Tagesdosis 7.10.2017 – Steht Spanien vor einem Bürgerkrieg? (Podcast)

Ein Kommentar von Ernst Wolff.

Die jüngsten Ereignisse um die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens drohen nicht nur Spanien, sondern die gesamte EU zu sprengen. Das gewaltsame Vorgehen der Zentralregierung gegen friedlich zur Wahl gehende Bürger, der kurzfristig angesetzte Generalstreik, die Ankündigung der Unabhängigkeitserklärung und das Verbot einer Sitzung des Regionalparlaments durch Madrid sind dabei nur die letzten Eskalationsstufen eines seit langem währenden Konflikts.

Grund für die Wut und die Kampfbereitschaft einer großen Mehrheit der Katalanen sind die Verschlechterung der Lebensverhältnisse im Gefolge der Eurokrise und die Unterwürfigkeit der Madrider Zentralregierung gegenüber der Brüsseler Bürokratie.

Die Politik der Troika – Geld für die Banken, Sparprogramme fürs Volk

Wie Zypern, Irland, Griechenland und Portugal wurde auch Spanien während der Krise unter die Zwangsverwaltung der Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF) und EU-Kommission gestellt. Wie dort wurden auch in Spanien riesige Summen in die Bankenrettung gesteckt (bisher insgesamt mehr als 120 Mrd. Euro), während die Folgen der Krise mittels Sparprogrammen auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt wurden.

Seit mehr als fünf Jahren leiden vor allem die unteren und mittleren Einkommensschichten unter Steuererhöhungen, Arbeitslosigkeit und der Zwangsenteignung von Immobilien. Der spanische Mindestlohn beträgt 4,29 Euro pro Stunde, die Durchschnittsrente 915 Euro. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 38,7 Prozent, mehr als zweieinhalb Millionen Arbeitssuchende haben das Land bereits verlassen.

Zwar haben in den vergangenen Jahren hunderttausende Spanier gegen diese Politik demonstriert, doch ihre Proteste sind entweder von der Zentralregierung niedergeschlagen worden oder wirkungslos verpufft. Genau diese Situation haben sich katalonische Separatisten zunutze gemacht. Ihr Zorn richtet sich aber nicht gegen die spanische und die internationale Finanzindustrie, sondern dagegen, dass das wirtschaftsstarke Katalonien schwächere autonome Gemeinschaften wie Valencia und Extremadura auf Anordnung der Zentralregierung finanziell unterstützen muss.

Die Unabhängigkeit Kataloniens wird nichts ändern

Erreichen die Separatisten ihr Ziel und wird Katalonien tatsächlich unabhängig, so wird das allerdings nichts an der Misere der Bevölkerung ändern. Eine zukünftige katalonische Regierung wäre nicht weniger abhängig von der Troika als die Madrider Zentralregierung. Zum Beweis ihrer Macht hat die EZB bereits angekündigt, einem unabhängigen Katalonien umgehend den Geldhahn abzudrehen – ein sicheres Mittel, um sich die zukünftige Regierung gefügig zu machen.

Der Weg der Separatisten führt also mit Sicherheit in eine Sackgasse. Trotzdem hat ihr Rückhalt in der katalonischen Bevölkerung in den vergangenen Tagen und Wochen erheblich zugenommen. Grund dafür ist der berechtigte Hass auf die Zentralregierung unter Premier Rajoy, die gegenüber Katalonien einen harten und kompromisslosen Konfrontationskurs verfolgt.

Zeichnet sich dennoch die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung des Konfliktes ab? Nein, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Zentralregierung hängt am Tropf der EU und der Europäischen Zentralbank, die Madrid durch den Aufkauf von Staatsanleihen über Wasser hält. Die Brüsseler EU-Bürokraten und die Führung der EZB werden die Unabhängigkeit Kataloniens niemals dulden, da ein Sieg der Separatisten eine Kettenreaktion auslösen und weiteren nationalistischen oder regional orientierten Separatisten in Europa Rückenwind verleihen könnte. Im Baskenland, in Schottland, Nordirland, Belgien, in der Bretagne, auf Korsika, den Faröer Inseln und in Grönland, sowie in Norditalien (wo in der Lombardei und Venetien noch in diesem Monat Referenden über mehr Autonomie stattfinden), warten Separatisten nur darauf, sich zu erheben und Kataloniens Beispiel zu folgen.

Weshalb hat Brüssel die Separatisten so lange gewähren lassen?

Die Entlassung Kataloniens in die Unabhängigkeit würde einen Flächenbrand auslösen, den Zerfall der EU rasant beschleunigen und den Brüsseler Bürokraten damit den finanziellen Nährboden entziehen. Wieso aber haben sie nicht früher eingegriffen? Wieso haben sie die Situation so weit eskalieren lassen, dass sie inzwischen nicht mehr beherrschbar erscheint?

Die Antwort lautet: Aus purem Egoismus: So lange Separatisten nämlich nicht an die Macht gelangen, sind sie sowohl für die EU als auch für die EZB äußerst nützlich, weil sie die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den wahren Verursachern ihrer Misere – der Finanzindustrie – ablenken und die Wut der Menschen statt dessen auf andere Volksgruppen richten.

Dass Spanien nun ein Bürgerkrieg droht, sollte allen Europäern als Warnung dienen: Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Zeit lassen sich weder durch regionale, noch durch nationale Abspaltungen lösen. Sie lassen sich nur lösen, wenn die Mehrheit der Menschen erkennt, dass sich ihr Feind nicht jenseits der Grenzen ihrer Region oder ihrer Nation, sondern innerhalb dieser Grenzen, nämlich in dem von der Finanzindustrie beherrschten System, befindet. Diese Erkenntnis ist die unabdingbare Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf um eine bessere Zukunft – nicht nur in Spanien, sondern in ganz Europa und weltweit.

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