Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Ich bin in Ostfriesland zu Besuch, wo der Himmel sich tiefgrau aufs Gemüt zu legen pflegt. Das ist heute anders, heute scheint die Sonne. Was liegt da näher, als sich an den Nordseestrand zu begeben. Es herrscht kaum Verkehr, als hätten die Schleppen der allgegenwärtigen Windräder die Autos von der Fahrbahn gefegt. Und da ist er, der flirrend weiße Sandstrand, kilometerlang vor der schwarzgrünen Schlickwüste des Wattenmeers gelegen. Menschenleer! Kein Kindergeschrei, keine Wortfetzen vorüber stolpernder Passanten. Am Horizont baden die ostfriesischen Inseln Norderney und Juist im Meer.
Ich schlage den Mantelkragen hoch und lege mich in die Sandmulde einer mit scharfkantigem Seegras bewachsenen Düne, hinter der vier einsame Telegraphenmasten stehen, als halten sie nur noch unter sich Verbindung. Atme! Tief und regelmäßig. Hole die würzige Luft wie mit einem Fischernetz ein, auch wenn dir schwindlig wird dabei. Der Platz ist ideal, um den angeschwemmten Informationsmüll aus deinem Kopf zu entsorgen. Ich blicke mich um in der flachen Weite, die trotz aller Klarheit etwas zu verbergen scheint. Was ich wahrnehme, scheint auf einen seidenen Vorhang gemalt, der die wahre Wirklichkeit zu verschleiern sucht.
Ich muss an das Gedicht „Still sein“ von Pablo Neruda denken:
„Würden wir nicht so einseitig
auf dauerhafte Geschäftigkeit eingestellt,
um den vermeintlichen Schwung
in unserem Leben aufrechtzuerhalten,
könnten wir nur einmal wirklich „nichts“ tun,
vielleicht würde eine gewaltige Stille
unsere Traurigkeit unterbrechen.“
Eine Fliege hinterlässt ihre Kitzelnaht auf meiner Unterlippe. Was mag sie denken? Denkt sie überhaupt? Wie nimmt sie die Welt wahr? Während ich von einer Gedankenwolke auf die andere springe, zeichnen ihre Beinchen ein wirres Muster auf mein Gesicht. Jede Spezies auf unserem Planeten, Fliege wie Mensch und auch alle anderen der Millionen Arten auf der Erde, haben ein eigenes Kommunikations- und Wertesystem, ein eigenes Zeitempfinden. Jede Spezies empfindet sich daher logischerweise als Mittelpunkt der Welt. Auch der Mensch. Das ist sie, die göttliche Balance.
Nun ist gut, Fliege! Gut jetzt! Ich ziehe das Buch aus der Manteltasche, das ich seit einiger Zeit mit mir herumführe: „Paare, Passanten“ von Botho Strauß. Die Fliege hüpft auf die vom Wind aufgeschlagene Seite 111. Dort heißt es:
„Er saß draußen auf dem freien Land und er las in einem Buch das Wichtigste, was er je zu lesen bekommen hatte. Nur die Sprache sagte er sich, hat dich bisher diese elende Einsamkeit ertragen lassen. Es schafft ein tiefes Zuhause und ein tiefes Exil, in der Sprache zu sein.“
Und dann zitiert er den 1998 verstorbenen mexikanischen Schriftsteller Octavio Paz: „Literatur beginnt, wenn einer sich fragt: wer spricht in mir, wenn ich spreche?“
Botho Strauß teilt die Angst aller großen Dichter. Sie fragen sich was wohl passiert, wenn ihnen die gottgegebene Sprache plötzlich entzogen wird, wenn die Worte unter sich bleiben und er ausgeschlossen und erkenntnislos zurückbleibt. Eine schreckliche Vorstellung, über die die beiden Wildgänse, die knapp über mir mit schrillem Schrei nach Norden ziehen, nie nachzudenken brauchen.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: imageBROKER.com / shutterstock
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