
Wer noch in der Schusslinie stand, entscheidet über juristischen Ausgang
Das Strafrecht Utahs macht den Unterschied zwischen Mord und Kapitalmord nicht an Motiven, Planung oder Grausamkeit fest, sondern an der Gefährdung Dritter. Im Fall Charlie Kirk wird damit die Frage, wer noch in der Schusslinie stand, über Leben und Tod des Angeklagten Tyler Robinson entscheiden.
Ein Kommentar von Sabiene Jahn.
„Damit ein Mord in Utah mit der Todesstrafe geahndet werden kann, müssen Staatsanwälte einen spezifischen erschwerenden Umstand nachweisen – über den vorsätzlichen Mord hinaus“,
erläutert Paul Cassell, Professor für Strafrecht an der University of Utah (1). Während in Kalifornien schon das „vorsätzliche Lauern“ genügt, verlangt Utah nach § 76-5-202 Utah Code einen zusätzlichen Beweis: Der Täter muss „wissentlich eine große Todesgefahr für eine andere Person“ geschaffen haben – außer für das Opfer und sich selbst (2). Cassell betont:
„Die behaupteten Tatsachen machen deutlich, dass Robinson vorsätzlich handelte. Aber dieser Vorsatz allein reicht nach Utahs Gesetz nicht für die Todesstrafe. Entscheidend ist, ob er zugleich eine Gefahrenzone schuf, die andere Personen in unmittelbare Todesgefahr brachte“ (1).
Dieses Konzept der „Gefahrenzone“ ist zentral. Es geht nicht nur um den Getöteten, sondern darum, ob andere Menschen durch die Handlung objektiv in akuter Lebensgefahr waren. Das bedeutet: Schon wer mit einem einzigen Schuss eine weitere Person gefährdet, erfüllt nach Utahs Lesart potenziell die Voraussetzungen für Kapitalmord.
Die Konstruktion ist eine Folge der US-amerikanischen Todesstrafenentwicklung. 1972 erklärte der Supreme Court im Falle Furman vs. Georgia die damaligen Gesetze für verfassungswidrig, weil sie zu willkürlich angewandt wurden (3). Vier Jahre später legitimierte er im Fall Gregg vs. Georgia modernisierte Gesetze, die auf erschwerende Umstände setzten (4). Viele Bundesstaaten orientierten sich am Model Penal Code (MPC). Utah wählte 1973 bei der Reform seines Strafgesetzbuches eine Variation: Nicht „viele“, sondern schon „eine andere Person“ genügt, um die Schwelle zur Todesstrafe zu überschreiten (5).
Die Gerichte Utahs haben seitdem Maßstäbe gesetzt. Im ersten Fall, State vs. Pierre (1977), gab es drei Tote, zwei Personen wurden schwer verletzt. Das Gericht sah eine eindeutige Gefahrenzone und bestätigte die Todeswürdigkeit (6). Beim zweiten Fall State vs. Johnson (1987) erschlug der Täter den Ehemann im Keller, während sich dessen Ehefrau in einem anderen Raum befand. Das Gericht verneinte die Gefahrenzone, da die Frau räumlich getrennt und nicht unmittelbar bedroht war (7). Im dritten Fall gegen Sosa-Hurtado (2019) bejahte das Gericht die Gefahrenzone – auch ohne weitere Todesopfer. Die Schüsse im Tabakladen verfehlten zunächst eine Person, trafen dann tödlich eine andere (8). Diese Fälle zeigen, wie stark die konkrete Situation über den juristischen Ausgang entscheidet: Nähe, Wahrscheinlichkeit und Wissen des Täters sind ausschlaggebend.
Für die Staatsanwaltschaft Utah County ist die Gefahrenzone offensichtlich: Robinson feuerte nicht in einem abgelegenen Raum, sondern vor Hunderten Zeugen. Kirk stand auf einer Bühne, flankiert von Mitarbeitern und Zuhörern, während ein Fragesteller direkt vor ihm stand. Cassell verweist auf die Fotos auf dem Campus:
„Was auch immer man sonst über dieses Bild sagen mag, es macht deutlich, dass es sich bei der Schießerei nicht um eine geheime, private Vendetta handelte, sondern vielmehr um eine öffentliche Ermordung eines Opfers, das von Hunderten von Menschen umgeben war“ (1).
Die Verteidigung könnte allerdings dagegenhalten: Der Schuss mit Zielfernrohr sei gezielt und präzise erfolgt, sodass keine reale Gefahr für Dritte bestand. Doch die Anklage wird darauf pochen, dass schon die Nähe anderer Personen in der Schusslinie genügte, um das Risiko objektiv zu belegen.
Utah ist einer der wenigen Bundesstaaten, die die Todesstrafe noch aktiv anwenden. Jeder neue Prozess entfacht die Grundsatzfrage neu – Abschreckung oder Anachronismus? Im Fall Kirk kommt hinzu, dass es sich um eine prominente Figur handelte, deren Tod politische Symbolkraft besitzt. Für Juristen wie Cassell geht es jedoch um die Rechtslogik. „Diese Frage ist im Wesentlichen eine Tatsachenfrage, die die Jury klären muss,“ meint der Rechtswissenschaftler (1).
Damit öffnet sich der Blick über den konkreten Fall hinaus: Utahs Auslegung der Todesstrafe steht in einer langen Entwicklung amerikanischer Rechtsprechung, die seit den 1970er-Jahren immer wieder neu justiert wird. Die amerikanische Rechtswissenschaftlerin Marah Stith McLeod hat in ihrem Aufsatz „The Death Penalty as Incapacitation“ darauf hingewiesen, dass die Todesstrafe in der Theorie nicht nur Strafe, sondern auch eine Form der dauerhaften Unschädlichmachung gefährlicher Täter sein soll. Sie betont, dass Gerichte und Kommentatoren diesem Gesichtspunkt bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben (9). Gerade Fälle, in denen Täter bewusst eine ganze Gefahrenzone schaffen, werfe die Frage auf, ob die Gesellschaft solche Risiken nur durch Eliminierung bannen kann.
Doch die Frage, was die Todesstrafe gesellschaftlich leisten soll, beschäftigt nicht nur amerikanische Gerichte. Auch die Rechtswissenschaft greift diesen Punkt auf und setzt eigene Akzente. Gerade im Vergleich wird sichtbar, wie unterschiedlich Staaten auf dieselbe Grundfrage reagieren: Soll das äußerste Strafmaß vor allem Vergeltung sein oder ist es mit den Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit unvereinbar? Deutschland hat hier nach 1945 eine eindeutige Antwort gegeben. (10) Die Debatte um die Todesstrafe bekommt in den letzten Jahren in Deutschland wieder Aufwind. Angesichts einer Häufung hinterhältiger und brisanter Morde wird auch in Europa gelegentlich gefragt, ob die Gesellschaft hinreichend geschützt ist – nicht, weil eine Rückkehr zur Todesstrafe realistisch wäre, sondern weil jeder spektakuläre Mord die Frage neu stellt, was wir als Rechtsgemeinschaft künftig lernen müssen (11)(12)(13).
Einen beunruhigenden Blick in die Zukunft lieferte bereits 2015 eine Umfrage des Erlanger Kriminologen Franz Streng. Damals erklärten rund 32 Prozent der befragten Jurastudenten, die Todesstrafe sei gerechtfertigt, und etwa die Hälfte hielt sogar Folter für ein geeignetes Mittel. Streng zeigte sich überrascht. Die jungen Juristen fühlten sich zwar sicher, da schwere Gewaltverbrechen in Deutschland rückläufig waren, doch Medienberichte und Fernsehserien hätten Vergeltungswünsche befeuert und den Ruf nach härteren Strafen genährt (14). Heute aber – zehn Jahre später – erreichen uns Tötungen und Leid beinahe in Echtzeit über alle nur denkbaren Kanäle – verstärkt durch eine Politik, die Konflikte eher anheizt als beruhigt. Wie würden diese Studenten wohl heute entscheiden?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Paul Cassell, „Why the Murder of Charlie Kirk Qualifies as Capital Murder under Utah Law“, 16. September 2025. University of Utah. Reason.com
(2) Utah Code Ann. § 76-5-202 – Gesetzesgrundlage zum „aggravated murder“ in Utah. le.utah.gov
(3) Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972).
(4) Gregg v. Georgia, 428 U.S. 153 (1976).
(5) Paul N. Cox, „Utah’s New Penal Code“, Utah Law Review 1973, S. 718 ff.
(6) State v. Pierre, 572 P.2d 1338 (Utah 1977).
(7) State v. Johnson, 740 P.2d 1264 (Utah 1987).
(8) State v. Sosa-Hurtado, 2019 UT 65.
(9) Marah Stith McLeod, „The Death Penalty as Incapacitation“, Notre Dame Law School, 2018. PDF
(10) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ gesetze-im-internet.de
(11) Polizeiliche Kriminalstatistik 2024, Bundeskriminalamt. bka.de
(12) EthikInstitut, „Die Todesstrafe – rechtsethische Einordnung“. ethikinstitut.de
(13) Auswärtiges Amt, „Todesstrafe und Folter – Menschenrechtspolitik Deutschlands“. auswaertiges-amt.de
(14) Guido Kleinhubbert: „Jura-Studenten und die Todesstrafe: Woher kommt diese Grausamkeit, Herr Streng?“, SPIEGEL Online, 12.02.2015. spiegel.de
+++
Dank an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
+++
Bild: Ausführungskonzept der Todesstrafe: elektrischer Stuhl steht in altertümlicher Gefängniszelle
Bildquelle: zef art / shutterstock
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit der:
Spenden-Kryptowährung „Nackte Mark“: https://apolut.net/unterstuetzen/#nacktemark
oder mit
Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoin
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut