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Wie die deutsche Mittelschicht verarmt | Von Günther Burbach

Wie die deutsche Mittelschicht verarmt | Von Günther Burbach

Ein Meinungsbeitrag von Günther Burbach.

Die Verarmung der deutschen Mittelschicht geschieht nicht durch einen plötzlichen Bruch, nicht durch einen Börsencrash, nicht durch einen politischen Schockmoment. Sie vollzieht sich schleichend, im Alltag, in Bescheiden, Rechnungen, Nachzahlungen. Genau das macht sie so gefährlich: Sie ist kein Ereignis, sondern ein Prozess. Und dieser Prozess frisst sich Jahr für Jahr tiefer in die gesellschaftliche Substanz eines Landes, das lange von der relativen Stabilität seiner Mitte lebte.

Noch vor zwei Jahrzehnten galt die deutsche Mittelschicht als Bollwerk gegen soziale Verwerfungen. Wer eine Ausbildung hatte, wer arbeitete, wer sparte, galt als relativ abgesichert. Eigentum war erreichbar, Rücklagen waren normal, Altersvorsorge war planbar. Dieses Versprechen ist stillschweigend aufgekündigt worden, nicht durch einen offenen politischen Beschluss, sondern durch eine Kette ökonomischer und sozialpolitischer Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken.

Die Belastung beginnt beim Wohnen. In vielen Städten sind die Mieten in den vergangenen zehn Jahren um 40, 60 oder gar 80 Prozent gestiegen, während die Reallöhne mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten konnten. Wer heute umzieht, zahlt oft mehrere hundert Euro mehr für dieselbe Wohnfläche wie noch vor wenigen Jahren. Gleichzeitig explodieren die Nebenkosten. Energie ist längst kein kalkulierbarer Kostenfaktor mehr, sondern ein permanentes Unsicherheitsrisiko. Abschläge werden mehrfach im Jahr angepasst, Nachzahlungen sind zur Routine geworden. Was früher als Planungsgröße galt, ist heute ein Stresstest für jeden Haushalt.

Hinzu kommt die schleichende Enteignung durch Inflation. Sie wirkt unspektakulär, aber unerbittlich. Ersparnisse, die über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut wurden, verlieren binnen kurzer Zeit einen erheblichen Teil ihrer Kaufkraft. Das Sparbuch, einst Symbol bürgerlicher Vorsorge, ist faktisch entwertet worden. Lebensversicherungen, auf die viele gesetzt haben, liefern kaum noch reale Sicherheit. Und wer gehofft hatte, durch Eigentum der Mietspirale zu entkommen, sieht sich heute mit Kaufpreisen konfrontiert, die für normale Einkommen kaum noch finanzierbar sind, bei gleichzeitig steigenden Zinsen.

Was diese Entwicklung so perfide macht: Sie trifft jene, die lange als „sicher“ galten. Es sind nicht zuerst die Arbeitslosen, nicht zuerst die prekär Beschäftigten, sondern die Facharbeiter, Angestellten, Selbstständigen, kleinen Unternehmer, die jahrzehntelang das Rückgrat des Landes bildeten. Menschen, die alles richtig gemacht haben, Ausbildung, Arbeit, Disziplin, Vorsorge und heute dennoch spüren, dass ihnen der finanzielle Boden langsam entzogen wird.

Besonders brutal schlägt dieser Prozess im Alter zu. Kaum ein Thema wird so konsequent verdrängt wie die Kosten der Pflege. Ein Pflegeheimplatz kostet heute vielerorts zwischen 3.500 und 5.000 Euro im Monat, Tendenz weiter steigend. Für viele Familien bedeutet das den vollständigen Verbrauch der Altersrücklagen innerhalb weniger Jahre. Was in einem Leben aufgebaut wurde, wird in kurzer Zeit aufgebraucht. Danach greift der Staat, aber erst, wenn das Vermögen verbraucht ist. Immobilien werden verkauft, Rücklagen liquidiert, Lebenswerke abgewickelt. Und wenn all das nicht reicht, werden die Kinder zur Kasse gebeten.

Hier zerbricht ein zentrales Versprechen der Mittelschicht: das der Weitergabe von Sicherheit an die nächste Generation. Jahrzehntelang galt es als selbstverständlich, dass man seinen Kindern nicht nur Werte, sondern auch materielle Stabilität hinterlassen konnte. Heute hinterlassen viele Eltern vor allem Rechnungen, Verpflichtungen und die Erfahrung, dass selbst jahrzehntelange Arbeit keinen Schutz mehr bietet.

Die politische Reaktion auf diese Entwicklung ist hilflos und widersprüchlich zugleich. Es gibt Entlastungspakete, Zuschüsse, Preisbremsen, Förderprogramme, ein ganzes Arsenal staatlicher Instrumente. Doch diese Maßnahmen wirken wie notdürftige Reparaturen an einem Fundament, das längst Risse trägt. Sie sind zeitlich begrenzt, bürokratisch, oft sozial unscharf. Vor allem aber vermitteln sie kein Gefühl von Sicherheit, sondern von Abhängigkeit. Die Mittelschicht will keine Anträge ausfüllen, sie will planen können. Sie will nicht jeden Monat neu rechnen müssen, ob das Geld reicht.

Diese permanente Unsicherheit bleibt nicht ohne psychologische Folgen. Sie erzeugt keine offene Revolte, sondern etwas Zermürbenderes: Resignation. Viele arbeiten weiter, funktionieren weiter, zahlen weiter, aber ohne Perspektive. Die Aufstiegserzählung, die Generationen getragen hat, ist brüchig geworden. Wer heute Kinder hat, kann ihnen kaum noch glaubhaft versprechen, dass Anstrengung automatisch zu Sicherheit führt. Damit verliert das Leistungsprinzip seine integrative Kraft. Wenn Leistung keinen Schutz mehr bietet, entsteht ein gefährlicher mentaler Bruch.

Diese Entwicklung ist kein Naturgesetz. Sie ist das Ergebnis politischer Weichenstellungen über Jahrzehnte: die Privatisierung sozialer Risiken, die Umverteilung von unten nach oben über Kapitalmärkte und Immobilien, die Entwertung von Arbeitseinkommen gegenüber Vermögenseinkommen, eine Steuer- und Abgabenpolitik, die kleine und mittlere Einkommen überproportional belastet, während große Vermögen strukturell geschont werden. Gleichzeitig wächst der Staat in seinen Ausgaben, ohne dass die individuelle Sicherheit entsprechend zunimmt. Der Staat organisiert, reguliert, verteilt, aber er garantiert immer weniger.

Besonders problematisch ist dabei die Gleichzeitigkeit der Belastungen. Die Mittelschicht wird nicht nur an einer Stelle getroffen, sondern an vielen zugleich: Wohnen, Energie, Vorsorge, Pflege, Steuern, Abgaben, Versicherungen. Jede einzelne dieser Belastungen mag für sich genommen noch tragbar erscheinen. In ihrer Summe jedoch entsteht eine permanente Überforderung. Es ist diese Gleichzeitigkeit, die den Abstieg beschleunigt, ohne dass man ihn leicht benennen könnte.

Der soziale Frieden in Deutschland hat lange davon gelebt, dass die Mitte das Gefühl hatte, ihre Interessen würden im politischen System zumindest mitbedacht. Dieses Gefühl schwindet. Viele erleben, dass sie zahlen, verzichten, sich anpassen, während politische Versprechen von Stabilität und Sicherheit immer weniger mit der eigenen Lebensrealität übereinstimmen. Das erzeugt einen stillen, aber tiefen Vertrauensbruch. Kein lautes Aufbegehren, sondern ein leises Abwenden. Man wählt noch, aber man erwartet nichts mehr. Man arbeitet noch, aber man glaubt nicht mehr an Aufstieg. Man spart noch, aber ohne Ziel.

Diese Entwicklung ist brandgefährlich für eine Demokratie, die auf Beteiligung, Vertrauen und sozialer Integration beruht. Denn eine Gesellschaft zerbricht nicht zuerst an Armut. Sie zerbricht an dem Moment, in dem die tragende Mitte das Gefühl verliert, dass dieses System noch für sie da ist. Wenn diese Schicht beginnt, sich innerlich vom Gemeinwesen zu verabschieden, entstehen Räume für Radikalisierung, für politische Apathie oder für den Ruf nach autoritären Lösungen.

Die Verarmung der Mittelschicht ist deshalb kein Randproblem, kein sozialpolitisches Spezialthema. Sie ist eine systemische Gefahr. Sie entscheidet darüber, ob dieses Land seine innere Stabilität behält oder schleichend verliert. Und sie wird sich nicht durch symbolische Entlastungspakete lösen lassen, sondern nur durch eine grundsätzliche Neubewertung dessen, was in diesem Land als schützenswert gilt: Arbeitseinkommen, Lebensleistung, Vorsorge, familiäre Verantwortung.

Was jetzt wirklich helfen würde, jenseits von Pflasterpolitik

Die Verarmung der Mittelschicht ist kein Naturereignis. Sie ist politisch gemacht und sie ist politisch veränderbar. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man sich von der Illusion verabschiedet, mit gelegentlichen Entlastungspaketen, Einmalzahlungen und Symbolmaßnahmen ließe sich ein struktureller Abstieg aufhalten. Was gebraucht wird, ist kein weiterer Appell zum „Durchhalten“, sondern ein Kurswechsel entlang mehrerer klarer Prioritäten.

Erstens: Wohnen muss wieder Lebensraum werden, nicht Renditeobjekt. Solange Wohnraum in erster Linie als Kapitalanlage behandelt wird, wird jede Mietpreisbremse scheitern. Notwendig wären:

  • echter sozialer Wohnungsbau in breiter Größenordnung,
  • massive steuerliche Anreize für nicht-spekulative Vermieter,
  • und eine klare Einschränkung von kurzfristigen Renditemodellen im Wohnungsmarkt.

Ohne eine spürbare Entlastung bei Mieten wird jede Lohnsteigerung sofort wieder aufgefressen.

Zweitens: Pflege darf kein Armutsrisiko mehr sein. Das heutige System zwingt Familien zur vollständigen Selbstverzehrung ihres Vermögens. Eine echte Pflegereform müsste:

  • die Eigenanteile klar deckeln,
  • Pflegeversicherung wieder solidarisch finanzieren,
  • und Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen – nicht als individuelles Lebensrisiko.

Solange Pflege faktisch zur Enteignungsmaschine der Mittelschicht wird, ist jede Rede von „Leistungsgerechtigkeit“ eine leere Hülle.

Drittens: Arbeitseinkommen müssen wieder Vorrang vor Vermögenseinkommen bekommen. Die Schere zwischen Kapitalerträgen und Löhnen ist kein Unfall, sondern Ergebnis politischer Steuerung. Eine Kurskorrektur hieße:

  • Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen bei Steuern und Abgaben,
  • stärkere Besteuerung sehr großer Vermögen,
  • konsequente Bekämpfung von Steuervermeidung. Nicht als Strafmaßnahme, sondern als Stabilisierung des Gemeinwesens.

Viertens: Energie und Grundversorgung müssen wieder planbar werden. Dauerhafte Unsicherheit bei Energiepreisen zerstört jede private Lebensplanung. Unternehmen können kalkulieren, Haushalte nicht. Energie darf kein permanentes Krisengut bleiben, sondern muss wieder als Teil öffentlicher Daseinsvorsorge verstanden werden.

Fünftens: Der Staat muss wieder stabilisieren, statt nur zu verwalten. Ein Staat, der immer neue Programme auflegt, aber keine verlässliche Grundsicherheit schafft, verliert Vertrauen. Was gebraucht wird, ist weniger Klein-Klein, weniger Aktionismus, dafür mehr langfristige soziale Infrastruktur: Wohnen, Pflege, Energie, Bildung, Vorsorge.

Dass all diese Punkte seit Jahren bekannt sind und dennoch nicht grundlegend angepackt werden, hat weniger mit Unwissen zu tun als mit politischen Prioritäten. Große Vermögensinteressen, Immobilienmärkte, Finanzindustrie, Energiekonzerne, sie alle profitieren von der jetzigen Struktur. Die Mittelschicht hingegen ist politisch schlecht organisiert, leise, pflichtbewusst und genau deshalb leicht zu übergehen.

Hinzu kommt eine Politik, die Krisen zunehmend verwaltet statt löst. Man reagiert auf Symptome, nicht auf Ursachen. Man beruhigt kurzfristig, statt langfristig umzusteuern. So entsteht der Eindruck von Aktivität, bei gleichzeitiger struktureller Stagnation.

Noch ist die deutsche Mittelschicht nicht verarmt im klassischen Sinne. Aber sie ist müde geworden. Sie hat Angst. Sie verliert das Vertrauen, dass sich Einsatz noch lohnt. Und genau hier liegt der gefährlichste Punkt dieser Entwicklung: Nicht die Zahlen kippen zuerst, es kippt die innere Zustimmung.

Wenn ein Land seine Mitte verliert, verliert es nicht nur Steuerzahler, Leistungsträger oder Konsumenten. Es verliert den sozialen Kitt, der Demokratie überhaupt erst tragfähig macht.

Die Verarmung der Mittelschicht ist kein Schicksal. Sie ist das Ergebnis politischer Entscheidungen, also kann sie auch das Ergebnis anderer politischer Entscheidungen sein. Aber dafür braucht es Ehrlichkeit, Mut und die Rückkehr zu einer einfachen Grundidee: Ein Land ist nur so stark wie die Sicherheit seiner normalen Leute.

Noch ist Zeit gegenzusteuern. Noch gibt es Substanz, die man schützen kann. Noch gibt es eine Mitte, die nicht verloren ist. Aber diese Zeit läuft.

Und sie wird nicht durch Sonntagsreden verlängert, sondern nur durch einen klaren politischen Bruch mit jener Normalität, die den schleichenden Abstieg der Mitte zur Nebensache erklärt hat.

Anmerkungen und Quellen

Statistisches Bundesamt – Verbraucherpreisindex Deutschland
https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/_inhalt.html

PDF mit aktuellen Armutsquoten nach Bundesland, Alter, Haushaltstyp (Quelle: Destatis-Daten).
https://paritaet-bw.de/sites/default/files/2025-07/dp_paritaetinform_2-2025_A4_44Seiten_250715_interaktiv_ES.pdf

Studie über strukturelle Benachteiligung Vermögensarmer am Finanzmarkt, gefördert von HBS.
https://www.finanzwende-recherche.de/presse/525-euro-armutsnachteil-neue-studie-von-finanzwende-recherche-untersucht-chancengleichheit-am-finanzmarkt/

Themenportal mit Studien und Analysen zur Vermögenskonzentration in Deutschland.
https://www.boeckler.de/de/vermoegensverteilung.htm

Aktuelle Zahlen: durchschnittliche Eigenbeteiligung > 3.000 € im Monat, detaillierte Aufschlüsselung.
https://www.vdek.com/presse/pressemitteilungen/2025/pflegeheim-monatliche-eigenbeteiligung-steigt-stationaere-pflege.html

Datenstand 2024, Eigenanteil 2.871 €/Monat – gute Referenz für Dynamik der letzten Jahre.
https://www.vdek.com/presse/pressemitteilungen/2024/finanzielle-eigenbeteiligung-in-pflegeheimen-steigt-weiter.html

Offizielles Monitoring der Strom- und Gasmärkte, inkl. Preisentwicklung und Sperrungen.
https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/ElektrizitaetundGas/Monitoringberichte/artikel.html

Regierungsdarstellung der Rentenanpassung und Sicherung des 48 %-Niveaus.
https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Pressemitteilungen/2025/rentenanpassung-2025.html

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: 3D-Illustration: Brandloch in 100-Euro-Banknote als Symbol für zunehmende Preissteigerungen

Bildquelle: DesignRage / shutterstock


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