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Zurück auf LOS? Never!

Zurück auf LOS? Never!


Ein Kommentar von Dirk C. Fleck.

Werden wir vom Rechen der Zeit nicht alle gnadenlos aus diesem Leben geschoben? Und brechen dabei nicht alle mühsam erbauten Sicherheitssysteme in sich zusammen - einfach so: holterdipolter? Diese unumstößliche Gewissheit kann einem Angst machen. Es sei denn, wir übergeben uns freiwillig. Aber an wen, an was sollen wir uns übergeben, bevor die Metastasen der Angst vollständig von uns Besitz ergriffen haben? Der Ausweg ist einfach: wir müssen uns ins Urvertrauen begeben. Ich komme noch drauf.

Am 28. April bin ich von der Palliative Aargau in die Schweiz eingeladen worden, um im Anschluß an den Film „Das Ende ist mein Anfang“ über den Tod zu diskutieren. Zunächst hatte man mich gebeten, einen Vortrag über den Tod zu halten, das habe ich jedoch abgelehnt. Als Alternative hat man mir ein Podiumsgespräch vorgeschlagen, dem ich dann zugestimmt habe.

„Das Ende ist mein Anfang“ basiert auf einem Interview von Folco Terzani mit seinem Vater Tiziana. Der bekannte italienische Journalist und Schriftsteller Tiziana Terzani (1938–2004; im Film gespielt von Bruno Ganz) arbeitete 30 Jahre lang als Auslandskorrespondent für den Spiegel. Überdies war er bei verschiedenen italienischen Zeitungen und Zeitschriften als freier Mitarbeiter tätig, u. a. bei Il Giorno, Il Corriere della Sera, Il Messaggero, La Repubblica. Seine Reportagen und Erzählungen wurden weltweit gelesen. Er war Autor von etlichen Romanen, insgesamt verkauften sich seine Bücher über 2,5 Millionen mal. Terzani hat mit seiner Frau, Angela Staude, selbst Autorin, und seinen Kindern in Singapur, Hongkong, Peking, Tokio, Bangkok und Delhi gelebt (Wikipedia).

Der Journalist reflektiert, teils in ungewöhnlich humorvoller Form, seine Erkenntnisse über das Leben und Sterben, insbesondere über seinen bevorstehenden Tod aufgrund einer Krebserkrankung. Ich habe den Film bereits vor einigen Jahre gesehen und war zutiefst berührt. Tiziana Terzani konnte deshalb so gelassen über den Tod sprechen, weil er sich ins Urvertrauen begeben hatte, von dem ich sprach. Er hat erkannt, dass das Leben ein ewig gleich bleibendes Muster umwälzender Ausdruckskraft ist, dem man mit dem Verstand nicht auf die Schliche kommt. Im Grunde geht es darum, sich aufzugeben, nicht mehr festzuhalten an der Vorstellung, die man von sich selbst hat.

Das ist nicht einfach, denn jeder Mensch hat eine Vorstellung von sich selbst. Wir definieren uns über Eigenschaften wie schüchtern, großzügig, eifersüchtig, ehrgeizig, galant, abergläubisch, tierlieb, zärtlich, treu, flatterhaft, pedantisch, vergesslich, gutgläubig, verantwortungsbewusst und was uns sonst noch alles einfallen mag. Nichts davon ist in den Laboren der Wissenschaft beweisbar. Die Wissenschaft begreift das Leben als Versuchskaninchen, dem man seine Geheimnisse auf dem Seziertisch entreißt. Das ist dumm und anmaßend. Sie können noch so tief in den Mikro- oder Makrokosmos steigen, sie können die Dinge in Zahlen fassen oder ihnen Namen geben, dem Geheimnis unserer Existenz kommen sie damit nicht auf die Spur. Es sind nur Zahlen und Namen, es sind nur Etiketten. Etiketten sind keine Weisheiten, Etiketten haben keine Seele. Und sie berauben uns der Ehrfurcht. Ein ehrfürchtiger Mensch akzeptiert den Zusammenhalt materieller und nichtmaterieller Existenz, er weiß, dass sich das Mysterium des Lebens niemals zu Wissen reduzieren lässt. Bewusstsein ist keine Frage des Lernens, es ist eine Frage des Verlernens geworden Irgendwann wird es Zeit zu akzeptieren, dass der Mensch nichts wirklich besitzt, weder seinen Körper, der ihm jederzeit genommen werden kann, noch irgendeine Wahrheit, die ihm beim nächsten genauen Hinsehen ohnehin wieder abhanden kommt. Alles, was auf uns Eindruck macht, jede Idee, „die uns kommt“, gehört uns nicht, es sind flüchtige Leihgaben. Wir sind Gespenster, die sich über ihre Einbildungen definieren.

Um dieser Einsicht folgen zu können braucht es eine gewisse Lebenserfahrung. Auch eine gewisse Lebensmüdigkeit, die sich mit den Jahren als Sediment in unserer Seele absetzt. Diese Müdigkeit ist ein Naturprodukt, sie hilft uns, ruhig und gelassen zu werden. Ich denke oft an die Geschichte eines indischen Heiligen, der im Land sehr verehrt wurde und sich schließlich in den Bergen des Himalaya jedem menschlichen Kontakt entzog. Eines Tages kam das Gerücht auf, dass er an Krebs erkrankt war. Einem englischen Journalisten gelang es, ihn aufzusuchen. Er fragte ihn, warum er nicht zurück komme, um sich in einem Hospital behandeln zu lassen. Darauf soll der Mann ziemlich überrascht geantwortet haben, dass er doch kein Recht habe, die Krebszellen, die sich seinen Körper als Lebensraum erkoren hatten, zu bekämpfen und womöglich zu töten.

Der Schriftsteller Max Frisch (1911 - 1991) hat in seinem 1943 veröffentlichen Roman „Die Schwierigen“ etwas geschrieben, was mir mit den Jahren immer verständlicher wurde:

„Wir gehen hindurch, wir nehmen es an, das große Stirb und Werde, wir treten über die Schwelle unserer Jugend, ein für alle mal. Es fallen die schillernden Schleier der Wehmut; es kommt eine kühle, klare Härte in alles, hinter alles, und man erschrickt nicht mehr, wenn jemand aufsteht und jünger ist. Man spielt nicht mehr mit dem Schrecken, mit dem Grauen vor dem Tod. Es öffnet sich über allem ein ganz anderer Raum. Was hilft uns der Rausch? Er hat keine Flügel, er trägt nicht in Gottes kühler Geräumigkeit. Es tut nichts, ob einer schwärmt, ob einer stehen bleìbt wie ein störrischer Esel und ohne ein Wort nicht weiter will. Es trägt nicht, sowenig wie der Schrei der Verzweiflung, wie das Grinsen des Spötters. Man tritt in den Dienst von Leben und Tod; gemeint ist ein Leben, das über uns ist, das auch in Herbsten nicht trauert, ein außerpersönliches.“

Und da ich schon mal dabei bin zu zitieren, hier ein Satz von Roger Waters, dem Mitbegründer von Pink Floyd:

„Die allermeisten Songs die ich geschrieben habe stellen ein und dieselbe Frage: kannst du dich soweit befreien, dass du das Leben in aller Wirklichkeit erfährst wie es sich vor dir und mit dir abspielt? Wenn Du das nicht hinkriegst gehst du immer nur zurück auf LOS, solange bis du stirbst.“

Ich werde 80 im nächsten Jahr, wie Roger Waters auch. Ich bin ein Jahr jünger als Paul McCartney und drei Jahre jünger als Ringo. Wir vier fühlen uns pudelwohl und gehen bestimmt nicht zurück auf LOS …

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman "Go! Die Ökodiktatur" ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:  taviphoto / shutterstock.com


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