Tagesdosis 18.1.2018 – Lese-Tracking: Wissen ist Macht

Ein Kommentar von Bernhard Loyen.

Es wäre gut, Bücher zu kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte. So formulierte es Arthur Schopenhauer Mitte des 19. Jahrhundert.

Es hat sich viel getan in den letzten knapp 150 Jahren. Zeit kann man immer noch nicht erwerben, aber ansonsten ist der Mensch in einen regelrechten Kaufrausch geraten. Heute könnte man Schopenhauers Wunsch so formulieren: Es wäre gut, Bücher zu kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, über eine App messen könnte. Schwer nachvollziehbar, aber längst existent. Sehr viele Menschen möchten zusehends keine Bücher mehr lesen, dafür so genannte E-Books. Ein E-Book ist die digitale Ausgabe eines Buches. Sie können beispielsweise mit Computern oder speziellen E-Book-Readern gelesen werden.

Der Absatz von E-Books lag im Jahr 2016 im Publikumsmarkt in Deutschland bei mehr als 28 Millionen Stück. Nach wie vor ist der Anteil von E-Books an den Gesamtumsätzen im Buchmarkt mit 5,4 Prozent aber relativ gering (Stand: 1. Halbjahr 2017). Auch im Jahr 2016 lag einer Statista-Umfrage zufolge die Präferenz der Leser meistens bei gedruckten Büchern. Dennoch hat sich die Anzahl der Käufer von E-Books seit 2010 mehr als verfünffacht: Im Jahr 2016 wurden rund 3,8 Millionen Käufer von E-Books in Deutschland gezählt, sechs Jahre zuvor waren es erst 0,7 Millionen[1].

Die Gründe warum trotz dieser Zahlen sehr viele Buchläden schließen mussten, soll jedoch nicht das heutige Thema sein. Der Mensch möchte sich messen lassen, dazu gehören anscheinend auch lesende Bürger. Dem Sportler seine Apple Watch ist dem E-Book Leser seine Bookout App[2]. Ein sehr beliebtes Lesegerät namens Kindle kommt, nicht überraschend, aus dem Hause Amazon. Dort ist diese Funktion selbstverständlich schon installiert. Was bedeutet nun Lese Tracking?

Die Buchbloggerin Karla Paul, bis Ende 2017 Verlagsleiterin bei Edel eBooks war, informiert: Nehmen wir als Beispiel den Kindle, das Lesegerät von Amazon: Der speichert nicht nur, welche Bücher man kauft und liest, was zugleich verrät, welche Autoren und Literatur-Genres man bevorzugt. Sondern auch, an welchem Tag zu welcher Uhrzeit man wie lange und wieviel gelesen hat. An welchen Stellen man das Lesen unterbricht oder das Buch ganz abbricht. Welche Zitate man markiert und welche Notizen man sich dazu macht[3].

Ist doch super! schmettert da einem der E-Book Leser entgegen. Schluss mit Leuchtstift & Kuli-Kennzeichnungen und Eselsohren vom Markieren bestimmter Seiten. Sowas macht Frau Paul natürlich nicht. Sie möchte mit wiedermal unschlagbaren Vorteilen der Online-Welt überzeugen: Das Markieren ist eine Funktion, die gerade im Sachbuchbereich, etwa beim Lernen, sehr hilfreich ist. Aber auch bei belletristischen Büchern tun das sehr viele Menschen. All diese Informationen kann ich dann im persönlichen Archiv jederzeit abrufen. Aber auch Amazon hat Zugriff auf diese Daten. Wenn ich mit dem Kindle online bin, kann ich sehen, welche Stellen wie oft von anderen Nutzern markiert wurden. Was hat denn der Leser davon, fragt die Interviewerin?

Frau Paul hat auch da die richtige Antwort parat – das Wir-Gefühl: Ich kann mir die, aus Sicht der anderen Leser, wichtigsten oder schönsten Stellen in einem Buch anzeigen lassen, noch bevor ich es selbst gelesen habe. Außerdem kann ich mich auf der internationalen Amazon-Plattform Goodreads mit anderen Kindle-Nutzerinnen und -Nutzern austauschen zu einem Buch: das so genannte Social Reading.

Klingt schön, oder? Andere Plattformen tragen dann so einladende Namen wie Lovely Books, oder Jellybooks. Nicht mehr der nerdige Leseeremit im stillen Kämmerlein. Nein, ab heute Worldwide Connections, dank Amazon & Partner. Die Leser geben auch hier freimütig folgende Informationen: Ob Mann oder Frau, vielleicht sogar auch noch, ob sie Single oder verheiratet sind. Welche Art von Büchern sie am liebsten lesen. Oder sie verraten in Kommentaren, was ihnen gefällt an einem Buch und was nicht. So wird man Stück für Stück freiwillig, aber auch unfreiwillig zum gläsernen User.

Also, die Kontakte sind hergestellt, aber worum geht es E-Book Anbietern und den Verlagen nun wirklich? Natürlich um Informationen. Daten. Sie wollen den gläsernen Leser analysieren, um so den kommenden Markt besser einschätzen zu können. Härter formuliert könnte man auch von manipulieren sprechen. Kommende Autorengenerationen für den E-Book Bereich müssen sich an den Vorgaben der Verlage orientieren, weil diese Umsätze garantieren. Wer nicht entsprechendes liefert ist raus. Auch hier hat Frau Paul die passende Info: Das ist aber nun mal der Trend, siehe Netflix und Co: Die versuchen doch auch, jedes Fernseh-Bedürfnis passgenau zu befriedigen – statt nur eine Möglichkeit anzubieten, mit der sich dann alle begnügen müssen.

Stimmt, inhaltlicher Einheitsbrei im Bezahlfernsehen, gleichtönende Musikschleifen im Streamingdienst, nun wird der Literaturbereich angegriffen. Eigenart, Originalität, Wesensart, Exklusivität, Besonderheit, Eigenständigkeit, Eigenheit, Charakter verschwinden, werden zerstört, abgeschafft. Konformität wird als Individualität verkauft und lenkt die Menschheit in eine anspruchslose Massenbewegung.

Wissen ist Macht, aber wer besitzt die eigentliche Macht zu wissen. Wer läßt sich das Wissen nehmen und macht sich zum Erfüllungsgehilfen der Mächtigen? Gruselige Zeiten.

Quellen:

[1] – https://de.statista.com/themen/596/e-books/

[2] – http://www.kerstin-herbert.de/?p=6934

[3] – http://julia-karnick.de/lese-tracking-interview-karla-paul/

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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