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Unsere Sprache ist zur geistigen Giftmülldeponie verkommen

Unsere Sprache ist zur geistigen Giftmülldeponie verkommen

 

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

In meinem Buch „Gefleckte Diamanten“* sind Gedanken und Aphorismen aus den letzten vierzig Jahren versammelt. Ich habe sie in vierzehn Kategorien unterteilt. Eine dieser Kategorien trägt den Titel „Literatur“. Hier eine Auswahl:

Schriftsteller, die erkannt haben, dass Worte Versteller sind, Sichtblenden vor der Wahrheit sozusagen, die dafür plädieren, Worte schlicht und sinnvoll einzusetzen, anstatt sie in der Schlacht um die unumstößliche Wahrheit sinnlos zu verheizen, solche Schriftsteller spüren die Magie des Lebens in jedem Moment.

Hinter der Sprache kommt das Schweigen. Ich versuche mich sprachlich schon seit Längerem zu reduzieren, fast in die Poesie hinein. Über die Dichtung (oder besser Verdichtung) in das Schweigen. Das mühsam erkämpfte Schweigen soll eine Erquickung sein und kein Schrecken.

Die Texte, in denen Peter Handke die »ersten Male« besang, diese poetische Rührung, die auch noch das Banalste auflädt, wenn es nur dies ist: eine neue Erfahrung, ein Anfang.

In den letzten dreißig Jahren, in denen ich immer mal wieder zu den Schriften von Prentice Mulford gegriffen habe, ist mir kein Mensch begegnet, der diesen Mann kannte. Auf Facebook stieß ich nun auf eine Seite, die seinen Namen trägt. Auf ihr fand ich folgenden großartigen Text:

 »Alle wilden Geschöpfe haben in ihren natürlichen Lebensbedingungen eine Art Seligkeit, denn sie sind wahre Ausdrucksformen des großen Unbekannten, das wir in Ermangelung eines besseren Wortes das unendliche Bewusstsein nennen wollen. In der wahnsinnigen, jubelnden Ekstase des Liebesschreis, mit der der große Vogel einsam in der Morgendämmerung über die Tannen hin nach einer Unbekannten ruft, ist seines Lebens Schönheit, Wahrheit und Glück, wie es gleichermaßen der unvergleichliche Sprung für die Wildkatze ist, mit dem sie, ein Dämon der Anmut, ihm den Jubelruf in der Kehle durchbeißt. Wo aber ist diese Wahrheit und Anmut, wenn der Mensch sein Geselchtes mit Bier hinunter schwemmt? Dann nähert sich sein Ausdruck in ganz verdächtigem Maße dem Geschöpf, in das er den starken, mutigen Eber verzüchtet, verschweinzt hat, denn das Schwein ist Menschenwerk und zeigt so recht, was aus einer Wahrheit wird, die er in seine Finger bekommt. Die ebenmäßige, stark beschwingte, sich selbst erhaltende Wildgans ist eine Wahrheit: ist einer der Ausdrücke des unendlichen Bewusstseins. Die watschelnde, hilflose, flügellahme, leberkranke, geschoppte Gans ist das, was von einer Wahrheit übrigbleibt, wenn der Mensch dazu kommt.«

Unsere Kommunikation beschränkt sich auf einen abgegriffenen Bodensatz von Vokabeln, der permanent in Aufruhr ist und jeden reinen Gedanken trübt. Die Sprache ist längst zur geistigen Giftmülldeponie verkommen, in ihr lagert das kulturelle Elend unserer Zeit. Eine Liste mit den hundert gebräuchlichsten Wörtern würde den Zerfall der Welt besser dokumentieren als jede Doktorarbeit zum Thema.

Vor kurzem bin ich daran gegangen, meine Aufzeichnungen vom Ballast hingekritzelter »Erkenntnisse« zu säubern, die ich dem Einfluss einer Droge, dem Schmerz einer verlustreichen Liebe oder einfach der Anmaßung meiner Jugend zu verdanken hatte. Einige Metaphern widersetzen sich allerdings meinem Zugriff und so schleppe ich sie durch alle kritischen Instanzen, obwohl sie mir nicht schlüssig erklären, was sie meinen. ERREGUNGEN – FANGNETZE DER STERBLICHKEIT ist so ein ungeschliffenes Juwel. Ebenso die an ein Verkehrsschild erinnernde Mahnung RISIKOFAKTOR BEGIERDE! Manchmal sind die Texte auch in hauchdünne Kitsch-Glasuren gegossen: DIESE SCHATTIGEN TROSTTÄLER MIT IHREN KÜHLEN WINDEN, DIE WARM WERDEN, WENN SIE UNS ENDLICH EINFRIEREN ... Es ist schön zu beobachten, wie unser Verständnis von der Welt in Worte hinein blüht und dort wieder verblüht. Etwas hat auf fantastische Weise Geduld mit uns ...

Science-Fiction? Die Realität ist immer auf der Überholspur.

Mit dem Wortfriedhof will ich jener Vokabeln und Begriffe gedenken, die sich im deutschen Sprachgebrauch aus unterschiedlichsten Gründen erschöpft haben. Sie lassen sich nicht mehr benutzen. Sie wurden gemordet, vergewaltigt, denunziert, diskriminiert oder der Lächerlichkeit preisgegeben. Manche haben vor dem Zeitgeist kapituliert, andere sind im Dienste sich wandelnder Werte und Erkenntnisse untergegangen oder waren einfach nur zu schwach, um sich zu behaupten. Der Friedhof der Worte erinnert daran, dass die Sprache ein organisches Wesen ist. Wenn man ihm genügend Poesie zuführt, regeneriert es sich selbst – gleich einem Baum unter dem ausschließlichen Einfluss von Licht und Wasser. Aber Sprache ist eben nicht nur Literatur, sie ist der kleinste gemeinsame Nenner für alle Menschen. Und damit das am meisten belastete Transportmittel der Kommunikation – strapaziert von ideologischen, politischen, wissenschaftlichen, bürokratischen und technischen Ansprüchen. Im Gegensatz zu anderen Künstlern sieht der Dichter sein Instrument permanent missbraucht. Die Meister der Sprache vermögen sich kaum Gehör zu verschaffen vor lauter banalem Wortgeklingel.

Nietzsche sprach von der Sprachverwirrung des Guten und des Bösen. Das erleben wir gerade.

»Wird aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?«,

fragte Thomas Mann. Diese Frage haben sich in der einen oder anderen Form alle sensiblen Geister im Laufe der Geschichte gestellt, sie ist sozusagen ein Klassiker der Sehnsucht.

Wir waren zu dritt im Abteil, die Frau, der Mann und ich. Die Frau sah mich unentwegt an, ihre Lippen bewegten sich wie zum Gebet. Der Mann öffnete seinen Aktenkoffer auf den Knien und wühlte mit tief hängendem Kopf in seinen Unterlagen. Hinter ihm prangte die dezente Anzeige eines Beerdigungsinstituts. Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem Fahrgeräusch. In meinem Kopf wirbelten die Bilder einer Stadt auf. Kinder hockten apathisch zwischen gigantischen Scherbenhaufen. Zerrissene Pappkartons wirbelten durch die Straßen. Menschen mit Handwagen zogen stumm aneinander vorbei, sie beachteten die Leichen nicht, die auf den blutverschmierten Gehwegen lagen. Plötzlich liefen die Bewohner auseinander, sie versteckten sich in Hauseingängen, hinter Trümmern oder in der Kanalisation. Kurz darauf schlenderten zwei blonde Männer in schwarzen Uniformen die Straße herunter, sie scherzten miteinander wie auf einem Sonntagsspaziergang. Vor der unbekleideten Leiche eines jungen Mädchens blieben sie stehen. Während der eine mit der Stiefelspitze gegen ihre Brust stieß, zog der andere seine Pistole und feuerte auf das letzte intakte Fenster in der Stadt. Gelangweilt setzten sie ihren Weg fort. Hinter ihnen hoben sich die Gullydeckel … Ich riss die Augen auf. DAS IST DIE LÖSUNG! stand auf einem Plakat. Der Mann mit dem Aktenkoffer war verschwunden, die Frau auch. Stattdessen saßen mir nun zwei ältere Herren gegenüber. Sie lasen die gleiche Zeitung. »Kunze ist frei«, sagte der eine und setzte die Sonnenbrille auf.

Es ist mir schon passiert, dass ich auf dem Klang, der Harmonie und dem Temperament meiner eigenen Worte in Verzückung geriet. Weil ich wusste, dass sie nicht wirklich von mir waren und ich mich daher plötzlich verbunden fühlte.

Wir kennen die Ohnmacht der Worte. Sie reichen nicht an den Wesenskern. Den Wesenskern erfühlt man.

Es gibt sie, die Dornenfelder, in denen die Dichter so lange bluten, bis sie aufgerufen werden zu schreiben.

Worte verbrennen an der Wahrheit wie Meteore in der Atmosphäre.

»Das höchste Gut ist das Wissen von der Vereinigung des Geistes mit der Natur« – Spinoza. Es tut gut, Sätze wie diesen zu finden. Es ist ein beruhigendes Gefühl, aus den längst gelebten Leben anderer die Bestätigung zu erhalten, dass es nur einen Weg zur Läuterung gibt. Die Literatur, die uns auf diesem Weg begegnet, lebt plötzlich auf, als hätte sie nur darauf gewartet, uns beschenken zu dürfen. In ihr stecken ja alle Opfer, die Menschen bisher erbracht haben.

Der Dichter ist der Not enthoben, erfinden zu müssen. Er findet vor. Das unterscheidet ihn von den Wortakrobaten, den Schriftstellern und Journalisten, die ihrer jeweiligen Gesellschaft die aberwitzigsten Geschichten auftischen, immer in der Hoffnung, dass man es ihnen lohnen möge. Diese Sprachklempner sind in der Regel feige und impotent, sie treiben ein hinterlistiges Spiel, sie verkaufen Scheiße für Gold. Man sollte ihnen das Wort verbieten.

Ich stelle bei mir eine wachsende Scheu vor dem Wort fest. Selbst die Gedanken mögen sich kaum noch in Worte kleiden. Sie kommen als Schwingungen daher.

Die Poesie, die das Sprach-Konstrukt im Innersten zusammenhält, ist längst überfordert. Ihre feinen Streben halten dem Druck des Vulgären nicht mehr stand.

Schreiben ist Bildhauerei. Man feilt an einer Wortplastik.

Sprachverfall kann durchaus lustvoll betrieben werden. Die jungen Generationen verschanzen ihre Emotionen hinter wenigen plakativen Wortschöpfungen, die nur ihnen gehören. Ähnlich reduziert stellt sich die Propagandasprache totalitärer Staaten dar. Es ist den Menschen offenbar ein Vergnügen, in Floskeln zu baden. Sie genießen es, wenn sich ihnen vor lauter Solidarität im Falschen die Nackenhaare sträuben.

Die Aufgabe des Künstlers, so Franz Kafka, besteht darin, das isoliert Sterbliche ins unendliche Leben hinüber zu führen. Wer die Geduld dafür aufbringt, zahlt mit einer gehörigen Portion Einsamkeit. Vielleicht gehören solche Menschen deshalb zu den ersten Anwärtern auf die Gnade.

Man lernt seine Sprache zurückzunehmen, bis sie frei von Eitelkeiten ist und ausschließlich ihren Transportauftrag erfüllt. Dadurch wird sie elegant und bescheiden.

Deine Sprache ist wie Wasser, das auf noch so unwegsamen Gelände den natürlichen, den kürzesten Weg findet, um eine Geschichte unbeschadet nachhause zu bringen. 

Was die meisten Geschichtenerzähler vergessen: Wenn man dem Leben nahe sein will, gibt es kein Ende.

Vielleicht sollten wir alle mal die Klappe halten und uns auf das beschränken, was im Alltag an Sprache benötigt wird: (»Reich mir mal das Salz.« – »Wie spät ist es?« – »Bring Shampoo mit!« etc.). Allerdings befürchte ich, dass 99,9 Prozent diese Art des Innehaltens keine zehn Minuten aushalten. Sie würden es als Wettbewerb begreifen, ähnlich wie das Luftanhalten (wer hält am längsten durch?), anstatt es als das zu sehen, was es sein sollte: die Freilegung unserer Wahrnehmungsfähigkeiten.

Quellen und Anmerkungen

* Dirk C. Fleck, „Gefleckte Diamanten“, p.machinery Verlag, Taschenbuch 197 Seiten, 15 Euro 90

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: GOLDMANN99 / shutterstock


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