Eröffnungsrede zur Kalender 2025 Release Ausstellung der IAFF im Sprechsaal, 31.10.24
Ein Meinungsbeitrag von Patrik Baab.
„Kunst ist eine Tochter der Freiheit“ steht im Katalog zu dieser Ausstellung. Das stammt von Friedrich Schiller. Für mich war deshalb der Katalog Gelegenheit, noch einmal meine Schiller-Ausgabe aus dem Regal zu nehmen.
Vollständig heißt es im 2. Brief zur Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts: „Denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch.“(1)
Wenn ich heute – man mag mir das nachsehen – auf die Kunstszene blicke, sozusagen als Sachfremder, so sehe ich v.a. Notdurft der Materie. Und wenn ich mich umschaue in meinen, den akademischen Kreisen, vermag ich wenig Anderes zu erkennen als das Versagen der Intellektuellen. Sie stellen sich nicht der Frage von Krieg oder Frieden, die doch darüber entscheidet, ob es uns morgen noch gibt.
Angefangen von Juli Zeh und den Schriftstellern über die Hochschullehrer, Wirtschaftswissenschaftler und Publizisten sehe ich vor allem Krämerseelen, die NATO-Propaganda nachplappern, statt sich zu informieren über die tatsächlichen historischen Sachverhalte, was eigentlich ihr Job wäre, oder die auf Tauchstation gehen, in vollendeter Untertanen-Mentalität.
Von meiner Branche will ich gar nicht reden. Wenn die Presse ihre Arbeit gemacht hätte, wäre es wahrscheinlich zum Krieg in der Ukraine nicht gekommen. Statt aber selbstkritisch ihr Versagen auszuwerten, erleben wir tagtäglich, dass sie nach wie vor ihre Arbeit nicht macht. Schreibtischbewohner in der Behaglichkeitszone ihrer Redaktionen haben einen erheblichen Anteil an diesem Krieg.
Ich bin vor wenigen Tagen aus dem Kriegsgebiet im Donbass zurückgekommen. Ich habe die Drohnen fliegen sehen, die Panzer vernichten und Bunker zerschießen. Zweimal hatten wir Alarm und flohen in den Unterstand. Ein US-Söldner berichtet von den Kämpfen um Bachmut: „Die Überlebenszeit eines Infanteristen beträgt im Durchschnitt vier Stunden!“. Und hier? Bei meiner Rückkehr hatte ich das Gefühl, ich sei in ein politisches und mediales Irrenhaus eingewiesen worden.
Der deutsche Journalismus, das deutsche Geistesleben, leidet an fast vollständiger Amnesie. Journalisten, auch andere Akademiker, sind tief in das Propaganda-System verstrickt und spüren selbst nicht mehr, dass sie keine neutralen Beobachter sind, sondern Hilfstruppen in der Propagandaschlacht, die zu diesem Krieg genauso gehört wie die militärische Konfrontation und der Wirtschaftskrieg.
Zur Amnesie gehört der fast vollständige Realitätsverlust, wie er leider häufig in Berufen vorkommt, die narzisstische Persönlichkeiten anziehen. Das ist in meiner Branche sicher der Fall. Lesen Sie mal Sigmunds Freuds Narzissmus-Schrift von 1914:
Sigmund Freud beschreibt in seiner Studie zur narzisstischen Persönlichkeit „zwei fundamentale Charakterzüge“, nämlich „den Größenwahn und die Abwendung ihres Interesses von der Außenwelt [...] Die der Außenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden“. Wenn Ihnen dafür Beispiele in der aktuellen Politik einfallen, so ist dies unvermeidlich.
Die von Freud erwähnte Abwendung von der Außenwelt kann den partiellen Realitätsverlust der Medien und der Akademiker erklären. Erst dieser Realitätsverlust ermöglicht die größenwahnsinnige Selbstermächtigung, mit Insinuationen von Verschwörungstheorien oder angeblichen Putin-Sympathien den Debattenraum abstecken und andere des Spielfelds verweisen zu wollen. Der narzisstische Sozialcharakter scheint im Journalismus, in der Kunst, in akademischen Berufen heute genauso wie in der Politik seine zweite Heimat zu finden.(2)
Größenwahn und Abwendung von der Außenwelt haben im akademischen Feld zwei Konsequenzen: Die eine ist die Anlehnung an das herrschende Meinungsklima, damit Gruppen-Loyalität die Selbstüberhöhung stabilisiert; die andere ist der Verzicht auf die Realitätsprobe. Recherche und nüchterne Betrachtung werden zum Luxus. An ihre Stelle treten inner-institutionelle Allianzen. Es geht darum, mehr Profit aus einer Situation zu ziehen als die Konkurrenz.
Sie sehen nicht, wie der Westen die Ukrainer zur Schlachtbank führt und wie er diesen Krieg verliert: In ihrer Sommer-Offensive haben sich die Ukrainer zu Tode gesiegt, und jetzt stehen die Russen vor Pokrowsk, einem Verkehrsknotenpunkt und einem neuen, erst 1990 eröffneten Bergwerk, das die Ukraine dringend braucht. Militärische Blindheit.
Sie sehen nicht ihr eigenes moralisches Versagen: Die Chefredakteurin der britischen Zeitschrift „The Economist“ Zanny Minton Bedoes am 12.02.2024: Offen gesagt ist die Unterstützung und Finanzierung der Ukraine für die USA der billigste Weg, ihre Sicherheit zu stärken. Das steht fest! Die Ukrainer kämpfen und sie sind es auch, die sterben. Und die USA und Europa schicken nur Waffen. Und so wehren wir uns gegen Putin.“(3) Zanny Minton Bedoes fungiert auch als Herausgeberin von „Die Zeit“. Hinter der geheuchelten moralischen Entrüstung über den russischen Einmarsch steht der blanke Zynismus. Mehr als eine halbe Million Tote, und kein Ende. Informations-Zynismus nannte das einmal der Philosoph Peter Sloterdijk.(4)
Die sehen nicht, woher der Krieg rührt. Der Putsch auf dem Maidan im Februar 2014 – alles längst vergessen. Ivan Katchanovski von der Universität Ottawa schreibt: Wie auf dem Basar wurden zwischen Rechtem Sektor und europäischen Diplomaten die Zahl der Morde verhandelt, die erforderlich seien, damit die europäischen Staaten den demokratisch gewählten Präsidenten Yanukowitsch aus dem Amt drängten. Man einigte sich auf etwa 100, die vom Rechten Sektor getötet werden mussten - und so kam es auch.(5) Wir in der Europäischen Union sind nicht die Guten. Das ist bloß Selbstbetrug.
Sie sehen nicht, wie sich die Lebensverhältnisse in der Ukraine mit der Annäherung an den Westen verschlechtert haben, das Land zur verlängerten Werkbank für westliche Konzerne mit Niedriglöhnen und zur Beute westlicher Agrarkonzerne wurde, ja sogar als Staat in die Hände amerikanischer Finanzinvestoren gefallen ist, die nun die Staatsschulden der Ukraine managen. Sie sehen nicht, wie Oligarchen das Land ausgebeutet haben und wie der Durchschnittslohn gesunken ist. Vollständige soziale Blindheit.
Sie wollen nicht sehen, dass die Russische Föderation eine Stadt wie Mariupol wieder aufbaut. Hunderte Milliarden Rubel werden investiert, ganze Stadtviertel neu errichtet, Verkehrsanbindungen ausgebaut. Heute ist der Donbass eine Zuzugsregion, obwohl der Krieg nur wenige Kilometer entfernt weitergeht. Sie verstehen nicht das Signal, das Moskau damit setzt: Nach innen – wir tun etwas für Euch, wir lassen Euch nicht hängen. Zum Westen hin: Dieses Gebiet wird Russisch bleiben, es steht nicht mehr zur Disposition.
Sie sehen nicht, dass sich die Menschen im Donbass von der russischen Armee nicht besetzt, sondern befreit fühlen. Befreit v.a. von dem seit April 2014 andauernden Beschuss durch die ukrainische Armee mit mehr als 14.000 Toten, darunter viele Zivilisten und Kinder. Wenn wir hier in Berlin von der Bundeswehr in Potsdam acht Jahre lang beschossen worden wären, hätten wir vielleicht auch gesagt: Was haben wir mit diesen Deutschen am Hut? Lasst uns das lieber mit den Polen machen. Vollkommene psychologische Blindheit.
Sie wollen nicht sehen, dass die Zentralregierung in Kiew die Denkmäler russischer Dichter schleift, Straßen umbenennt, Denkmäler für den Faschisten Stepan Bandera errichtet und nach ukrainischen Faschisten Straßen und Plätze benennt. Dazu die russische Sprache verbietet, die für 30% der Ukrainer einmal Muttersprache war. Sie verschließen die Augen vor einer flächendeckenden Kulturzerstörung genauso wie vor der Kumpanei der NATO mit ukrainischen Faschisten.
Die geostrategische Blindheit ist bestürzend. Der Fraktionsvorsitzende der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell auf Twitter: „Die amerikanische Unterstützung für die Ukraine ist keine Wohltat. Sie liegt in unserem eigenen Interesse – nicht zuletzt, weil eine Schwächung Russlands dabei hilft, China abzuschrecken.“(6) Ich könnte mühelos das mit weiteren Zitaten ergänzen, beispielsweise von Zbigniew Brzezinski oder George Friedman von der Denkfabrik Geopolitical Futures. Die akademische und künstlerische Welt will nicht erkennen, dass der Hegemonialanspruch der Vereinigten Staaten eben keine Pax Americana herstellt, sondern, wie sich Jonathan Schell ausgedrückt hat, „die Bühne für eine Katastrophe bereitet.“(7)
Der Krieg in der Ukraine ist der Höhepunkt eines 30 Jahre alten geostrategischen Projekts der US-Neocons, bei dessen Umsetzung die USA kriegerische Mittel wählen. Der Kampf um Kiew war der vermeidbarste Krieg der Welt, wenn man ihn durch die NATO-Osterweiterung unter Einbeziehung der Ukraine nicht herbeiprovoziert hätte.
Aber das Gefährlichste ist die Apokalypse-Blindheit dieser Akademiker, die mit der Aufstellung neuer weitreichender US-Raketen ab 2026 eine neue Dimension gewinnt, da sie das nukleare Vernichtungsrisiko auslagert von den USA nach Deutschland. Genau darum geht es im militärstrategischen Denken Washingtons: Eine atomare Auseinandersetzung auf Europa zu begrenzen. Der russische Historiker Sergej Karaganov: „Die Amerikaner werden niemals New York, Boston oder Philadelphia in Gefahr bringen, um sich für die Vernichtung von Frankfurt, Posen oder Bukarest zu rächen.“(8) Und da faselt ein Friedrich Merz daher, man müsse Putin ein Ultimatum stellen. Die EU-Kriegstreiber in Brüssel, die seit Monaten die nützlichen Idioten der USA spielen, haben eine Resolution verabschiedet, in der ein Einsatz europäischer Mittelstreckenraketen gegen das russische Kernland gefordert wird. Da die Ukraine diese Raketen weder bauen noch ins Ziel steuern kann, müssen das NATO-Spezialkräfte machen. Dies bedeutet einen direkten Angriff der NATO auf Russland. Die Reaktion Moskaus ist klar: Wir stehen also vor einem Atomkrieg.
Wie geschmeidig muss man eigentlich sein, wenn man dem verantwortlichen US-Präsidenten, der in den Korruptionssumpf der Ukraine mit seiner gesamten Familie tief verstrickt ist, dafür noch einen Orden verleiht? Dies zeigt den vollständigen moralischen Bankrott der politischen Klasse in Deutschland.
Wissen Sie, was Verkommenheit ist? Kurt Tucholsky hat es 1921 beschrieben, mit Blick auf die deutsche Justiz, aber das gilt auch für andere Berufsgruppen: „Denn dies eben heißt Verkommenheit: Nicht mehr fühlen, wie tief man gesunken ist.“(9)
Und was hört man dazu von den Akademikern – oder den Künstlern? Nichts.
An den Börsen der Lebenspolitik, so Zygmunt Bauman, zahlt sich Solidarität nicht aus; „stattdessen prämieren sie Selbstbezüglichkeit, Egoismus und antisoziale Formen der Selbstbestätigung […] Der Erfolg jedes anderen Menschen fühlt sich wie meine Niederlage an und vermindert zudem noch meine ohnehin schon mageren Chancen, ‚nach oben zu kommen‘“.(10)
In einer neoliberalen Welt prekärer Beschäftigung und befristeter Verträge durchzieht diese Haltung den gesamten akademischen Bereich. Künstler und Intellektuelle sind herabgesunken zu bezahlten Erfüllungsgehilfen.
Wenn die Kinder dieser Großmäuler, die da den Krieg herbeireden und herbeischreiben, an die Front müssten, wäre das Abschlachten morgen vorbei. Aber das sehen sie selbst natürlich nicht. Wie Upton Sinclair 1934 geschrieben hat: „Es ist schwer, einen Menschen von etwas zu überzeugen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.“(11)
Und genau das trifft auf meine Branche zu – aber auch auf den größten Teil der – ja, von Intellektuellen möchte man nicht reden, nennen wir sie: Akademiker.
Sie beteiligen sich an der Zensur, welche die Corona-Inszenierung und den provozierten Angriffskrieg in der Ukraine begleitet. Was lässt man sich im herrschenden Parteienkartell alles einfallen, um das Zensurverbot des Grundgesetzes auszuhebeln:
Trusted Flaggers: Staatlich bestellte Denunzianten. Hoffmann von Fallersleben wird der Satz zugeschrieben: „Das größte Schwein im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant!“
Sogenannte Nichtregierungsorganisationen, die staatlich finanziert werden, wie „Fake Observers“, welche ausländischen Geheimdiensten als Pranger dienen, so dass man die Verfolgung und Hinrichtung politischer Gegner auslagern kann, um die eigenen Hände in Unschuld zu waschen. Ich weiß, wovon ich rede, ich stehe selbst auch auf der Abschussliste des ukrainischen Geheimdienstes Mirotworez.
Von Staaten und Geheimdiensten bezahlte Internet-Pöbler, wie NAFU, die auf X jene mit der Mobilisierung von Ressentiments überziehen, die sich am Friedensgebot des Grundgesetzes orientieren.
Die staatliche Finanzierung von Presse-Organen wie Correctiv, und anderen sogenannten Fakten-Checkern, die vor allem die Übereinstimmung mit der NATO-Propaganda checken, aber nicht die Fakten. Oder die Finanzierung von Magazinen wie „Der Spiegel“ durch die Bill und Melinda-Gates-Stiftung.
Journalisten, die mit Geheimdiensten zusammenarbeiten, wie es die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage im deutschen Bundestag selbst dargestellt hat.
Offene Zensur durch das Verbot russischer Medien wie Sputnik oder RT. Ich war 40 Jahre lang Nachrichtenredakteur. Was Desinformation ist, weiß ich besser als jene, die mir Meldungen vorenthalten wollen.
Woke Ablenkungsmanöver vom ursprünglichen Verteilungs- und Klassenkonflikt in der öffentlichen Debatte. Insbesondere die Jüngeren Akademiker wurden eingefangen von einer Ideologie, die Herrschaftsverhältnisse verschleiert, das Band zu den Älteren kappt und die Aufmerksamkeit auf Felder lenkt, die niemandem wehtun, der über Macht und Ressourcen verfügt – Identitätspolitik, der Kampf gegen „Rechts“ – alles Gratismut. Wer jeden Morgen damit beschäftigt ist, ob er sich heute als Mann oder als Frau fühlt, sieht die Ausbeutungsverhältnisse nicht mehr.
Die Auslagerung von Zensur an überstaatliche Institutionen wie die EU-Kommission mit ihrem Digital Services Act.
Die Privatisierung der Zensur durch die Säuberungsmaßnahmen der Internet-Plattformen, die wiederum aufs Engste mit Geheimdiensten kooperieren und beim Hochladen filtern, was das Zeug hält.
Die Instrumentalisierung der Justiz und des Strafrechts zur Ausschaltung politischer Gegner mit dem Ziel Berufsverbote, Geldstrafen, Kontokündigungen, Gefängnis und öffentliche Diskriminierung durchzusetzen, also Gesinnungsjustiz, ist ein klassisches Zeichen einer Diktatur.
Das sogenannte „Demokratie-Fördergesetz“ hat ja genau das Gegenteil zum Ziel. Es geht darum, durch die Erzeugung von Angst vorauseilenden Gehorsam zu erzwingen. Wir sind in der Welt des Franz Kafka angekommen. In seinem Roman „Der Prozess“ schreibt er: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“(12)
Um die Menschenrechte in Deutschland stand es noch nie so schlecht. Deutschland, so sagt es der Psychoanalytiker Hans Joachim Maaz, ist schon längst keine Demokratie mehr.(13) Das herrschende Parteien-Kartell hat das Land mit den Corona-Maßnahmen und der Finanzierung des Ukraine-Krieges in eine Sackgasse geführt. Denn die NATO wird diesen Krieg verlieren. Olaf Scholz ist der Kanzler des Niedergangs, wenn nicht des Untergangs, wenn die Kriegstreiber nicht gestoppt werden.
Und was sehen wir unter den Intellektuellen und Künstlern: Selbstbefriedigung im Schonraum staatlicher Zuschüsse. Die Kunst gehört heute nicht mehr dem Volk. Sie gehört dem Digitalkapitalistisch-geheimdienstlich-medialen Komplex.
Was treibt den Börsenverein des deutschen Buchhandels, seinen „Friedenspreis“ der erklärten Kriegstreiberin Anne Applebaum zu verleihen? Sie gehört – mit ihrem Mann, dem ehemaligen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski und dem Politikberater Robert Kagan, Gründer des „Project for the New American Century“ zu einer New Yorker Neocon-Clique; mit dabei auch Victoria Nuland, die beim Putsch auf dem Maidan im Februar 2014 die Strippen zog und der wir das Ukraine-Desaster auch zu verdanken haben.
Während die EU viele Milliarden in die Ukraine pumpt, ist mehr als jeder fünfte EU-Bürger obdachlos, beantragt eine Notunterkunft oder steht bei Wohlfahrtsverbänden an um einen Teller Suppe. Mehr als 20 Prozent der Bevölkerung sind von Armut und Obdachlosigkeit betroffen, rechnet die libanesische Zeitung Al Mayadeen vor, - 100 Millionen Menschen.(14)
Von all dem lesen und sehen wir hier nichts.
Die Synkrisis des deutschen Geisteslebens mit der fadenscheinigen Zeitenwende eines Olaf Scholz und der verfassungswidrigen Kriegstüchtigkeit eines Boris Pistorius ist bestürzend nicht nur im Blick auf die Primitivität der Ressentiments und des mobilisierten Russenhasses, sondern mehr noch durch die blinde Unterwerfung unter ihren betont unduldsamen Ausschließlichkeitsanspruch. Die Propaganda soll vergessen machen, dass die eigentliche Zeitenwende 1999 stattfand, als die NATO Belgrad bombardierte und damit den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zurückbrachte nach Europa.
Aber dies alles, so Karl Dietrich Bracher in seinem Buch „Die Deutsche Diktatur“, „demonstriert nur den Vorgang der Selbstgleichschaltung, der von Staatsrechtlern zu Nationalökonomen, von Historikern zu Germanisten, von Philosophen zu Naturwissenschaftlern, von Publizisten zu Dichtern, Musikern, bildenden Künstlern reichte.“(15)
Wer wissen will, wie das damals, 1933, geschehen konnte, sollte heute genau hinschauen. Bis hin zur Mobilisierung des Gratismuts eines bourgeoisen Mobs zum Kampf „gegen rechts“, um davon abzulenken, dass die Kriegstreiber im herrschenden Parteienkartell und in der Mitte der Gesellschaft sitzen.
Wohin man schaut: so gut wie keine Ideologiekritik der bellizistischen Denkfiguren; keine Kapitalismuskritik in der Recherche der Finanzströme hin zur US-Rüstungsindustrie und des tendenziellen Falls der Profitrate; keine Kritik der Aggressionsverschiebung, mit der die Wut über neoliberale Kürzungsorgien auf den äußeren Feind gelenkt werden soll. In der Echokammer der Kriegstreiber erleben wir heute einen erschütternden akademischen und künstlerischen Provinzialismus von Leuten, deren Lebensleistung im Wesentlichen darin besteht, anderen einmal die Aktentasche oder die Staffelei hinterhergetragen zu haben.(16)
„Die europäischen Intellektuellen“, so Antonio Gramsci vor fast 100 Jahren im Gefängnis, „sind wieder zu unmittelbaren Agenten der herrschenden Klasse geworden“(17). Dass sie zu schlichten „Kopflangern“ degeneriert sind, hat erheblichen Anteil an der Schwäche der Friedensbewegung. „Die Gedanken, die man hier kauft, stinken“, so Bertolt Brecht, denn „man verkauft Meinungen wie Fische“.(18)
Heute Abend sehen wir hier eine Reihe von Werken, die keinen künstlerischen Realitätsverlust zeigen; von Künstlern, die im vergangenen Jahr selbst Ziel eines Polizeieinsatzes geworden sind, was später als „Neuköllner Kunstraub“ bezeichnet wurde. Und wir präsentieren Ihnen einen Katalog, der uns durch das kommende Jahr hindurch auffordern wird, „sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke“ zu beschäftigten, wie Friedrich Schiller sich ausgedrückt hat: „mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit.“(19)
Dafür danke ich.
Fußnoten und Literaturangaben:
(1) Schiller, Friedrich: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Sämtliche Werke, München 1980 (6), Bd. 5, S. 572
(2) Freud, Sigmund: Zur Einführung in den Narzissmus (1914), in: Kleine Schriften II, https://www.projekt-gutenberg.org/freud/kleine2/Kapitel9.html
(3) Minton Bedoes, Zanny: The Daily Show, 12.02.2024, https://www.youtube.com/watch?v=7cmWbSv-GOE
(4) Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1983, Bd. 2, S. 563
(5) Katchanovsky, Ivan: The Maidan Massacre in Ukraine. The Mass Killing that Changed the World. Ottawa 2024, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-67121-0
(6) Zit. n. Johnstone, Caitlin: This war wasn’t just provoked – it was provoked deliberately. Caitlin’s Newsletter, 24. Sept. 2023, https://www.caitlinjohnst.one/p/this-war-wasnt-just-provoked-it-was
(7) Schell, Jonathan: The Unconquerable World. Power, Nonviolence and the Will of the People. New York: Metropolitan 2003, S. 329
(8) Karaganov, Sergey: Nuclear War can be won. Moskovsky Komsomolets, 11.10.2023, https://karaganov.ru/en/nuclear-war-can-be-won/
(9) Tucholsky, Kurt: Das Buch von der Deutschen Schande. http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1921/Das+Buch+von+der+deutschen+Schande
(10) Bauman, Zygmunt: Retrotopia. Frankfurt a.M. 2018(2), S. 124f.
(11) Sinclair, Upton: I, Candidate for Governor. And How I Got Licked. Oakland Tribune, 11.12.1934, S. 19
(12) Kafka, Franz: Der Prozess. Frankfurt a. M. 1976 (22), S. 160
(13) Maaz, Hans-Joachim: Wir leben nicht mehr in wirklich demokratischen Verhältnissen. Nachdenkseiten, 26.03.2024, https://www.nachdenkseiten.de/?p=112992
(14) EU drowing in poverty while funding Ukraine, ‘Israel’ wars. Al Mayadeen, 26.10.2024, https://english.almayadeen.net/news/Economy/eu-drowning-in-poverty-while-funding-ukraine—israel--wars
(15) Bracher, Karl Dietrich: Die Deutsche Diktatur. Köln u. Berlin 1969 (2), S. 274
(16) Diese Diagnose ist vielfach beschrieben worden: Loureiro, Arthur: Why I no longer believe we can say academics are the smartest people. 20.10.2025, https://medium.com/@cosmonist/why-i-no-longer-believe-we-can-say-academics-are-the-smartest-people-f6b84b4d723d
Martyanov, Andrei: America’s Final War. Atlanta 2024, S. 1 – 19
Todd, Emmanuel: La Défaite de l’Occident, Paris 2023, S. 295 – 303
Meyen, Michael: Der dressierte Nachwuchs, Berlin 2024, S. 43-56
(17) Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Bd. 3, Berlin 1992, S. 659
(18) Brecht, Bertolt: Turandot oder der Kongress der Weißwäscher. Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band. Fankfurt a. M. 1978, S. 904
(19) Schiller, Friedrich: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Sämtliche Werke, München 1980 (6), Bd. 5, S. 572
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Bildquelle: Sabiene Jahn
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