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„Warten auf den Gurgelschnitt“

„Warten auf den Gurgelschnitt“

"Trump zieht der globalisierten Finanzwirtschaft den Stecker“, sagt der österreichische Politkommentator Gerald Grosz – und trifft damit den Nerv der Debatte. Er spricht von einer wirtschaftspolitischen „Atombombe“, einem fundamentalen Umbau der US-Wirtschaft – weg von der spekulativen Börsenblase, hin zu realer Wertschöpfung. Eine Rosskur, die den Weltmärkten weh tut – aber langfristig heilt. Und er stellt die entscheidende Frage: Warum hat Europa nichts gelernt? 

Ein Meinungsbeitrag von Sabiene Jahn

Die wirtschaftspolitische Atombombe

Ein schwarzer Montag. Börsen stürzen, Analysten stottern, Medien empören sich. Wieder einmal scheint Donald Trump die Welt aus den Angeln zu heben. Doch was viele als wirtschaftspolitische Provokation lesen, könnte in Wahrheit die strategischste Entscheidung seiner bisherigen Präsidentschaft sein – und zugleich der Weckruf, den Europa so lange ignorierte.

Was derzeit als Schockwelle durch die globalen Finanzmärkte rauscht, ist mehr als ein erratischer Ausbruch eines unberechenbaren US-Präsidenten. Es ist ein wirtschaftspolitischer Systembruch. Eine Abrechnung mit der Finanzialisierung, wie sie seit den 1980er-Jahren die Realwirtschaft systematisch ausgehöhlt hat. Eine Rückkehr zu realen Werten. Diese Maßnahmen seien, so Grosz, „schmerzhaft, ja. Aber notwendig.“ Die Zölle gegen Europa, vor allem gegen Deutschland, seien nichts weniger als der Versuch, „die Nabelschnur zu kappen“, die die USA von Billigimporten und fremder Verschuldung abhängig gemacht hat. Der Nebeneffekt: ein massiver Eigentümerwechsel an den Börsen, in dessen Folge sich Vermögenswerte still verschieben – von Hedgefonds zu staatlicher Kontrolle, von globalem Casino zu nationalem Wirtschaftsmodell.

Der ehemalige Chefvolkswirt der UNCTAD, Prof. Heiner Flassbeck, war einer der ersten, der Trumps Zollpolitik nicht als ökonomisches Harakiri verurteilte, sondern als – im Kern – logische Reaktion auf das destruktive deutsche Exportmodell. Der Grundkonflikt, den Flassbeck betont: Deutschland erzielt Exportüberschüsse auf Kosten seiner Partner, drückt die Löhne, vernachlässigt den Binnenkonsum – und destabilisiert dadurch das Weltwirtschaftssystem. Trump, so Flassbeck, reagiert mit Zöllen nicht irrational, sondern rational. Er zwingt Europa zur Korrektur – eine Aufgabe, die hierzulande niemand freiwillig angehen will.

Petersilienzweig auf dem Krautfleck

Die Reaktionen aus Brüssel, Berlin und Paris sind vorhersehbar: empört, selbstgerecht, ohne Einsicht. Die EU spricht von „Handelskrieg“, von „Unverhältnismäßigkeit“, von „Populismus“. Aber sie vermeidet die Frage, warum Europas Wirtschaft überhaupt so anfällig ist. Warum der Verlust billiger Energie aus Russland ganze Industrien zum Erliegen bringt. Warum der Green Deal zur Deindustrialisierung führt. Und warum Europas Antwort auf Trump nicht wirtschaftliche Reform, sondern moralische Entrüstung ist. Gerald Grosz bringt es auf den Punkt:

„Europa hat sich selbst zerstört – Trump ist nur der Petersilienzweig auf dem Krautfleckerl.“

Es war nicht Trump, der Nord Stream sprengte, die Automobilindustrie entwertete, die Pharma- und Textilindustrie nach Asien ziehen ließ. Es waren Entscheidungen der EU-Kommission, nationaler Regierungen, ideologisch geleiteter Industriepolitik.

Während europäische Leitmedien den „bösen Trump“ beschwören, fällt die internationale Reaktion differenzierter aus. Die Irish Times spricht von einer „Wettpause“, einem „strategischen Schock, der Raum für Umdenken bietet“. Le Monde erkennt „die Rückkehr des souveränen Staates in der Wirtschaftspolitik“. Doch die Frage ist nicht nur: Was macht Trump? Sondern: Was machen wir nicht?

Überschuss als Waffe

Deutschland ist Exportweltmeister – ein Titel, auf den man stolz war. Doch längst kritisieren internationale Ökonomen das deutsche Modell als systemisch gefährlich: Ein gigantischer Leistungsbilanzüberschuss destabilisiert Partnerländer, untergräbt deren Industrie und zwingt sie in Defizitspiralen. Die USA sind davon besonders betroffen: Seit Jahren importieren sie deutlich mehr aus Deutschland, als sie dorthin exportieren – ein permanentes Ungleichgewicht. Der US-Korrespondent Michael Wüllenweber bringt eines bei „Welt online“ auf den Punkt: „Die Zölle sind nicht reziprok, es ist ein Zoll auf das Handelsvolumen – ein Handelsüberschuss-Zoll.“ Anders gesagt: Es geht nicht um klassische Protektion – sondern um ökonomische Reziprozität. Trump reagiert nicht nur auf das Produkt, sondern auf die makroökonomische Bilanz. 

Am Wochenende meldeten sich über 50 Länder bei der US-Administration: Sie wollen neue Handelsverträge, Ausnahmeregelungen oder bilaterale Lösungen. Trump zeigte sich – laut Newsmax – „zuversichtlich, dass viele sehr gute Deals geschlossen werden“. Die Drohkulisse wirkt: Wer sich anpasst, darf bleiben. Wer blockiert, fliegt raus. Die geopolitische Realität ist brutal einfach. Die USA diktieren die Spielregeln.

Sündenbock-Suche

Die Reaktion der EU ist symptomatisch: Lautstarke Kritik – aber keine Selbstanalyse. Kein Wort zu den Leistungsbilanzüberschüssen. Kein Eingeständnis zur Deindustrialisierung durch den Green Deal. Kein Plan für neue Eigenständigkeit bei Energie, Pharma, Textil oder Technik. Gerald Grosz formuliert es drastisch:

„Die Europäische Union hat alles getan, um Europas Wirtschaft zu zerstören. Trump liefert nur den Zuckerguss auf den Trümmern.“

In deutschen Medien dominiert Panik: Der Spiegel titelt: „Handelskrieg mit Ansage“, die Tagesschau meint: „Trump beschädigt das Vertrauen in die Märkte“, WELT online: „Blutbad an der Börse – Trump unter Druck“. Doch bereits im Subtext ist der Wandel spürbar: Selbst konservative Kommentatoren gestehen ein, dass Trump „nicht völlig unrecht“ habe. Risiken? Ja. Aber was wäre die Alternative? Natürlich sind Trumps Zölle riskant. Aber was ist riskanter: Ein globaler Wirtschaftskrieg – oder die permanente Selbstaufgabe durch Abhängigkeit, Exportwahn und Energieknappheit? Europa müsste längst in Infrastruktur, Löhne, Binnenkonsum und industrielle Rückverlagerung investieren. Stattdessen verjuxt man 800 Milliarden Euro in Rüstung, streitet über Gender-Sprache und verdrängt die ökonomischen Realitäten.

Gefangen im alten Vokabular

Eine der Stimmen, die Europa zu mehr strategischer Autonomie aufrufen, ist der britische Autor und ehemalige BBC-Journalist Paul Mason, dessen programmatischer Beitrag „Handeln statt kuschen“ am 8. April auch im jpg-Magazin der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienen ist. Mason steht exemplarisch für jene kognitive Dissonanz, die das gegenwärtige Denken in der EU-Elite durchzieht: Er benennt durchaus zutreffende ökonomische und geopolitische Krisenerscheinungen: das globale Ungleichgewicht, die strategische Erpressbarkeit Europas, die soziale Verwundbarkeit der westlichen Demokratien. Doch anstatt die Ursachen dieser Missstände bei den eigenen Eliten, Strukturen und politischen Fehleinschätzungen zu suchen, verlagert Mason den Systemkonflikt nach außen: Trump, Putin, Xi – sie sind die Gegner, nicht die eigene politische Klasse. Damit externalisiert er die Verantwortung. Er spricht von strategischer Eigenständigkeit, meint aber in Wirklichkeit: ein entschlosseneres Weiter-So, nur mit härterem Ton gegenüber „autoritären Nationalisten“. Der Appell zur „Emanzipation von Amerika“ endet bei Mason nicht in ökonomischer Souveränität – sondern in einem neuen Bündnis westlicher Demokratien, die „Werte“ exportieren (Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit), globale Regeln setzen (Digitalisierung, Arbeitsrecht), wirtschaftliche Macht koordinieren (Zölle, Standards, Sanktionen). Das ist nicht strategische Souveränität – das ist imperialer Universalismus im neuen Gewand. 

Mason stellt den Nationalstaat als Gefahr dar – insbesondere, wenn er von konservativen Kräften geführt wird. Doch nationale Industriepolitik, Zinssteuerung, Reindustrialisierung – all das braucht ein Mindestmaß an souveräner Handlungsmacht. Trump macht es für die USA. Flassbeck fordert es für Europa. Mason hingegen verteidigt Souveränität für den Globalen Süden, verwehrt sie aber dem Westen. Diese doppelte Moral erzeugt Widerstand:

„Wir dürfen nicht das tun, was Trump tut – selbst wenn es richtig wäre.“

So bleibt Masons Forderung „Handeln statt kuschen“ gefangen im alten Vokabular: Starke Worte – aber eingebettet in das transatlantische Dogma, das Europa erst in seine heutige Abhängigkeit geführt hat. Er kritisiert Trump, aber nicht die neoliberale US-Politik vor ihm. Er fordert Stärke für Europa – aber nur innerhalb der alten Bündnistreue. Er will einen geopolitischen Neustart – ohne Machtverschiebung, ohne multipolare Realität, ohne Fehleranalyse. Er verharrt politisch in der Welt von gestern.

Ökonomische Schlüsseljahr für 2026

Während Europa noch über Zölle debattiert, denkt Trump in längeren Linien – und mit einem klaren Horizont für das Jahr 2026. Dieses Datum ist kein Zufall. Es markiert einen finanziellen Kipppunkt der Vereinigten Staaten. Rund zwei Billionen US-Dollar an mittelfristigen Staatsanleihen, die unter der Administration Obama und der Fed-Nullzinspolitik aufgenommen wurden, werden ab 2026 fällig. Diese Anleihen müssten bei gleichbleibenden oder steigenden Zinsen deutlich teurer refinanziert werden.

Für Trump, der sich als Mann der „Deals“ sieht, ist das nicht hinnehmbar – und er handelt entsprechend. Diese Logik ist komplex – aber entscheidend. Wenn gleichzeitig durch Zölle Einnahmen generiert werden, lassen sich staatliche Ausgaben teilfinanzieren – ohne neue Schulden. Das verschafft dem US-Haushalt Spielraum.

Gerald Grosz spricht von europäischer Selbsttäuschung. Statt zu handeln, hofft man auf Trump-Gegner, auf EU-Kompromisse, auf außenpolitische Wunder. Grosz nennt das „Warten auf den Gurgelschnitt“ – eine harsche, aber treffende Metapher. Wenn Trumps Zölle ein Weckruf sind, dann darf Europas Antwort nicht nur Trotz oder Trägheit sein. Dann muss sie lauten: Jetzt. Endlich Re-Industrialisierung: Das Ziel ist nicht Protektionismus – sondern Produktion. Rückholung von Schlüsselindustrien, wie Pharma, Textil und Technik, aber auch Förderung von Mittelstand und Innovation durch steuerliche Entlastung, Lohnanhebungen, um Binnenkonsum und Lebensqualität zu stärken. Auch Energiesouveränität gehört dazu: Ohne bezahlbare Energie keine Industrie, deshalb diversifizierte Energiepartnerschaften, perspektivisch eben auch mit Russland, Ausbau von Speichertechnologien und Infrastruktur sowie ideologiefreie Bewertung von Kernenergie, Wasserstoff, synthetischen Kraftstoffen.

Gibt es noch fähige Menschen, die dieses Dilemma bewältigen könnten? Die Antwort ist, ja – aber sie sitzen selten dort, wo Entscheidungen getroffen werden. Sie schreiben kritische Bücher, leiten mittelständische Betriebe und lehren an unabhängigen Hochschulen – und sie haben eins gemeinsam: Sie wurden zu lange ignoriert. 

Quellen und Anmerkungen:

1.) https://www.surplusmagazin.de/flassbeck-trump-zoelle-exporte/

2.) https://www.relevante-oekonomik.com/2025/04/07/handel-als-friedlicher-austausch-oder-als-boxkampf/

3.) https://www.bild.de/politik/ausland-und-internationales/trump-lehnt-eu-vorschlag-ab-kein-null-zoll-deal-mit-von-der-leyen-67f49286cf90e7676189f294

4.) https://www.bild.de/politik/kritik-in-den-usa-wird-immer-lauter-kommt-jetzt-der-aufstand-gegen-trumps-zoll-krieg-67f4577d38c3276cfc90d7e9 

5.) https://youtu.be/R_VIS3xPPYE?si=rc__jsjzp1RR6Itb

6.) https://www.welt.de/wirtschaft/article255743448/Unzufrieden-Trump-draengt-US-Notenbank-Fed-zu-schnelleren-Zinssenkungen.html

7.) https://www.zeit.de/wirtschaft/2025-04/donald-trump-fed-chef-zinsen-senken 

8.) https://www.euronews.com/business/2025/04/05/european-and-us-markets-continue-to-drop-after-trumps-global-tariffs 

9.) https://www.fr.de/wirtschaft/handelskrieg-verschaerft-sich-eu-bereitet-reaktion-auf-trumps-zoelle-vor-musk-aendert-strategie-zr-93669633.html

10.) EU berät Strategie: Trumps Zölle lösen Börsen-Talfahrt aus - ZDFheute

11.) Zinsen, US-Staatsverschuldung und die Politik von Donald Trump: ein Balanceakt | KfW

12.) Handelsminister der EU-Staaten beraten über Trumps Zölle 

13.) Neue US-Zölle: ++ Weißes Haus dementiert 90-Tage-Pause ++ | tagesschau.de

14.) https://www.ipg-journal.de/rubriken/wirtschaft-und-oekologie/artikel/handeln-statt-kuschen-8211/?utm_campaign=de_40_20250407&utm_medium=email&utm_source=newsletter

15.) https://www.welt.de/wirtschaft/article255853096/Die-1930er-Jahre-sind-zurueck-Wirtschaft-und-Oekonomen-malen-duesteres-Bild-nach-Trumps-Zollschock.html

16.) https://www.youtube.com/live/s0icwv1x9as?si=8E9qfj_DVU9WFnTS

17.) https://youtu.be/RFNZoMPO4s0?si=nlYe-DUJxewiqAFY

18.) https://youtu.be/NU4A96O5Pto?si=eNqL8C4wNAlMvgWP

19.) flassbeck economics international - Economics and politics - comment and analysis

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Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: jfergusonphotos / shutterstock


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