Tagesdosis 6.11.2017 – Revolution und Konterrevolution (Podcast)

Ein Kommentar von Susan Bonath und Alexander Kalex.

Am morgigen 7. November jährt sich die Oktoberrevolution in Russland zum hundertsten Mal. Das Ereignis erschütterte die Welt. Es in wenigen Minuten vollständig abzuhandeln, ist unmöglich. Der Kommentar von Ernst Wolff vom Sonnabend macht es jedoch nötig, die historischen Hintergründe zu beleuchten.

Den Ereignissen im zaristischen Russland des Jahres 1917 vorausgegangen war das bis dahin größte Gemetzel der Menschheit: Der Erste Weltkrieg. Im Zuge der ersten großen globalen Krise des Kapitalismus nach der industriellen Revolution waren die Herrscher Europas übereinander hergefallen. Übereinander? Nein, sie hatten ihre Lohnsklaven gegeneinander gehetzt, um Kapital und Macht neu aufzuteilen. Die Bilanz bei Kriegsende waren rund zehn Millionen tote Soldaten und sieben Millionen zivile Opfer. Alleine das russische Volk hatte 1,85 Millionen Tote und unzählige Verletzte und Verstümmelte zu beklagen.

Der Krieg hatte Hunger und Elend nach Russland gebracht. Die verarmten Massen hatten genug davon. Das führte zur Februarrevolution: Am 3. März traten die Arbeiter eines Petrograder Rüstungsbetriebs in den Streik. Die Direktion sperrte daraufhin 30.000 Beschäftigte aus. Mit einer spontanen Großdemonstration gegen die katastrophale Versorgungslage forderten die Arbeiter die Herausgabe von Brot.

Lawinenartig breiteten sich die Proteste aus. Organisiert wurden sie über neu belebte Arbeiterräte, die Sowjets, die sich erstmals schon 1905 gegründet hatten. Sie proklamierten einen Generalstreik. Unerwartet solidarisierte sich ein großer Teil der Soldaten mit den Arbeitern. Ein Ende des Krieges, die Versorgung mit Lebensmitteln und die Abdankung des Zaren machten sie zu ihren zentralen Forderungen.

Der Zar versuchte indes, das Parlament, die Duma, aufzulösen. Doch das weigerte sich, übernahm selbst die Regierungsgeschäfte. Wenige Tage später stürmten Arbeiter und Soldaten öffentliche Gebäude. Der 12. März, nach damaligem russischen Kalender der 27. Februar, wurde zum »Roten Montag« erklärt. Infolge dessen versuchte der Zar in seine Sommerresidenz zu fliehen. Er kam nie an. Arbeiter und Soldaten hielten ihn auf, verbannten ihn kurz darauf nach Sibirien, verhafteten zaristische Minister.

An die Macht kam eine provisorische Regierung aus Bürgerlich-Liberalen und Menschewiki. Hinzu kamen die Sozialrevolutionäre, eine vorgeblich sozialistische Bauernpartei. Ihre ursprüngliche Forderung, das Land der Großgrundbesitzer an die geschundenen Landarbeiter und Kleinbauern zu verteilen, um die Hungerkatastrophe abzuwenden, legten diese ad acta.

Die Bolschewiki griffen die Forderung auf. Sie verlangten zudem, die Beteiligung am Krieg zu beenden. Ihre Parole lautete »Brot und Frieden«. In den weiter agierenden Sowjets erlangten die Bolschewiki die Mehrheit. Das Gros der Arbeiter wandte sich ihnen zu und von der Regierung ab. Ihre Ziele konnten die Bolschewiki jedoch weiterhin nur illegal vertreten. Die Parteiführer waren im Gefängnis oder auf der Flucht. Lenin saß im Exil in der Schweiz. Er und einige seiner Genossen suchten einen Weg zurück nach Russland.

Schweizer Sozialdemokraten gelang schließlich ein Deal mit der deutschen Seite: Im April 1917 konnte eine Gruppe russischer Emigranten in einem für exterritorial erklärten Eisenbahnwaggon nach Petrograd ins wirtschaftliche Herz Russlands reisen. Unter ihnen befand sich Lenin. Interessierte Kreise legen den Bolschewiki diese Zugfahrt seit jeher als Landesverrat und Kollaboration mit dem Feind aus.

Doch welches Land sollten die Bolschewiki »verraten«  haben? Das der russischen Kapitalisten und Großgrundbesitzer? Und wer war der Feind? Deutschland? Nein, die Ausbeuter weltweit. Die Bolschewiki nutzten Widersprüche im gegnerischen Lager zu ihren Gunsten aus, nicht mehr, nicht weniger. Die Volksmassen in Russland verstanden das sehr gut. Die Legende vom »deutschen Agenten« zog nicht, so oft sie die Vertreter des alten zaristischen Russlands auch wiederholten.

Der Funke entzündete sich zwischen Bolschewiki und provisorischer Regierung. Letztere ließ etwa einen Aufstand im Juli 1917 niederschlagen. Am 7. November machten wütende Arbeiter und Soldaten Ernst: Sie belagerten den Sitz der Regierung, am Morgen darauf entmachteten und verhafteten sie ihre Mitglieder.

Doch keine Revolution ohne Konterrevolution. Die geschassten Zaristen und Regierungsanhänger inklusive Sozialdemokraten bewaffneten sich. Mehr als ein Dutzend Länder, darunter Deutschland, Polen, Frankreich, England, Japan und die USA, eilten ihnen zu Hilfe. Bis 1922 tobte der Bürger- und Interventionskrieg in der bereits durch den Weltkrieg geschwächten jungen Republik. Hätten sich die Sowjets nur ein Jahr gegen diese Übermacht halten können, wenn sie im Volk keinen Rückhalt gehabt hätten? Das ist unvorstellbar.

Überraschend ist, dass sich Ernst Wolff auf die geöffneten Akten beruft, zugleich aber Märchen über den Kronstädter Aufstand wiederholt, die sich mit der Öffnung der Archive unter Jelzin als Lüge entpuppt haben. Was früher als reine Behauptung der Bolschewiki hätte vom Tisch gewischt werden können, ist nun historisch belegt: Die Kronstädter Matrosen im russischen Oktober waren Arbeiter, die später großteils im Bürgerkrieg ums Leben kamen. Die Matrosen des Aufstands gegen die Bolschewiki 1921 vertraten indes die Interessen des Kleinbürgertums, das sich durch freie Märkte eine Verbesserung seiner Lage versprach. Veröffentlichte Dokumente belegen zudem, dass sie Verbindungen zur alten Herrschaft pflegten.

Die verarmten Arbeiter und Bauern kämpften damals für ihre eigene Republik, für ein Leben ohne Hunger und Krieg. Sie verteidigten ihre Würde gegen die Knechtschaft, in die sie die Zaristen, Kapitalisten und Großgrundbesitzer gezwungen hatten. Auch Frauen gewannen durch die Revolution: Anders als bis dahin in allen kapitalistischen Ländern wurden sie Männern rechtlich gleichgestellt. Die Bolschewiki versuchten, durch die Errichtung von Kantinen, Wäschereien und Kinderbetreuung einen Teil der Hausarbeit zu vergesellschaften und vereinfachten Ehescheidungen. Erstmals konnten Frauen auf Unterhalt für ihre Kinder klagen und bekamen das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch. Was hätten westliche Demokratien diesen Menschen geboten? Nicht einmal das Wahlrecht für Frauen war dort selbstverständlich.

Den Bolschewiki war dabei bewusst, dass sich nicht alle Wünsche der Menschen in einem einzelnen, von Kriegen geschundenen Land verwirklichen ließen. Sie hofften auf Revolutionen im Westen, besonders in Deutschland. Auch dort kam es am Ende des Weltkrieges zur Bildung von Arbeiterräten. Der Matrosenaufstand in Kiel am 4. November 1918 war der Auftakt zur deutschen Novemberrevolution.

Doch die regierende Sozialdemokratie der frühen Weimarer Republik schlug zurück. Im Bund mit präfaschistischen Freikorps ertränkte sie die deutsche Revolution in Blut. Tausende Arbeiter fielen dem nicht nur in der neu gegründeten Münchner Räterepublik zum Opfer. Ähnliches geschah in anderen Ländern. So zerschlugen Konterrevolutionäre gemeinsam mit rumänischen Truppen etwa die ungarische Räterepublik.

Das junge Sowjetrussland blieb somit isoliert und wirtschaftlich schwach. Die Revolution brachte nicht die erhofften sozialen Fortschritte in erwünschtem Tempo. Müde gewordene Menschen sehnten sich nach Stabilität. Unter anderem das ermöglichte es der neuen bürokratischen Kaste um Stalin, nach Lenins Tod Mitte der 1920er Jahre die Macht zu erringen. Lenin selbst hatte in den letzten Jahren seines Lebens, die von Krankheit gezeichnet waren, davor gewarnt. Zur Wahrheit gehört damit auch: Ohne die SPD-Führer in Deutschland namens Ebert und Noske hätte Stalin sehr wahrscheinlich nicht aufsteigen können.

Stalin entpuppte sich als Tyrann. Aus dem Kampf gegen Zaristen und Kapitalisten wurde ein blutiges Ausmerzen aller Unliebsamen. Auch unzählige Kommunisten fielen dem zum Opfer. Doch selbst unter der Stalin-Diktatur gelang es der Sowjetunion, das erkämpfte gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln zu erhalten. Mittels Planwirtschaft stabilisierte sie die wirtschaftliche Lage im Land. Nach und nach stieg der Lebensstandard. Schulbildung und Gesundheitsversorgung waren nicht mehr eine Frage des Geldbeutels. Der noch unter Lenin verfasste Staatsplan zur Elektrifizierung wurde bis Anfang der 30er Jahre weitgehend umgesetzt. Der von Ernst Wolff kritisierte Reichtum der Stalin-Kaste ähnelte mehr dem eines Sparkassendirektors, als dem der Flicks und Krupps.

Auch später machten es äußere Umstände der Sowjetunion mehr als schwer. Die Wehrmacht Hitlers verwüstete das Land im Zweiten Weltkrieg erneut. 27 Millionen Opfer waren die Folge. Die Rote Armee schlug die Aggressoren. Der Wiederaufbau stagnierte auch deshalb, weil der Westen das Riesenland in ein gnadenloses Wettrüsten zwang. Ökonomisch konnte das die Sowjetunion nicht gewinnen. Was die Russen an ihr hatten, lernten sie nach ihrem Zusammenbruch unter der Herrschaft Jelzins zu schätzen. Die bürgerliche »Demokratie« war für das Gros der Bevölkerung keineswegs ein Segen. Dem gnadenlosen Ausverkauf der Wirtschaft folgte eine gnadenlose Welle der Verelendung.

So zeigt die Oktoberrevolution vor allem: Der Kampf für eine gerechte Welt ist mit bürgerlich-kapitalistischen Mitteln nicht zu gewinnen. Friedlich die herrschende Bourgeoisie zu überzeugen, entpuppte sich stets als sozialdemokratische Träumerei: Während Arbeiter ihr winzige Zugeständnisse abringen, vervielfachen sich die Opfer des Systems immerfort. Zweitens wies schon Lenin darauf hin: Im global wütenden Kapitalismus kann eine sozialistische Revolutionen in nur einem Land nicht zu Ende geführt werden.

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