuschauern die Nasszelle vermiest hat, fürchten sich „Jaws“-Zuschauer bis heute vor Hai-Attacken. Der sonnigste Badestrand erscheint seitdem als tödliche Falle.

„Jaws“ wurde zum Kassenschlager, gilt manchem Filmhistoriker als erster Sommer-Blockbuster. Sein Erfolg köderte Nachahmer. Dabei geht es nicht nur um Fortsetzungen. Nein, in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre jagten Horrorfilmer die halbe Tierwelt auf die Leinwand: Piranhas, Barracudas, Grizzlys, Mörderspinnen und Killerbienen. Nicht jedes Variante war mies, aber keine konnte den „Jaws“-Erfolg wiederholen. Zuvor, in den 1950er und 60er Jahren, hatten Science Fiction-Thriller meist radioaktive Mutationen auf die Menschheit gehetzt: Riesenhafte Ameisen oder zehn-Meter-große Taranteln. Deutliche Warnungen vor der damals neuartigen Kernenergie. „Der weiße Hai“ & Co. stellen dagegen klar: Auch in nicht-manipulierter Biosphäre lauert das Monströse.

Für den damals 27 jährigen Regisseur Steven Spielberg erwies sich „Jaws“ als Sprungbrett in Hollywoods erste Liga. Dem folgten Blockbuster wie „E.T.“, „Indiana Jones“, aber auch ernsthafte Historienfilme wie „Schindlers Liste“ oder das Biopic „Lincoln“. Dennoch, der 79-jährige Spielberg bereut rückblickend seinen frühen Hit. „Jaws“, so Spielberg, habe die allgemeine Hai-Angst gesteigert und damit die Ausrottung des Knorpelfischs gerechtfertigt. Tatsächlich werden etwa zehn Menschen pro Jahr von Haien getötet. Weltweit. Umgekehrt sterben 100 Millionen Haie pro Jahr durch Menschenhand! Hauptsächlich durch Überfischung und als Beifang. Wer gefährdet also wen? Besonders der weiße Hai steht in der Liste aussterbender Arten ganz oben. Ein ähnliches Schicksal durchlitten früher die Wölfe: Aufgrund populärer Horror-Märchen vom „bösen Wolf“ und diverser Werwolf-Legenden wurden sie zu Opfern großangelegter Ausrottungskampagnen. Auch die Furcht vor dem Hai reicht Jahrhunderte zurück. In seinem „System der Natur“ von 1770 demonstrierte der Aufklärungs-Philosoph Paul Henri Thiry d’ Holbach, dass Begriffe wie „gut“ oder „schlecht“ in der Natur keine Bedeutung hätten. Alles eine Frage der Perspektive. Als Beispiel nannte d’ Holbach den Untergang eines Schiffes: Für die Matrosen purer Schrecken, aber für die Haie ein Fest.

Sechs Jahre nach dem „weißen Hai“ hat Spielberg die legendäre Eröffnungs-Szene parodiert. So als habe er sie rückwirkend entschärfen wollen. Mit ihr beginnt die Komödie „1941 – Wo bitte geht’s nach Hollywood?“ über den japanischen Angriff auf Pearl Harbour. Wieder springt Christine-Darstellerin Susan Backlinie im Morgengrauen ins Meer. Und wieder schießt etwas aus der Tiefe empor. Und wieder schreit sie laut auf. Aber diesmal ist es kein Hai, sondern ein japanisches U-Boot – mit einem ziemlich verwirrten Kapitän… Leider half diese Selbstparodie nicht. „1941“ wurde ein krasser Misserfolg. Ähnliche Reue über den Rufmord an Haien quälte den Autor der Romanvorlage: Peter Benchley. Der war ursprünglich Journalist und Redenschreiber für US-Präsident Lyndon B. Johnson. Nach dem Abgang seines Brötchengebers versuchte Benchley sich als freier Schriftsteller, plante ein Sachbruch über Haie. Die Verlage winkten gähnend ab. Daraufhin schlug der Nwcomer einen Roman vor - einen Hai-Thriller. Sofort kam grünes Licht. Der Werk erschien 1974 und avancierte postwendend zum Bestseller.

Benchleys Verwendung der Hai-Symbolik birgt eine Doppeldeutigkeit. Die zeigt sich im Handlungsverlauf: Trotz dem Tod von Christine Watkins und polizeilicher Warnung des Polizei-Chefs verweigert der Bürgermeister von Amity die Schließung des Badestrands. Schließlich hat er einen heißen Draht zur Immobilien-Mafia. Und die hat in Ferienwohnungen investiert. Eine bombige Badesaison steht bevor. Und das sollte wegen einem doofen Hai scheitern? Also spielt der Bürgermeister die Gefahr runter - bis der weiße Meeresriese am Strand auftaucht… Kurzum, es gibt neben dem Riesenfisch noch weiteres Ungeheuer: Den Miethai, englisch: Rent shark, der über Leichen geht. Diese Assoziation ist bis heute im Umlauf. In gentrifizierten Städten findet man Graffiti-Slogans wie „Miethaie zu Fischstäbchen“. Vor vier Jahren prangte dieser Slogan sogar auf einem Wahlplakat der Linken. Der wirtschaftsliberale Publizist Christoph Jahr jammerte in der Neuen Zürcher Zeitung: „Solche Metaphern verunmöglichen einen differenzierten Diskurs. Und sie sind gefährlich.“  Ins gleiche Horn blies Rainer Zitelmann: „Um Fischstäbchen aus einem Miethai zu machen, muss dieser zuerst getötet werden. Viele Menschen, die sich sonst für das Tierwohl einsetzen, vegan leben und zu Recht sensibel sind, wenn gegen Minderheiten gehetzt wird, finden das lustig, weil es um Vermieter geht. Da ist es nicht sehr weit zu Sprüchen wie „Kill your Landlord“. - Ist das nicht ein wenig übertrieben? Wann wurde je ein Miethai von einem Prekarier harpuniert? Vielleicht wäre das ein schöner Romantitel: „Der weiße Miethai“

Wie gesagt: Auch Benchley bereute seinen Bestseller. Aus gleichen Gründen wie Spielberg. Bis zum Lebensende bemühte er sich um Rehabilitierung der Haie, um Aufklärung über deren wahres Wesen. Umso erstaunlicher, dass der Autor um 1992 einen weiteren Roman über  Meeresungeheuer schrieb. Die Rede ist von „Beast. Schrecken der Tiefe". Darin terrorisiert eine riesige Killerkrake die Bermuda-Inseln.  Auch dieser Roman wurde verfilmt. Diesmal nicht fürs Kino, sondern als TV-Serie.

Woraus besteht die Faszination von Meeresungeheuern? Woher diese Lust am Schrecken? Seit Jahrtausenden sind sie von Mythen umrankt. Schon vor dem „weißen Hai“ sorgte Herman Melvilles weißer Wal „Moby Dick“ oder Jules Vernes Riesenkraken in „20.000 Meilen unter dem Meer“ für wonnige Schauer. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung verglich das tosende Meer mit dem Unbewussten. Auf den Wellen schaukelt das Bewusstsein wie eine Nussschale. In steter Gefahr des Umkippens, des Untergehens. Meeresungeheuer wie Haie oder Riesenkraken symbolisieren die destruktiven Impulse, die in der Tiefe des Unbewussten lauern, plötzlich emporschießen, jede rationale Kontrolle durchbrechen und die Person buchstäblich verschlingen. Nicht nur Neurotiker machen solche Erfahrungen.

Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums vom „weißen Hai“ startet in den kommenden Wochen eine restaurierte Kopie des Klassikers. Allerdings dürfte der Riesenfisch heutige Zuschauer nicht mehr so heftig schocken wie vor einem halben Jahrhundert. Dafür hat fortwährende Ausschlachtung des Themas bereits gesorgt. So haben findige Drehbuchautoren den Megalodon ausgegraben. Einen prähistorischen Hai, der mit 25 Metern die doppelte Länge des heutigen Blauwals besaß. So entstanden „Meg“ und „Meg 2“. Auch Trash-Produzenten wie Asylum ließen sich nicht lumpen: In der Billigproduktion „Sharknado“ wird das Jagdrevier der Raubfische beträchtlich erweitert: Ein Tornado wirbelt die gefräßigen Viecher aus dem Wasser, durch die Straßen kalifornischer Küstenstädte. Beim Vorbeifliegen schnappen sie nach Passanten, verschlingen sie mit einem Haps.

Ob es noch bescheuerter geht? Natürlich. In den „Sharktopus“-Filmen fabrizieren Genetiker eine Mischform aus Hai und Oktopus. Richtig gelesen! Mit Riesenmaul und Fangarmen. Auch diese Trash-Perle ließ die Kassen klingeln. Vielleicht gelingt solchen B-Movies langfristig, woran Spielberg gescheitert ist: Die Hai-Phobie durch Parodie zu entkrampfen.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Scupix / shutterstock


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