Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Es ist ja nicht so, dass ich im regnerischen Dauergrau des Herbstes vor Lebensfreude sprühen würde, aber depressive Schübe, die mich in jüngeren Jahren regelmäßig erwischten, bleiben inzwischen aus. Ich komme mir vor, wie eine Briefmarke, die geduldig darauf wartet, einen noch ungeschriebenen Liebesbrief frankieren zu dürfen. Aber der Herr, der ihn aufzusetzen gedenkt, findet nicht die passenden Worte. Sein Papierkorb ist bis zum Rand mit zerknüllten Entwürfen gefüllt. Wie langweilig. Das macht müde, glauben Sie mir.
Es gibt verschiedene Arten von Müdigkeit. Die Lebensmüdigkeit schließe ich bewusst aus. Sie wächst mit den Jahren automatisch heran, denn über alle Tagesaktualitäten hinweg und durch alle Gefühlsstrukturen hindurch schimmert die Verlockung der Heimkehr. Mit der Zeit bekommen wir eine Ahnung vom Einklang des Ganzen, von dem einen Klang. So mancher Selbstmörder ist ihm in seiner Ungeduld nachgegangen. Nein, davon ist hier nicht die Rede. Die Rede ist von den vier Klassikern, die unseren Alltag beleben. Beleben ist natürlich der falsche Ausdruck, durchdringen wäre passender. Hier sind sie:
1. Die Gähn-Attacke. Sie erwischt uns in Konferenzräumen, Aulen, Sälen und überall dort, wo der Rede kurzer Sinn weitschweifig referiert wird. Die Orte sind meist überheizt, was in Verbindung mit der monotonen Stimme des Redners dazu führt, dass man schon bald kräftig auf die Zähne beißt, um sich nicht mit aufgerissenem Mund verdächtig zu machen. Dabei spielt der Inhalt des Vortrags keine Rolle. Ob wir über die Vorteile einer vorwiegend auf Obst und Gemüse basierenden Ernährungsweise aufgeklärt werden, ob wir der Neuausrichtung der Firmenstrategie lauschen oder mit gesenktem Kopf der Grabrede auf einen Mann zuhören, der so tapfer durchs Leben schritt, dass man sich an Captain America erinnert fühlt - gegen Gähn-Attacken ist kein Kraut gewachsen. Das Dumme ist nur, dass sie uns als Desinteresse ausgelegt werden, was schon manchem braven Menschen den Job gekostet hat.
2. Die Lese-Bremse. Das Buch wurde uns wärmstes empfohlen. Es hat nur 250 Seiten, müsste also schnell zu konsumieren sein. Nun liegt es bereits seit Wochen auf dem Nachttisch. Wir nehmen es jeden Abend zur Hand. Um uns zu erinnern, an welcher Stelle des komplizierten Handlungsstrangs wir angelangt waren, blättern wir einige Seiten zurück. Philine heißt die Protagonistin, sie hat ihn während der Flitterwochen verlassen, ja, richtig. Aber kaum sind wir da, wo wir gestern aufgehört hatten, rutscht uns das Buch aus der Hand. Sein dumpfer Aufschlag auf dem Holzfußboden weckt uns. Wir löschen das Licht. Siebenundvierzig Seiten haben wir bisher geschafft. In zwei Wochen! Das ist nicht viel. Und es werden kaum mehr …
3. Die Mittelstreifen-Geschosse. Es ist zwei Uhr Nachts, wir sind bereits seit acht Stunden unterwegs. Ein Kaffee wäre gut, aber zur nächsten Tankstelle sind es noch … was sagt das Navi? Noch 57 Kilometer. Also mindestens eine halbe Stunde. Reiß dich zusammen! Am besten du konzentrierst dich einfach auf die weißen Markierungen in der Mitte der Fahrbahn. Den Stern immer schön auf den weißen Linien halten. Wie tückisch sie gelegentlich nach links und rechts ausbrechen. Noch 52 Kilometer, das schaffst Du! Du schaffst es …
4. Das Leichentuch. Vollmond. War stark diesmal. Am Morgen danach steht man schon beim Zähneputzen auf wackligen Beinen. Es klingelt. Der Postbote bringt ein Päckchen für den Nachbarn. Bitte hier unterschreiben. He, der wohnt nicht mehr hier! schreit man dem DHL-Mann vom Balkon hinterher, vergeblich, er dreht sich nicht um. Der Rest des Tages fühlt sich an, als sei einem das Leichentuch übergeworfen worden. Feinporig. Man geht früh schlafen, oder besser: man legt sich früh hin. Schlafen kann man vor lauter Müdigkeit nämlich nicht. Dschiesus!
An solchen Tagen möchte ich mir die Tage ausziehen wie ein schmutziges Hemd, ich möchte der Mann sein, der seinen Kopf durch das Himmelszelt steckt und verzückt in unbekannte Welten blickt. Aber meine Gedanken sind kraftlos geworden, sie bewegen nichts mehr. Die Welt bleibt keck vor ihnen stehen, ein wenig blöd, ein wenig banal, ein wenig dreckig. Die Goldadern der Sehnsucht sind versiegt. Immerhin: meine Unzufriedenheit ist gestillt, aber ich bin nicht einmal mehr zur Trägheit fähig.
Und jetzt komme ich zur härtesten, zur perfidesten, zur hinterfotzigsten aller Müdigkeiten: dem SCHWARZEN VORHANG. Er saust wie ein Fallbeil in eine x-beliebige Situation. Äußerlich hat sich nichts geändert, nur dass die wahrgenommen Bilder jetzt ohne Leben sind, als hätte man sie zu lange zur Ader gelassen. Der Realitätsfilm läuft zwar weiter, stellt sich aber lediglich als Abfolge seelenloser, belangloser Bilder dar. Der SCHWARZE VORHANG wiegt schwer, so schwer wie ein in Wasser getränkter wollener Umhang, den man übergeworfen bekommt. Eine Art Waterboarding. Seltsam nur, dass es trotz seiner triefenden Schwärze vollkommen durchsichtig ist. Was meine Augen registrieren, trägt nicht einmal seinen Schatten. Dennoch suche ich verzweifelt nach einem Ausgang aus diesem toten Leben, das auch noch in einen leichten Kopfschmerz gewickelt ist. Dieser Belagerungszustand kann eine Stunde dauern oder zwei. Er kann aber auch bis in die Nacht reichen, in der ich dann zentnerschwer in den Kissen liege und krampfhaft versuche, der schwarzen Umklammerung zu entkommen. Nicht selten wache ich in ihr am nächsten Morgen wieder auf. Bar jeder Hoffnung, jemals in eine Welt zurück zu finden, in der Dinge noch Bedeutungen hatten. Kleiner Tipp für alle Vorhang-Geschädigten: Auf keinen Fall hinlegen und der Müdigkeit nachgeben. Irgendwann bekommt man das Gefühl, sich zu verpuppen und nie wieder aufzuwachen.
Nach einer solchen Erfahrung ist man schnell geneigt, an Mächte zu glauben, die sich mit dem Verstand nicht greifen lassen. Erst recht, nachdem eine Freundin, die lange in Indonesien gelebt hat, davon zu erzählen wusste, dass sich die Menschen dort der schwarzen Magie bewusst bedienen, um ihren Feinden zu schaden, was in der Regel auch funktioniert. Als diese Freundin von dem Schwarzen Vorhang erfuhr, versprach sie, den Spuk zu beenden. Das hat offensichtlich gewirkt, denn ich bin seit Wochen verschont worden.
Oh, wie ich die ganz normalen Müdigkeiten plötzlich zu schätzen weiß. Die Müdigkeit zum Beispiel, die uns eine Arbeit macht, die wir liegen lassen. Und die wir uns hätten ersparen können, wenn wir die Arbeit einfach getan hätten. Wie diesen Artikel zu schreiben, zum Beispiel …
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: SFIO CRACHO / Shutterstock.com
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