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Zwischen Brücke und Frontlinie | Von Ulrich Brunhuber

Zwischen Brücke und Frontlinie | Von Ulrich Brunhuber

Nachlese zur Parlamentswahl in Moldau 2025

Die Parlamentswahl in Moldau zeigt, wie tief die Republik zwischen Ost und West gespalten ist – und wie stark externe Akteure in innere Prozesse eingreifen. Die Wahl ist entschieden, der Streit nicht. Was Zahlen, Entscheidungen und frühe Entwicklungen nach dem Urnengang zeigen – von der Reduzierung von Wahllokalen über Parteiverbote bis zur Verdrängung russischer Wahlbeobachter. Eine Nachlese.

Ein Meinungsbeitrag von Ulrich Brunhuber.

Vom Ausgleich zur Konfliktgesellschaft

Als die Republik Moldau Anfang der 1990er-Jahre ihre Unabhängigkeit erklärte, schien sie trotz des kurzen Krieges in Transnistrien auf einen Weg relativer Stabilität einzuschwenken. Die abtrünnige Region am linken Ufer des Dnjestr blieb unter Kontrolle der russischen 14. Armee, doch im Kernland lebten Moldauer, Russen, Ukrainer, Gagausen und Bulgaren über Jahre hinweg vergleichsweise friedlich zusammen. Russische Truppen sind seit den 1940er-Jahren in Transnistrien stationiert; viele Soldaten stammen aus der Region und betrachten sie als Heimat. Moldau galt lange als Brücke: Hunderttausende Bürger arbeiteten in Russland oder in der EU, Familien verbanden Einkünfte und Kontakte in beide Richtungen, und politische Machtwechsel verliefen mal pro-europäisch, mal russlandfreundlich, ohne das fragile Gleichgewicht zu zerstören.

Diese Balance löste sich nach 2010 auf. Mit der „Östlichen Partnerschaft“ der EU und dem Assoziierungsabkommen von 2014 begann eine neue Phase. Moldau trat aus der GUS-Freihandelszone aus, Russland reagierte mit Importstopps, insbesondere für Wein, Obst und Gemüse. Für viele Landwirte bedeutete dies den Verlust ihrer wichtigsten Absatzmärkte.

Der „Weinkrieg“ als Symbol

Der Konflikt um Weinimporte wurde zum Symbol des geopolitischen Streits. Russische Behörden erklärten, moldauische Produkte überschritten Grenzwerte für Pestizide und Weichmacher, etwa DDT oder DEHP. In der EU wurden dieselben Waren zugelassen. Russland verwies auf strengere Grenzwerte, europäische Politiker sprachen von politisch motivierten Sanktionen. Unstrittig ist, dass Rückstände vorhanden waren – ihre Bewertung hing vom jeweiligen Standard ab. So wurde aus einem technischen Streit eine politische Frontstellung: Russland verhängte Importverbote, die EU erhöhte zeitgleich die Einfuhrquoten für moldauische Weine. NGOs wie Foodwatch kritisieren, dass EU-Grenzwerte für Pestizide im Vergleich zu anderen Standards teilweise weniger streng sind.

Ein Wahlkampf ohne gleiche Chancen

Die Parlamentswahl am 28. September 2025 fand in einem Klima tiefer Polarisierung statt. Die regierende pro-europäische Partei PAS sprach von einer Entscheidung „zwischen Europa und Russland“. Doch nicht alle politischen Stimmen waren zugelassen. Die Șor-Partei wurde 2023 mit der Begründung illegaler Parteifinanzierung verboten. Am 5. August 2025 wurde Evghenia Gutsul, Gouverneurin von Gagausien und enge Verbündete der Șor-Partei, zu sieben Jahren Haft verurteilt – wegen angeblicher illegaler Finanzierung und russischer Geldströme. Irina Vlah, ihre Vorgängerin, geriet ebenfalls unter Druck: Polen verhängte am 25. September ein Einreiseverbot gegen sie, und ihre Partei Heart of Moldova wurde am 26. September, einen Tag vor der Wahl, wegen „illegaler Finanzierung“ ausgeschlossen. Beide Politikerinnen wiesen die Vorwürfe zurück und bezeichneten die Verfahren als politisch motiviert. Kritiker sehen ein Muster: Der Vorwurf der „illegalen Finanzierung“ dient als Hebel, um politische Gegner auszuschalten. Die Berliner Zeitung beschrieb, wie die EU durch Milliardenhilfen und Programme gezielt regierungsfreundliche Medien stärkt.

Asymmetrische Wahlorganisation: Diaspora, Russland, Transnistrien

Umfragen vs. Ergebnis

In den Wochen vor der Wahl lag die PAS in Umfragen wie dem Barometrul Opiniei Publice bei etwa 30 %, teils darunter, mit einem hohen Anteil Unentschlossener. Das amtliche Ergebnis wich stark ab: Die PAS erhielt rund 50 % der Stimmen und 55 von 101 Sitzen. Internationale Medien bestätigten die absolute Mehrheit; die zentrale Wahlkommission (Comisia Electorală Centrală, CEC) wies eine Rekord-Diasporabeteiligung in der EU und kaum Stimmen aus Russland aus.

Ungleiche Kapazitäten

Für die Diaspora wurden 864.300 Stimmzettel gedruckt und 301 Wahllokale eingerichtet, mit dichter Abdeckung in Westeuropa (Italien: 75, Deutschland: 36, Frankreich: 26). In Russland standen nur zwei Wahllokale mit 10.000 Stimmzetteln zur Verfügung, was zu lediglich 4.000 abgegebenen Stimmen führte – in Deutschland waren es über 38.000. Der Kreml sprach von „faktischer Entrechtung“ hunderttausender Moldauer in Russland. In Transnistrien wurden die Wahllokale von 41 (2021) auf 12 (2025) reduziert, fünf davon verlegte die CEC drei Tage vor der Wahl „aus Sicherheitsgründen“ (Bombendrohungen), was die Zugänglichkeit stark einschränkte.

Verbot von Exit-Polls

Die CEC untersagte Exit-Polls, offiziell wegen Finanzierungs- und Einflussrisiken. Dies erschwerte unabhängige Plausibilitätsprüfungen am Wahlabend.

Repressive Maßnahmen

Neben Parteiverboten und Ausschlüssen wurden russische Wahlbeobachter ausgeschlossen – offiziell aus Sicherheitsgründen und wegen russischer Einflussoperationen. Dies erhöhte die Spannungen, da Russland (im Gegensatz zur OSZE) nicht vor Ort vertreten war. Die OSZE/ODIHR bewertete die Wahl als „kompetitiv, aber belastet“ durch Missbrauch administrativer Ressourcen, selektives Vorgehen und Last-Minute-Entscheidungen.

Eingriffe von außen

Nicht nur Moskau versucht, Einfluss zu nehmen. Auch Brüssel, Berlin und Washington sind in Chișinău präsent. Präsidentin Maia Sandu, Harvard-Absolventin und frühere Weltbank-Mitarbeiterin, gilt als prowestlich vernetzt. Spitzenpolitiker wie Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Ursula von der Leyen reisten mehrfach nach Moldau; 2023 fand dort ein EU-Gipfel statt. Ein Verteidigungsabkommen mit Frankreich (März 2024) sieht enge militärische Kooperation vor. Die Regierung stellt dies als Sicherheitsgarantie dar, die Opposition kritisiert eine schleichende Einbindung in westliche Militärstrukturen, die Moldaus Neutralität infrage stellt.

Ein tiefer Wertekonflikt

Neben geopolitischen Fragen prägt ein kultureller Bruch die Gesellschaft. Das pro-europäische Lager, stark in Städten und unter Rückkehrern aus der EU, verbindet die Nähe zu Brüssel mit Wohlstand und Reformen. Die russlandfreundliche Seite, stärker im ländlichen Raum und unter älteren Schichten, betont Familie, Tradition und soziale Sicherheit. Die Orthodoxe Kirche, gesellschaftlich tief verankert, lehnt Genderpolitik und gleichgeschlechtliche Ehen ab und sieht in der EU eine Bedrohung traditioneller Werte.

Nach der Wahl: Proteste und Sicherheitsnarrativ

Das amtliche Ergebnis brachte der PAS eine knappe Mehrheit. Rund 80 % der im Ausland lebenden Moldauer stimmten für die PAS, was entscheidend war. Der Patriotische Block sprach von Wahlfälschung, kritisierte Parteiverbote und wies darauf hin, dass in Russland lebende Moldauer kaum wählen konnten. Kremlsprecher Peskow warf Chișinău vor, Hunderttausende Bürger ausgeschlossen zu haben. Unmittelbar nach der Wahl rief der Patriotische Block zu Protesten auf, zunächst dezentral, dann in Chișinău. Die Regierung konterte mit Verweisen auf russische Einflussnetze, Cyberangriffe und Bombendrohungen. Das Verfassungsgericht bestätigte die Resultate Anfang Oktober. Internationale Medien verorten die Machtprobe im geopolitischen Spannungsfeld; die EU lobte den „europäischen Mandatsschub“.

Warum 50 Prozent nach 30 Prozent in den Umfragen?

Drei Mechanismen erklären die Diskrepanz:

  1. Diaspora-Gewicht: Überproportionale Kapazitäten in westeuropäischen Wahllokalen (hohe PAS-Präferenz) vs. Minimal-Setup in Russland (starke Opposition).
  2. Transnistrien-Bremse: Die Reduktion auf 12 Wahllokale und späte Verlegungen erschwerte den Zugang für PAS-kritische Wähler.
  3. Regulatorische Schieflagen: Parteiverbote, Strafverfahren und Tätigkeitsbeschränkungen engten das oppositionelle Feld ein. Ohne Exit-Polls blieb die Plausibilitätsprüfung schwach.

Bewertung: Fairer Prozess?

Die Wahl war kompetitiv, aber nicht fair organisiert. Kapazitätsasymmetrien in der Diaspora, Transnistrien-Verlegungen, Parteiverbote und der Ausschluss russischer Beobachter verzerrten das Spielfeld. Die OSZE/ODIHR bestätigt diesen gemischten Eindruck. Die 50 % für die PAS sind nicht allein ein Stimmungssieg, sondern auch das Ergebnis administrativer Architektur.

Einordnung im europäischen Kontext

Kritiker verweisen auf eine Tendenz zur Kriminalisierung unliebsamer Opposition, auch außerhalb Moldaus. In Frankreich etwa führte ein Verfahren gegen das RN-Umfeld von Marine Le Pen (2025) zu Debatten über „Justizpolitik“. In Rumänien sorgte die Annullierung eines Urnengangs für Diskussionen über faire Wahlrahmen. Solche Ereignisse nähren die These, dass „wehrhafte Demokratie“ zunehmend mit verfahrenspolitischen Mitteln arbeitet.

Fazit: Kein Blanko-Scheck

Moldau ist zum Symbol geopolitischer Konflikte geworden. Aus einer Phase relativer Ruhe nach 1990 wurde eine Konfliktgesellschaft – durch innere Gegensätze und den Druck konkurrierender Mächte. Die Wahl 2025 entschied nicht nur über eine Regierung, sondern über den Kurs eines Landes, das zum Spielfeld globaler Interessen wurde. Die neue Mehrheit hat ein Mandat, aber keinen Blanko-Scheck. Reparaturpunkte sind:

  1. Kapazitätsfairness in der Diaspora, inklusive Russland.
  2. Planbare Wahllokale für Transnistrien, mit frühzeitig geklärten Sicherheitskonzepten.
  3. Transparente Sanktionsregeln gegen Parteien, ohne Last-Minute-Eingriffe.
  4. Breitere internationale Beobachtung, auch durch „unbequeme“ Kanäle.

Ohne diese Schritte wird aus der Brücke eine Frontlinie, die durchs Land geht – ähnlich wie in der Ukraine.

Quellen und Anmerkungen

1. Digi24: „Rezultate preliminare alegeri parlamentare Republica Moldova“ – 29. September 2025. https://www.digi24.ro/stiri/externe/moldova/alegeri-republica-moldova-2025-urnele-s-au-inchis-si-a-inceput-numaratoare-voturilor-in-diaspora-continua-votul-3432857

2. Spotmedia.ro: „Rezultate oficiale preliminare – PAS 50 la sută, Blocul Patriotic 24 la sută“ – 29. September 2025. https://spotmedia.ro/stiri/eveniment/live-alegeri-in-moldova-au-aparut-primele-rezultate-oficiale

3. Radio Europa Liberă România: „Rezultate alegeri parlamentare Moldova – PAS 55 mandate“ – 29. September 2025. https://romania.europalibera.org/a/rezultate-alegeri-parlamentare-republica-moldova-live-blog/33543662.html

4. Reuters: „Moldovan authorities bar pro-Russian party from Sunday’s election“ – 26. September 2025. https://www.reuters.com/world/moldovan-authorities-bar-pro-russian-party-sundays-election-2025-09-26

5. AP News: „Moldova elections overshadowed by Russian influence claims“ – 27. September 2025. https://apnews.com/article/632486b1a6fb3419d495a67ded3857ef

6. The Guardian: „Moldova election result boosts move towards EU, away from Moscow“ – 29. September 2025. https://www.theguardian.com/world/2025/sep/29/moldova-election-result-boosts-move-towards-eu-away-from-moscow

7. Berliner Zeitung: „Moldau – So beeinflusst die EU Wahlen und erpresst euroskeptische Länder“ – 27. September 2025. https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/moldau-so-beeinflusst-eu-wahlen-und-erpresst-euroskeptische-laender-li.2359926

8. PISM – Polski Instytut Spraw Międzynarodowych: „France and Moldova sign new defence cooperation agreement“ – 8. März 2024. https://pism.pl/publications/france-and-moldova-sign-new-defence-cooperation-agreement

9. Reuters: „Kremlin accuses Moldova of preventing hundreds of thousands of Moldovans in Russia from voting“ – 29. September 2025. https://www.reuters.com/world/europe/kremlin-accuses-moldova-preventing-hundreds-thousands-moldovans-russia-voting-2025-09-29

10. Radio Europa Liberă România: „Barometrul Opiniei Publice – Umfrage vor der Parlamentswahl“ – September 2025.

11. Financial Times: „Moldova election results and diaspora participation“ – 29. September 2025.

12. Moldpres: „Diaspora voting statistics and capacities“ – 29. September 2025.

13. Gov.md: „CEC statement on Transnistria polling stations“ – 25. September 2025.

14. Межа. Новини України: „Moldova bans exit polls for parliamentary election“ – 27. September 2025. [URL Platzhalter]

15. OSCE/ODIHR: „Moldova Parliamentary Election 2025: Election Observation Mission Final Report“ – October 2025.

16. ISS Europa: „OSCE/ODIHR assessment of Moldova election“ – October 2025.

17. Moldova1: „Transnistria polling station relocations“ – 26. September 2025.

18. English.news.cn: „Romania election controversies“ – October 2025.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Maia Sandu (Präsidentin der Republik Moldau) auf dem ersten EU-Moldau-Gipfel am 4. Juli 2025

Bildquelle: Victor Mogyldea / shutterstock


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