Der Standpunkt der humanistischen Psychologie ist relativ neu, noch nicht gründlich erarbeitet, schwer vermittelbar und nicht im Interesse der Herrschenden
Ein Meinungsbeitrag von Dr. Rudolf L. Hänsel.
Die Welt ist in einem Zustand, der wenig Hoffnung aufkommen lässt. Während für weltweite Kriege und Waffen, die die Menschen jenseits der Grenzen erschlagen, unerschöpfliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden, sind mehrere Millionen Kinder und Jugendliche in einem der wohlhabendsten Länder der Welt armutsgefährdet. Deshalb müssen die Menschen aufgeklärt werden; man muss ihnen die Wahrheit sagen.
Doch Aufklärung allein wird die Gesellschaft nicht umgestalten. Auch soll der Zustand der Welt nicht nur beschrieben, sondern vor allem verändert werden. Doch wie und mit wem soll das geschehen? Die Forschungsergebnisse der Tiefenpsychologie verweisen auf die Erziehung des jungen Menschen. Sie sei wichtiger als Aufklärung. Aber der Standpunkt der humanistischen Psychologie ist relativ neu, noch nicht gründlich erarbeitet, schwer vermittelbar und vor allem nicht im Interesse der Herrschenden, des Staates und der Kirche.
Ungeachtet dessen ist es für eine friedliche und humane Zukunft von großer Bedeutung, den Menschen durch Erziehung und Aufklärung das psychologische Wissen über sich selbst und die Mitmenschen zu vermitteln, damit sie sowohl ihre persönlichen Probleme lösen als auch damit beginnen können, die Welt in friedliche Bahnen zu lenken.
Der Jugend als Vorposten einer neuen Gesellschaft, des Fortschritts und einer humaneren Welt soll dabei unsere besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.
Zur Bedeutung der Aufklärung
Da die Politik in den Köpfen und Herzen der Menschen vorbereitet wird, handeln die Menschen morgen so, wie sie heute denken. Deshalb kann die Bedeutung der Aufklärung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Sinn aufklärerischer Bemühungen ist die Reinigung des menschlichen Bewusstseins von individuellen und kollektiven Vorurteilen.
Die Zerstörung von Vorurteilen bedeutet mehr als ein bloßes intellektuelles Unterfangen; der „aufgeklärte Verstand" ist fähig, gesunde Lebensziele ins Auge zu fassen. Die Zukunft unserer Kultur wird wesentlich davon abhängen, ob es genug „Aufklärer" geben wird, die imstande sein werden, den breiten Volksmassen jene Vorurteile zu nehmen, die der ideologische Hintergrund der Menschheitskatastrophen sind. Intellektuelle haben dabei eine große Verantwortung, denn ihre Pflicht wäre es, für die anderen Menschen zu denken und mit der Freiheit des Denkens die Freiheit überhaupt zu proklamieren.
In einer Zeit, in der die Bedrohung durch die Atombombe die Selbstvernichtung der Menschheit als möglich erscheinen lässt, bedürfen wir mehr denn je der „freien Geister", die uns lehren, was Wahrheit und was Lüge ist.
Der französische Aufklärer Baron Paul-Henri Thiry d'Holbach schrieb dazu bereits vor 250 Jahren in der Einleitung seines Buches „Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier":
„Es ist vergebene Mühe, die Menschen von ihren Lastern heilen zu wollen, wenn man nicht mit der Heilung ihrer Vorurtheile beginnt. Man muss ihnen die Wahrheit sagen, damit sie ihre theuersten Interessen kennen lernen, und die wahren Motive, welche sie der Tugend und ihrem wahren Glück zuführen.
Die Volkslehrer haben lange genug ihre Augen zu dem Himmel erhoben; möchten sie endlich sie der Erde zuwenden! (...). Sagen wir den Menschen, dass sie gerecht sein wollen, wohltätig, mässig und gesellig, nicht weil es ihre Götter verlangen, sondern weil man seinen Nebenmenschen zu gefallen suchen muss; (...).
Die Wahrheit ist einfach, der Irrtum ist compliziert, unsicher in seinem Gange und von Abwegen umgeben. Die Stimme der Natur ist verständlich; die der Lüge ist zweideutig, räthselhaft, mysteriös. Der Weg der Wahrheit ist gerade, jener des Betrugs ist krumm und finster. Diese Wahrheit ist allen Menschen nothwendig, und wird von allen Gerechten gefühlt. Die Lehren der Vernunft sind für alle Jene, die redlichen Gemütes sind. Die Menschen sind unglücklich, weil sie unwissend sind; sie sind unwissend, weil sich alles gegen ihre Aufklärung verschwört, und bloss darum schlecht, weil ihre Denkkräfte nicht hinreichend entwickelt." (1)
Eine Wahrheit der Gegenwart ist zum Beispiel, dass die Ungleichheit unter den Menschen in Deutschland – einem der weltweit wohlhabendsten Staaten – stärker wächst als während der Pandemie, dass mehr als zehn Millionen Menschen, darunter mehrere Millionen Kinder und Jugendliche armutsgefährdet sind und dass immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze fallen, was laut Warnung des Wirtschaftsexperten und DIW-Chefs Marcel Fratzscher „fatale Folgen für die Gesellschaft" (das heißt, für die Grundfesten des demokratischen Miteinanders) haben würde (2).
Doch Aufklärung allein reicht nicht aus, die gegenwärtige Gesellschaft umzugestalten. Auch soll der Zustand der heutigen Welt nicht nur beschrieben, sondern vor allem verändert werden.
Wichtiger noch als Aufklärung ist denn auch das Problem der Erziehung. Die Forschungsergebnisse der Psychologie – speziell der Tiefenpsychologie – haben die Erziehung in ihrer ungeheuren Tragweite deutlich gemacht.
Die Psychologie in der Tradition des Humanismus
Das humanistische Denken, das die Menschheitsgeschichte seit ihren Anfängen durchzieht, gewann seit dem Ausgang des Mittelalters und dem Anbruch der Frühen Neuzeit im europäischen Geistesleben immer mehr an Bedeutung. Gemeint ist jenes Denken, das sich allmählich befreit von mystischen Spekulationen, von Obskurantismus sowie von Autoritätsgläubigkeit und das sich zur Aufgabe macht, vorurteilslos, realistisch und tolerant die Dinge der Welt zu erforschen. Unter „Obskurantismus" wird das Bestreben verstanden, die Menschen bewusst in Unwissenheit zu halten, ihr selbständiges Denken zu verhindern und sie an Übernatürliches glauben zu lassen.
Das Aufkommen des wissenschaftlichen Denkens der Frühen Neuzeit hatte auch eine realistische Betrachtung des Menschen zur Folge: die menschliche Individualität, die Lern- und Entwicklungsfähigkeit sowie die Güte des Menschen und die Bedeutung der Erziehung wurden zu zentralen Themen der Philosophie.
Der historisch bedeutungsvolle Kampf gegen jegliche Bevormundung, für die Freiheit des Geistes und die Toleranz unter den Menschen begann. Die Aufklärung brachte zudem den Gedanken der Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit als Grundvoraussetzung eines würdigen menschlichen Lebens ein.
Doch noch heute leben wir in einer Welt, in der sich der Mensch nicht erkannt hat. Alles hat er erkannt und erforscht; aber sich selbst, seine Natur, seine seelische Verfassung, seine Reaktionsweisen hat er nicht erkannt.
Vor dem Zeitalter er Psychologie herrschte im Gegensatz zur auf Kausalität beruhenden Wissenschaft die magische Weltanschauung des Mittelalters und der Religion, die die Menschen fest im Griff hatte. Man war der Meinung, dass die Seele des Menschen hier auf dieser Welt nur eine Prüfung durchmacht und dass der Mensch in den Himmel gehört; dort sei das ewige Leben.
Tatsache ist, dass wir in gewissem Sinne noch immer im Mittelalter leben. Wir haben das mittelalterliche Denken und Fühlen nicht hinter uns gelassen. Die Mehrheit der Menschen lebt noch in diesem Zustand.
Zwar haben die Erfolge in den Naturwissenschaften das Problem etwas erhellt, aber die Menschen denken noch wie im Mittelalter, beten zu Göttern, zum Teufel und zu Engeln. Ohne Psychologie wird die Menschheit nicht weiterkommen: Dass wir Kriege führen, das ist zurückzuführen auf den Mangel an psychologischer Erkenntnis. Auch die Tatsache, dass die Menschen unglücklich sind, dass sie Schwierigkeiten haben im Leben, dass unsere Gesellschaftsordnung nicht richtig funktioniert, ist zurückzuführen auf die Unkenntnis der Psychologie.
Von allen Institutionen werden die Menschen programmiert – angefangen von der Erziehung zuhause bis hinauf zur Rekrutenschule und das „Feld der Ehre". Das ist Programm, das ist bewusst. Und in dieser Stimmung werden die Menschen ein Leben lang gehalten.
Die Psychologie ist eine Wissenschaft über den Menschen, über die menschliche Natur: wie er wird, wie er heranwächst und wie er sich in seinem Leben zurechtfindet.
Aufgrund seiner Erfahrungen, die ihm vor allem die Eltern und Lehrer vermitteln, ist er dann das Produkt seiner Erlebnisse, seiner Eindrücke in der Kindheit. Bereits in den ersten fünf bis sechs Lebensjahren – wenn das Kind in den Kindergarten kommt – hat es schon seinen Kompass. Es weiß dann schon, wie es sich verhalten soll und hat eine Meinung über das andere Kind, über Vater, Mutter, Geschwister. Es hat schon seinen Weg, seine Charaktereigenschaften, seine Stellung in der Welt.
Tiefenpsychologische Menschenkenntnis und die Lehren des Individualpsychologen Alfred Adler als ein Grundpfeiler der Tiefenpsychologie
Die Forschungsergebnisse der Tiefenpsychologie, die den unbewussten seelischen Vorgängen einen hohen Stellenwert für die Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens beimessen (Freund, Jung, Adler), können dazu verhelfen, dass psychisch irritierte Menschen in die Lage kommen, ihre Probleme in der Ehe, mit den Kindern und im gesellschaftlichen und staatlichen Leben zu lösen. Die Jugend kann das psychologische Rüstzeug bekommen, die Welt einmal in eine andere Bahn zu lenken.
Grundlegende Annahmen der Tiefenpsychologie sind vor allem die Annahme eines dynamischen Unbewussten als wesentlicher und hochwirksamer Teil unseres psychischen Lebens sowie der psychische Mechanismus der Verdrängung, der Übertragung und der Gegenübertragung und die Bedeutung der frühen Kindheit für die spätere Persönlichkeit.
Die Lehre Alfred Adlers ist zu einem Grundpfeiler der Tiefenpsychologie geworden und aus der psychologischen Forschung nicht mehr wegzudenken. Die Entwicklung der Tiefenpsychologie hat Adler in vielen Punkten Recht gegeben. Zu nennen ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass der Mensch nicht einfach durch Triebe bestimmt wird, dass der Charakter des Menschen sich nicht aufgrund eines Vererbungsprozesses entwickelt und dass die Gemeinschaft im Leben des Menschen von zentraler Bedeutung ist.
Für Adler ist der Charakter ein schöpferisches Produkt des Kindes, entstanden aus der Auseinandersetzung mit den frühkindlichen Lebensumständen, insbesondere den Erziehungseinflüssen, die für die Charakterbildung am maßgeblichsten sind.
Auch die Medizin ist nach anfänglichem Widerstand der Kirche nur weitergekommen, indem sie die Funktion des Körpers erkannt hat. Ebenso will die Tiefenpsychologie das geistige und seelische Leben des Menschen erforschen. Dann können wir auch die Frage beantworten, wer Krieg führt, wer ihn jeweils heraufbeschwört. Sind das Menschen wie wir oder sind das andere Menschen?
Die Tiefenpsychologie – ein Kind der Naturwissenschaft
Einige reife Menschen, die einen gedeckten Tisch und die Gelegenheit gehabt haben, sich zu bilden und zu forschen, haben erahnt, dass das gesellschaftliche System, wie es ist, nicht richtig ist. Drei von ihnen seien kurz erwähnt: Feuerbach, Marx und Kropotkin.
Der Erkenntnisstandpunkt des deutschen Philosophen, Anthropologen und Religionskritikers Ludwig Feuerbach (1804-1872) ist für die modernen Humanwissenschaften wie Psychologie und Ethnologie grundlegend geworden. Er forderte, dass der Mensch endlich damit aufhören müsse, ein Spielball der menschenfeindlichen Mächte zu sein, die sich der Religion zur Unterdrückung bedienen:
„Wir sehen den Menschen gebeugt unter der Last von Geschöpfen, welche nur Erzeugnisse ihres eigenen unfreien und furchtsamen Gemütes, unwissenden und ungebildeten Verstandes sind. Setzen wir an die Stelle der Gottesliebe die Menschenliebe, an die Stelle des Gottesglaubens den Glauben des Menschen an sich, an seine Kraft, werden wir aus Gläubigen zu Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, und wir werden endlich ganze Menschen werden können." (3)
Der deutsche Philosoph, Ökonom, Gesellschaftstheoretiker, Historiker, Protagonist der Arbeiterbewegung sowie Kritiker des Kapitalismus und der Religion Karl Marx (1818-1883)
hat sich auf Feuerbach abgestützt. Marx und andere – zum Beispiel die Anarchisten – haben angefangen, den Menschen richtig zu sehen. Wenn der Kampf gegen diese Gedanken nicht geführt worden wäre, wäre die Menschheit viel weiter, könnten sich die Menschen heute das Leben in jeder Beziehung besser einrichten.
Marx hat die übernatürliche Tendenz abgelehnt und den Menschen als Wesen der Natur gesehen, dessen Haltung geändert werden kann. Er meinte, dass die Verhältnisse den Menschen ändern. Wenn der Mensch die Sicherheit seines Lebens hat, denkt er anders; er hat andere Gedanken, andere Gefühle, eine andere Beziehung zum Mitmenschen. Marx vertrat die Auffassung, dass das Bewusstsein des Menschen durch die Verhältnisse geprägt wird. Seine Größe bestand darin, dass er den Menschen zurückgeholt hat auf die Erde. Er glaubte, dass der Mensch sich ändern kann. Und die Tiefenpsychologie bestätigt das. Wenn man den Menschen die Freiheit gibt, dann werden sie gesund.
Solange im Diesseits nicht jeder menschenwürdig und ohne Furcht leben könne, meinte Marx, werde es den Glauben an ein besseres Jenseits, an eine ausgleichende Gerechtigkeit geben:
„Die Religion ist das Streben nach illusorischem Glück des Volkes, das einem Zustand der Gesellschaft entspringt, welcher der Illusion bedarf." (4)
Der russische Anarchist, Sozialist, Historiker, Geograph, Wissenschaftler sowie Philosoph und Schriftsteller Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921) kämpfte für eine gewalt- und herrschaftsfreie Gesellschaft und gilt als einer der einflussreichsten Theoretiker des kommunistischen Anarchismus. Sein wissenschaftliches Werk lautete: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt".
Kropotkin vollbrachte eine große Leistung, indem er die Natur beobachtete sowie die Naturwesen und seine Beobachtungen auf den Menschen bezog. Die heutige Meinung über den Menschen, die durch die wissenschaftliche Tiefenpsychologie bestätigt wird, hat Peter Kropotkin vorausgeahnt. Mit ihm fing die Neuzeit an. In der Neuzeit hat man damit begonnen, den Menschen richtig zu erkennen. Hierzu ein bewegendes, zutiefst psychologisches Zitat Kropotkins:
„Der Mensch dem die Fähigkeit sich mit seiner Umgebung zu identifizieren anerzogen ist, ein Mensch der sich der Macht seines Herzens, seines Willens bewusst ist, stellt seine Fähigkeiten frei in den Dienst der Anderen, ohne in dieser oder in einer anderen Welt dafür eine Belohnung zu erwarten. Vor allem besitzt er die Fähigkeit die Gefühle anderer zu begreifen, sie mitzuerleben. Dies genügt. Er teilt mit den anderen Freud und Leid. Er hilft ihnen, die schweren Zeiten ihres Lebens zu ertragen. Er fühlt seine Kräfte und verbraucht großmütig seine Fähigkeiten, andere zu lieben, andere zu begeistern, in ihnen den Glauben an eine bessere Zukunft zu wecken und sie zum Kampf für diese Zukunft hinzureißen. Welches Schicksal ihn auch erreicht, er nimmt es nicht als Leid, sondern als Erfüllung seines Lebens, das er nicht gegen ein pflichtloses Vegetieren eintauschen möchte, er zieht eventuell Gefahren einem kampf- und inhaltslosen Leben vor." (5)
Zusammen mit der materialistischen Geschichtsauffassung und indem er den Faktor der gegenseitigen Hilfe für die Evolution forderte, hat Kropotkin entscheidende Einsichten der Tiefenpsychologie vorausgeahnt.
Die materialistische Geschichtsauffassung war ein enormer Einbruch in die Gefühlswelt des Menschen: der Glaube an Götter und übernatürliche Wesen hörte auf. Davor war der Mensch noch im Mittelalter in seinem Denken. Erst durch die materialistische Geschichtsauffassung hat der Mensch angefangen, sich mit sich selbst zu befassen, sich selbst zu erkennen, zu deuten und sich zu erklären, warum er sich so verhält.
Vor der materialistischen Geschichtsauffassung hat die Meinung vorgeherrscht, dass die Seele des Menschen hier auf dieser Welt bloß eine Prüfung durchmacht und das ewige Leben erst im Himmel beginnt.
Zur Bedeutung der Erziehung
Wie im Abschnitt „Zur Bedeutung der Aufklärung" bereits angedeutet, ist das Problem der Erziehung wichtiger noch als die Aufklärung, Die Ergebnisse der tiefenpsychologischen Forschung haben die Erziehung in ihrer ungeheuren Tragweite deutlich gemacht.
Die Erziehungsmethoden der Vergangenheit schufen den Menschentypus, der die Tragödie der Geschichte verursachen konnte; das autoritäre Prinzip, jahrhundertelang als fraglos-gültige Grundlage des erzieherischen Verhaltens angesehen, drosselte bereits in den Kindheitsjahren das Gemeinschaftsgefühl der Menschen und stattete sie mit jener Aggressionsbereitschaft aus, durch die eine gewalttätige Welt im Zustande der Gewalttätigkeit verharren konnte.
Heute weiß man, dass der Mensch in einem derartigen Maße das Produkt seiner Erziehung ist, dass man die Hoffnung hegen darf, durch bessere, das heißt, psychologische Erziehungsmethoden Menschen heranbilden zu können, die gegen die Verstrickungen des Machtwahns gefeit sein werden.
Indem die Pädagogik in Elternhaus und Schule auf ausschließliche Autorität und auf Gewaltanwendung verzichtet und sich mit wahrem Verständnis dem kindlichen Seelenleben anpasst, wird sie einen Menschentypus hervorbringen, der keine „Untertanen-Mentalität" besitzt und darum für die Machthaber in unserer Welt kein gefügiges Werkzeug mehr sein wird.
Die Demokratisierung der Erziehung, aufgefasst als Achtung vor der kindlichen Persönlichkeit und als freundschaftliche Zuwendung des Erziehers zu seinem Zögling auf der Basis konsequenter Antiautorität ist dazu berufen, einen der wertvollsten Beiträge zum Aufbau einer humanen Gesellschaftsordnung zu leisten.
Eine aufgeklärte, vernunftbegabte und mitmenschlich eingestellte Jugend kann die Welt einmal in eine andere Bahn lenken
Bereits vor der Pandemie-Welle und lange vor dem weltweiten Kriegs-Geschrei berichteten Jugendliche aus einem wohlhabenden europäischen Land:
„Die Dichter frohlocken: ‚Schön ist die Jugend'. Doch wie sieht es tatsächlich aus? Bei genauerer Betrachtung zeichnet sich eine andere Realität ab. Die seelische Not ist groß; in allen Lebensbereichen sind wir entweder sehr gefordert oder überfordert. Was wir über die Welt und den Menschen erfahren, ist geprägt von Unwissenheit und Unaufgeklärtheit. Unsere Eltern sind trotz größter Bemühungen nicht in der Lage, uns eine realistische Einführung ins Leben zu geben. In unseren Kinderstuben herrscht das Prinzip von Religion und Mystik, von Verwöhnung und Strenge. Die Anerkennung ist immer an Bedingungen geknüpft; nur die Leistung zählt.
Ganz irritiert kommen wir in die Schule, wo die vorgefassten Meinungen bestärkt und zementiert werden: dumm und gescheit, arm und reich. Was zählt, ist die gute Note und nicht die gegenseitige Hilfe. Die Lehrkräfte haben nicht das Einfühlungsvermögen, unsere seelische Not zu empfinden und zu beheben.
So stehen wir da: ohne Aufklärung über den Menschen und die Welt, orientierungslos sowie unfähig, uns das eigene Leben und eine schöne Liebe einzurichten. Nachdem wir diese Erziehung durchlaufen haben, sind wir Karikaturen dessen, was wir sein könnten. Auf diesem Boden der mystischen Erziehung, konfrontiert mit Schulversagen und Liebesproblemen, ist jeder junge Mensch vorbereitet für die Drogen. Junge Menschen, die die Zukunft sein sollten, gehen zu Tausenden unter unsäglichen Qualen am Rauschgift zugrunde."
Seit Anfang Jahr 2020 dürfte sich die allgemeine Situation weiter verschärft haben.
Warum der Jugend nicht die Erkenntnisse der Psychologie, eine psychologische Bildung vermitteln? Damit könnte man ihr ein Werkzeug in die Hand geben, womit sie ihre Lebens- und Liebesprobleme lösen und sich mit den Eltern versöhnen kann und womit sie Persönlichkeiten werden können.
Warum der Jugend nicht sagen, dass sie nicht in den Krieg ziehen soll? Mütter, Väter, Philosophen und Psychologen, Professoren und Persönlichkeiten aus allen Fakultäten.
Wenn das möglich ist und wenn es gelingt, dass sich die Jugendlichen einig sind – einig im Zusammenleben und Zusammenwirken –, dann werden sie ein Loch in diese Welt schlagen können. Sie sind doch die Vorposten einer neuen Gesellschaft, des Fortschritts. Vor allem die Jugendlichen können eine Umwälzung, eine Umgestaltung der Gesellschaft bewirken; eine schönere und humanere Welt schaffen.
Ich glaube an die Jugend, an ihre Lernfähigkeit, ihre Kreativität, ihre Einfühlsamkeit, ihr Verantwortungsgefühl, ihre Einsichtsfähigkeit und Bereitschaft zur Veränderung. Meistens fehlt jungen Menschen nur etwas Besonnenheit und Ausdauer, damit sie in kleinen Schritten ihre Kompetenzen entwickeln können.
Fußnoten:
(1) D'Holbach, P.-H. T. (1976). Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier. Kritische Gedanken über die Religion und ihre Auswirkung auf die kulturelle Entwicklung. Zürich, S. 4ff.
(2) https://de.rt.com/inland/155345-experten-warnen-soziale-schere-klafft/
(3) De.wikipedia.org. Stichwort „Ludwig Feuerbach"
(4) De.wikipedia.org. Stichwort „Die deutsche Ideologie"
(5) Aus: Grasenack, Moritz (Hrsg.). Die libertäre Psychotherapie von Friedrich Liebling. Lich / Hessen, S. 45
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Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Lehrer (Rektor), Doktor der Pädagogik (Dr. paed.) und Diplom-Psychologe (Dipl.-Psych.). Viele Jahrzehnte unterrichtete er und bildete Fachkräfte fort. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und pädagogisch-psychologischen Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zum Gemeinsinn und zum Frieden.
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