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Wachstumslüge entlarvt: Die Wahrheit hinter den 0,4 Prozent | Von Julian Marius Plutz

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Deutschlands Wirtschaft wächst im ersten Quartal formal um 0,4 Prozent, doch Arbeitslosigkeit, Inflation und diverse Effekte täuschen über die eigentliche Lage hinweg. Die deutsche Ökonomie bleibt in einem schlechten Zustand.

Ein Standpunkt von Julian Marius Plutz.

»Tagesschau.de«, aber auch viele andere Medien sind in Feierlaune, denn das Statistische Bundesamt korrigiert seine Wachstumserwartung auf das Doppelte. Das teilte die Behörde mit Sitz in Wiesbaden mit. Chefin der Chefstatistik ist übrigens Ruth Brand, die auch gleichzeitig Bundeswahlleiterin ist. Dieselbe, die sich bereits im vergangenen Jahr zum sprichwörtlichen „Obst“ gemacht hat, weil ihr sogar die Papierindustrie widersprechen musste, als sie meinte, es gebe für die Neuwahlen nicht genügend Wahlzettel.

Nun darf die gute Ruth aus der Stadt, die den Kochbrunnen ihr eigen nennt, eine Thermalquelle am Rande der Fußgängerzone, wieder jubeln. So ist die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal 2025 um „satte“ 0,4 Prozent gewachsen. Ruths Statistiker und ihre Handlanger von der Tagesschau feiern das als „überraschend stark“. Auch sogenannte Experten sind völlig aus dem Häuschen: „Hoppla! Eine Revision um 0,2 Prozentpunkte ist ungewöhnlich“, frohlockte Jens-Oliver Niklasch von der Landesbank Baden-Württemberg gegenüber der ARD. Die frohe Botschaft dürfte auch bei der neuen Wirtschaftsministerin, Katherina Reiche, angekommen sein. Gute Zahlen zum Amtsbeginn kann doch jeder gebrauchen.

Das Problem an der Sache liegt, wie üblich, im Detail, genauer gesagt an der mangelhaften ökonomischen Bildung auch und gerade innerhalb des Journalismus. Es ist schon eine wackere Leistung, dass sich Tagesschau.de trotz Zwangsgebühren nicht in der Lage sieht, diese Zahl ins Verhältnis zu setzen. Denn betrachtet man den Gesamtkontext, vom Basiseffekt bis zu den strukturellen Problemen in Deutschland, dann dürfen sich weder die reizende Ruth in Wiesbaden noch die karrierebewusste Katherina in Berlin großartig freuen.

Der Vorzieheffekt verzerrt die Prognose

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Der sogenannte „Basiseffekt“ macht die 0,4 Prozent Wachstum in Windeseile zu einer Seifenblase. Liegt ein Wert „unter dem Basiseffekt“, bedeutet dies, dass ein hoher Wert im Vorjahr den aktuellen prozentualen ökonomischen Zuwachs kleiner erscheinen lässt – und umgekehrt lässt ein niedriger Vorjahreswert das Wachstum größer aussehen. So ist die Wirtschaft im Jahr 2023 um »0,3 Prozent« und 2024 »um 0,2 Prozent« geschrumpft. Das bedeutet, Deutschland hat zwei Jahre lang wirtschaftlich Boden verloren, während nun die ruchlose Ruth und die kurzsichtige Katherina ein minimales Plus feiern. Das ist ungefähr so, als würde man nach einem Marathon rückwärts laufen und dann feiern, dass man zwei Schritte vorwärts gemacht hat. Klingt nicht nur sinnlos, ist es auch. 

Die 0,4 Prozent im ersten Quartal 2025 bringen Deutschland gerade mal zurück auf das Niveau von vor der Krise – und selbst das bleibt zu bezweifeln, wenn man die schwachen Prognosen für den Rest des Jahres anschaut und wenn man den »Ausführungen der EU-Kommission« glaubt, die erfahrungsgemäß eher positiver dargestellt werden. Der Basiseffekt täuscht also ein Wachstum vor, das in Wahrheit nur ein Aufholen von Verlusten ist. 

Nicht zu vergessen ist der Vorzieheffekt, immerhin benennt ihn die Tagesschau. Unter „Vorzieheffekt“ versteht man das wirtschaftliche Phänomen, dass Unternehmen geplante Exporte oder Investitionen zeitlich nach vorne verlagern, um bevorstehende Nachteile zu umgehen – in diesem Fall die von Donald Trump ab dem 1. Juni 2025 angekündigten Strafzölle von bis zu 50 Prozent auf EU-Importe. Dadurch steigen die Ausfuhren kurzfristig stark an, was das Wirtschaftswachstum vorübergehend höher erscheinen lässt, obwohl es sich um ein Strohfeuer handelt, dem später ein Dämpfer folgt.

Inflation und Arbeitslosigkeit nicht beachtet 

Was Tagesschau und Konsorten auch hätten berücksichtigen können, sind die Arbeitslosenzahlen, die alles andere als rosig aussehen. Im März 2025 lag die Arbeitslosenquote bei 6,3 Prozent, der höchste Stand »seit über vier Jahren«. Im Januar 2025 waren es mit 6,4 Prozent sogar »fast 3 Millionen Arbeitslose«. Das ist kein kleiner Dämpfer, das ist ein Alarmsignal allererster Güte. Die Industrie, einst das Rückgrat Deutschlands, blutet aus. »Volkswagen plant Werksschließungen« und betriebsbedingte Kündigungen, Thyssenkrupp Steel kündigte im April 2025 an, »11.000 Jobs zu streichen«, um „wettbewerbsfähig“ zu bleiben. Während der öffentliche Sektor und das Gesundheitswesen noch Jobs schaffen, finanziert das letztlich der Steuerzahler – also die, die noch Arbeit haben. Ein Teufelskreis, der zeigt: Der Arbeitsmarkt ist ein Trümmerfeld, und die 0,4 Prozent ändern daran nichts.

Ebenso wenig bedachten Ruth und Katherina die Inflation. Im April 2025 lag sie zwar »bei 2,1 Prozent«, dem niedrigsten Stand seit drei Jahren. Das klingt zwar gut, ist es jedoch nicht. Denn die Reallöhne haben die Kaufkraftverluste noch lange nicht wettgemacht. Lebensmittelpreise stiegen im März 2025 »um mehr als drei Prozent« im Vergleich zum Vorjahr. Die Verbraucher bleiben vorsichtig, die Sparquote liegt bei »über zehn Prozent«, weit über dem Vorkrisenniveau. Ein aktuelles Beispiel, nicht zuletzt, weil dieser Autor so gerne Zug fährt: Die Preise für das Deutschlandticket stiegen im Januar 2025 von 49 auf 58 Euro, was Pendler, Familien und diesen Autor zusätzlich belastet. Die Inflation mag sinken, aber für den Durchschnittsverbraucher fühlt sich das wie ein Tropfen auf den heißen Stein an. Auch hier wirkt die singuläre Betrachtung von 0,4 Prozent von Tagesschau und Co wie ein Deepfake.

Falsche politische Weichenstellung

Grundsätzlich zu kritisieren ist das Zwei-Prozent-Ziel der EZB. Denn dieses sieht Inflation nicht als ein zu vermeidendes Übel an, sondern vielmehr als politisch gewolltes Mittel – also eine dauerhafte, staatlich legitimierte Entwertung privaten Eigentums. Eine Zentralbank, die systematisch Preissteigerungen anstrebt, verlässt den ordnungspolitischen Boden der Marktwirtschaft und betreibt in Wahrheit eine schleichende Umverteilung von unten nach oben sowie einen Wandel von Sparern zu Schuldnern – ein Eingriff, der Freiheit und Eigentum gleichermaßen untergräbt.

Neben Basis- und Vorzieheffekt, Arbeitslosenzahlen und Inflation könnte man auch noch die großartigen Strukturprobleme in Deutschland, wie Bürokratie, Fachkräftemangel oder Digitalisierung ansprechen, die die 0,4 Prozent Wachstum im richtigen Kontext beleuchten. Da können sich die oberste Statistikerin, Ruth Brand, sowie die Wirtschaftsministerin freuen, wie sie mögen. Die Ökonomie hierzulande ist in einem schlechten Zustand. Es mag bezweifelt werden, zumindest sind kaum Anzeichen erkennbar, dass sich dies mit der neuen Regierung ändert.

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 27. Mai 2025 auf haintz.media.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Volatilitätsindexdiagramm mit aufsteigendem Pfeil
Bildquelle: Shutterstock AI Generator / shutterstock


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