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Warum Großbritannien immer neue Militärbündnisse in Europa schließt | Von Thomas Röper

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Großbritannien schließt seit einiger Zeit mit immer mehr europäischen Staaten bilaterale Militärbündnisse, obwohl es die NATO gibt. Was könnte dahinterstecken?

Ein Standpunkt von Thomas Röper.

Ich habe Ende Mai darüber berichtet, dass Großbritannien mit den nordeuropäischen Staaten Militärbündnisse geschlossen hat. Inzwischen hat London auch mit Frankreich und Deutschland gesonderte Verträge über militärische Zusammenarbeit und Verteidigung geschlossen. Wozu könnte das gut sein, wenn es doch die NATO gibt?

Artikel 5 des NATO-Vertrages regelt die gemeinsame Verteidigung und ist laut Politik und Medien eine Beistandsgarantie zwischen den NATO-Staaten. Allerdings stimmt das so nicht, weil Artikel 5 so schwammig formuliert ist, dass er niemanden zu irgendetwas verpflichtet. Darin heißt es lediglich, dass im Falle eines Angriffs auf ein NATO-Land jede Vertragspartei “im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet”. Ein NATO-Staat kann also trotz des Verteidigungsfalls beschließen, dass es keine Maßnahmen für erforderlich hält. Mehr Details zu dem Thema finden Sie hier.

Da die USA unter Trump die NATO immer offener in Frage stellen und Trump sich auch zur gemeinsamen Verteidigung sehr nebulös äußert, scheint London beschlossen zu haben, eine Führungsrolle zu übernehmen und eine Art “Neben-NATO” aufbauen zu wollen, bei der Großbritannien im Zentrum steht und über bilaterale Bündnisverpflichtungen mit den wichtigsten europäischen Ländern einen Zwang zur gemeinsamen Verteidigung herstellen zu wollen.

Das Großbritannien das tut, hat mindestens einen wichtigen Grund: Im EU-Vertrag ist in Artikel 42 Absatz 7 folgende Beistandsklausel enthalten, die viel weiter geht, als Artikel 5 des NATO-Vertrages:

“Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.”

Die EU ist also quasi durch die Hintertür auch ein Militärbündnis und seit dem Brexit wird Großbritannien nicht mehr durch diesen Vertrag geschützt. Indem London nun bilaterale Verträge mit EU-Staaten schließt, schlägt es zwei Fliegen mit einer Klappe: Es schlüpft wieder unter den Schutz der EU-Verteidigungsklausel und gleichzeitig übernimmt es als zentrales Land dieser neuen Militärbündnisse die Schlüsselstellung ein, die es ihm ermöglicht, selbst zu entscheiden, wann es andere in Kriege ruft.

Durch solche bilateralen Militärbündnisse ist Europa übrigens in den Ersten Weltkrieg geraten, denn der ursprünglich regionale Streit auf dem Balkan zwischen Österreich-Ungarn und Serbien eskalierte durch die bilateralen Bündnisse zu einem Weltkrieg.

In der russischen Nachrichtenagentur TASS habe ich zu dem Thema einen Artikel gefunden, wobei die Autorin die ganze Tragweite dessen, was Großbritanniens neue Militärbündnisse bedeuten, meiner Meinung nach nicht erfasst hat. Ich habe den Artikel aber trotzdem übersetzt, weil er viele interessante Details über die von London in den letzten Wochen geschlossenen Bündnisse enthält und weil er auch andere interessante Aspekte des Themas anspricht.

BEGINN DER ÜBERSETZUNG:

Deutschland, Frankreich, Polen … Warum Großbritannien Militärabkommen außerhalb der NATO abschließt

Aljona Lissenkowa über die Ziele Londons und die Rolle Russlands und der USA dabei

Großbritannien schließt aktiv Militärabkommen außerhalb der NATO, aber mit Ländern, die Mitglieder der Allianz sind. Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Wozu dient das? Reicht die NATO nicht aus? Strebt London höhere Ziele an? Kann Großbritannien mit den USA konkurrieren?

Eins nach dem anderen

Am 17. Juli 2025 unterzeichneten der britische Premierminister Keir Starmer und der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz den deutsch-britischen Freundschaftsvertrag. Trotz des umfassenden Charakters des Abkommens legt der Text besonderen Wert auf Sicherheits- und Verteidigungsfragen.

Kurz zuvor, am 10. Juli, unterzeichneten Starmer und der französische Präsident Emmanuel Macron, übrigens Vertreter der einzigen Atommächte des „kollektiven Westens“ in Europa, die „Lancaster House 2.0“-Erklärung, mit der die Fachdokumente von 2010 aktualisiert wurden. Der Text befasst sich sowohl mit der Koordinierung der nuklearen Abschreckungskräfte im Besonderen als auch mit Sicherheits- und Verteidigungsfragen im Allgemeinen.

Schließlich vereinbarte Keir Starmer im Januar dieses Jahres den Abschluss eines Fachabkommens mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk und dem Präsidenten Andrzej Duda, ebenfalls Vertreter eines der größten EU-Mitgliedsländer. Darin wurden die „russische Bedrohung“, Menschenhandel, Energieversorgung usw. als die drängendsten Probleme genannt.

Die Aktivität Großbritanniens kann als eine neue Etappe im „Neustart“ der Beziehungen zu den EU-Staats- und Regierungschefs und zur Union selbst interpretiert werden, die es 2020 verlassen hat. Das stimmt jedoch nicht ganz.

Der Brexit meldet sich

Am 19. Mai 2025 trafen sich die EU und Großbritannien zu ihrem ersten bilateralen Gipfeltreffen nach dem Brexit. Die EU war durch die Präsidenten der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und des Europäischen Rates, António Costa, vertreten, Großbritannien durch Starmer. Während des Treffens wurden Vereinbarungen über den Ausbau der militärischen Zusammenarbeit getroffen. Es wurde die Partnerschaft zwischen der EU und Großbritannien im Bereich Sicherheit und Verteidigung geschlossen, die Bereiche wie Informationsaustausch, die Prüfung der möglichen Beteiligung an gegenseitigen Verteidigungsinitiativen und die Erhöhung der militärischen Mobilität umfasst.

Im Einklang mit dem Verteidigungskonzept „Strategischer Kompass“ 2022 zielt die EU darauf ab, die Fähigkeit zur für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit mit Partnern auf bilateraler Basis zu stärken. Großbritannien ist nicht das einzige Beispiel. Insbesondere wurde auf dem 20. EU-Gipfel am 24. Juni eine Partnerschaft im Bereich Sicherheit und Verteidigung mit einem weiteren NATO-Mitglied, mit Kanada (von der Leyen, Costa und Premierminister Mark Carney), geschlossen.

Wenn man von Großbritannien spricht, sollte man jedoch nicht vergessen, dass britische Vertreter seit dem Gipfeltreffen in Saint-Malo (Frankreich, Tony Blair und Jacques Chirac) 1998 aktiv danach strebten, eine führende Rolle in europäischen Angelegenheiten zu spielen – insbesondere bei der Festlegung des Kurses und der Kontrolle der Entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei hat das Land die NATO nie vergessen und ihr eine führende Rolle zugeschrieben, indem es von der Unzulässigkeit der Duplizierung ihrer Funktionen und der Untergrabung ihrer Autorität sprach.

In diesem Sinne beraubte der Brexit die EU des einflussreichsten Unterstützers des Atlantizismus. Gleichzeitig verlor Großbritannien selbst die Fähigkeit, Sicherheits- und Verteidigungsfragen in Europa im früheren Maßstab zu kontrollieren.

Globales Versagen

Nach dem Referendum von 2016 formalisierten die Konservativen, die traditionellen Konkurrenten der seit 2024 regierenden Labour Party, die konzeptionelle Vision der britischen Außenpolitik im Programm „Global Britain“ (bis 2021). Darin wurden Londons Interessen im Indopazifik, Südostasien, Afrika, Lateinamerika etc. dargelegt und damit ein stärkeres Engagement über Europa hinaus demonstriert. Der Text sprach auch von „konstruktiven und produktiven Beziehungen zu unseren EU-Nachbarn, die auf gegenseitigem Respekt für die Souveränität und dem Recht Großbritanniens, wirtschaftlich und politisch anders zu handeln, wenn das unseren Interessen dient, basieren“.

Ich glaube, es wäre seltsam, unmittelbar nach dem Austritt des Landes aus der Union eine andere Formulierung zu erwarten. Seitdem sind jedoch mehrere Jahre vergangen, es kam (sogar mehrmals) eine neue Regierung, und es ist deutlicher geworden, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Kolonialzeit (insbesondere im Kontext einer Reihe internationaler Krisen) und der außenpolitische Einfluss nicht ausreichen, um solch ehrgeizige Pläne umzusetzen.

Derzeit ist der Wunsch sowohl der EU (und ihrer führenden Mitglieder) als auch Großbritanniens nach stärkeren Bündnisbeziehungen in der europäischen Region deutlich erkennbar. Neben den unterzeichneten Abkommen konzentriert sich die Aktivität Großbritanniens, Deutschlands und Frankreichs auch auf eine neue strategische Allianz namens E3.

Obwohl die kürzlich unterzeichneten Dokumente (einschließlich derer zwischen Deutschland und Frankreich) Hinweise auf Verpflichtungen innerhalb der EU und der NATO enthalten, kann die Formulierung über die Absicht, „Europas Beitrag zu seiner eigenen Sicherheit zu stärken“, unterschiedlich interpretiert werden. Einerseits könnte es sich um einen Beitrag zu den Aktivitäten der NATO selbst handeln, solche gegenseitigen Beistandsverpflichtungen sind beispielsweise im Artikel 5 des NATO-Vertrags festgelegt. Andererseits könnte man in diesen Formulierungen einen Wunsch nach größerer Autonomie Europas in Sicherheitsfragen sehen. Hinweise auf die führende Rolle der NATO sehen wie ein Versuch aus, die Beziehungen zu den USA nicht zu verschärfen. Langfristig können die europäischen Länder jedoch auch auf einen unabhängigeren außenpolitischen Kurs hoffen.

In diesem Zusammenhang sei an den Vertrag von Aachen erinnert, den Deutschland und Frankreich 2019, fast 60 Jahre nach dem Élysée-Vertrag von 1963, unterzeichneten. Er symbolisierte die Versöhnung und den Beginn einer engen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Der Vertrag von Aachen konzentriert sich zwar nicht auf Sicherheitsfragen, hebt aber einen wichtigen Punkt hervor: Auch als Mitglieder der EU und der NATO können Länder bilaterale Beziehungen entwickeln und ihre außenpolitische Unabhängigkeit erklären. Das zeigt, dass der Wunsch nach Souveränität und Entscheidungsfreiheit trotz der Zugehörigkeit zu großen internationalen Bündnissen weiterhin aktuell ist.

Kein Freund, kein Feind

In der heutigen internationalen Situation lassen sich zwei Schlüsselfaktoren identifizieren, die diese Art der Annäherung beeinflussen. Sie betreffen die Beziehungen zu Russland und den USA.

Nach Beginn der akuten Phase des Ukraine-Konflikts verteidigten viele europäische Staaten konsequent die Position, dass eine Antwort auf die „russische Bedrohung“ nötig ist. Im Mai 2025 besuchten Keir Starmer, Friedrich Merz und Emmanuel Macron sogar gemeinsam Kiew, wobei sich ihnen Donald Tusk anschloss. Ursula von der Leyen ihrerseits betonte im Rahmen des EU-UK-Gipfels die Notwendigkeit der Einheit angesichts der „größten Bedrohung“.

In diesem Sinne strebt Großbritannien, ein geografisch und kulturell europäischer Staat mit engen wirtschaftlichen und historischen Bindungen an Kontinentaleuropa, (vorhersehbar) eine strategische Annäherung an seine ehemaligen EU-Partner an.

Gleichzeitig stellte der Machtwechsel in den USA die europäischen Mächte vor eine neue Herausforderung. Mit Donald Trumps Amtsantritt ist das frühere Strategie- und Werteverständnis, wie es unter der Regierung des Demokraten Joe Biden der Fall war, verschwunden. Die aktuelle Politik der Republikaner ist oft inkonsistent und unvorhersehbar, ein markantes Beispiel dafür ist Washingtons Zollkrieg gegen fast alle Länder der Welt, einschließlich seiner Verbündeten.

Am 27. Juli verkündete Trump schließlich den Abschluss eines Handelsabkommens mit der EU: Auf europäische Exporte in die USA werden Zölle in Höhe von 15 Prozent eingeführt. Vor dem Hintergrund einer Reihe von Widersprüchen entstanden im Westen jedoch unweigerlich Bedenken, denn es gibt keine Garantien dafür, dass die USA Europa im Falle eines tatsächlichen bewaffneten Konflikts zu Hilfe kommen werden.

Einerseits wirft das nicht nur die Frage der bilateralen Beziehungen zwischen jedem einzelnen Staat beziehungsweise der EU und den USA auf, sondern belebt auch die Diskussion über eine unabhängige europäische Armee und die Effektivität der NATO neu.

Andererseits erscheint trotz allem jeder Anschein einer vollständigen Unabhängigkeit dieser NATO-Mitgliedsstaaten unrealistisch. Das schließt natürlich nicht aus, dass sie ihre Aktivitäten im Bereich Sicherheit und Verteidigung zumindest in regionalen Angelegenheiten verstärken können.

Nicht zu vergessen ist, dass sich die NATO-Mitgliedsstaaten dennoch darauf geeinigt haben, ihre Verteidigungsausgaben bis 2035 auf 5 Prozent des BIP zu erhöhen. Genau darauf bestand Donald Trump, um die Zusammenarbeit innerhalb der NATO fortzusetzen.

Allerdings ist es natürlich unwahrscheinlich, dass Trump ernsthaft beabsichtigte, die Allianz vorher zu verlassen und damit die Kontrolle über die europäischen Angelegenheiten zu schwächen.

ENDE DER ÜBERSETZUNG

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 29. Juli 2025 auf anti-spiegel.ru.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Keir Starmer (Premierminister des Vereinigten Königreichs)
Bildquelle: Martin Suker / shutterstock


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