Tagesdosis 10.9.2018 – Wem nützt es?

Ein Kommentar von Susan Bonath.

In Chemnitz instrumentalisieren bekannte Neofaschisten, NPD- und AfD-Politiker einen brutalen Mord an einem Halb-Kubaner für gewalttätige Aufmärsche. Tausende laufen ihnen hinterher. In Köthen passiert am gestrigen Sonntag selbiges. Hintergrund: Auf einem Spielplatz streiten sich zwei Afghanen offenbar darüber, wer der Vater eines ungeborenen Kindes ist. Zwei Deutsche mischen sich ein. Es kommt zu einer Prügelei. Ein 22jähriger Deutscher kippt um, läuft blau an und stirbt später im Krankenhaus- an Herzversagen, wegen einer Vorerkrankung. Sein Bruder und Mitbeteiligter ist ein der Polizei bekannter Intensivstrafttäter aus dem rechtsextremen Milieu. Was konkret geschah, weiß man nicht. Trotzdem trommeln Rechtsradikale in nullkommanichts 750 Demonstranten zusammen, reden ein zweites Chemnitz herbei.

Da wird man doch wohl fragen dürfen: Wo blieben die Demonstranten vergangene Woche in Bielefeld, als der Prozess gegen zwei Deutsche, 51 und 24 Jahre alt, wegen Dreifachmordes an zwei Deutschen und einem Libanesen begann? Wo bleiben die Demonstranten in Dresden, wo das Landgericht aktuell gegen einen 36jährigen Deutschen verhandelt, der seine dreijährige Tochter im Januar erstickt hatte? Wo bleiben die Besorgten in Hamburg, wo am Freitag ein 57jähriger Deutscher auf seine Ehefrau eingestochen und diese lebensgefährlich verletzt hatte? Warum marschieren sie nicht in Staufen, wo ein heute zehnjähriger Junge über zwei Jahre lang von seiner deutschen Mutter und ihrem deutschen Freund vergewaltigt und an Männer für sexuellen Missbrauch verkauft wurde? Wo waren sie an diesem Wochenende in Salzwedel, als in der Nacht zum Samstag vermummte Rechtsradikale mit Baseballschlägern und Äxten einen linken Club stürmten, die Einrichtung zertrümmerten und einen 17jährigen verprügelten?

Und überhaupt, Chemnitz: Da tun sich Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, Innenminister Horst Seehofer von der CSU und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, CDU, zusammen und verordnen quasi, man dürfe die dokumentierten Angriffe auf und Beleidigungen gegen Ausländer nicht als Hetzjagd bezeichnen. Wie viele Meter muss dafür ein Mensch durch die Stadt getrieben werden? Aber Seehofer findet ja Straftaten ohnehin völlig okay. »Ich bin froh über jeden, der bei uns in Deutschland straftätig wird und aus dem Ausland stammt«, posaunte er schon am 2. August auf einer Wahlkampfveranstaltung in Töging ins Mikrofon, wie jetzt bekannt wurde. Er nannte auch den Grund für seine Ansicht: »Auch die müssen abgeschoben werden.« Aha, die Opfer sind ihm also völlig egal.

Täter und Opfer, es gab sie immer. Die Gewalt kam nicht wie Kasper aus der Kiste plötzlich nach Deutschland. Auch vorher haben vor allem Männer Frauen vergewaltigt, Kinder missbraucht. Die deutsche Kirche könnte sogar einen dicken Wälzer über letztere Verbrechen in den eigenen Reihen verfassen. Von den Verbrechen des deutschen Staates, seiner Polizei, der Bundeswehr und der NATO ganz zu schweigen.

Man könnte sich langsam mal fragen: Was braut sich da auf dem Misthaufen einzelner instrumentalisierter Gewaltverbrechen, hier und da mit Fakenews gespickt, eigentlich zusammen? Wer hat Interesse an einem Bürgermob, der sich gemein macht mit »Ausländer raus!« brüllenden Neonazis, die in aller Öffentlichkeit wieder den rechten Arm nach oben reißen? Wer hat Interesse am Zusammenwachsen zwischen freien rechtsextremen Verbänden, NPD,  AfD und Pegida? Ja, wer wünscht sich, dass Proleten Proleten jagen und der Leiharbeiter dem nicht arbeiten dürfenden Flüchtling aufs Maul gibt? Und dass das Geschrei nach einem starken Staat überhand nimmt? Wem nützt das?

Sie bauen doch längst an diesem starken Staat. Demnächst gehen zwei polizeiliche Abhörzentren in Hannover und Dresden an den Start. In Bayern gibt es schon eins. Die Polizeigesetze in fast allen Bundesländern sind schon oder werden massiv verschärft. Nur zum Beispiel: Überwachung auf Verdacht und wochen- teils monatelange Präventivhaft werden möglich. In Bayern und Baden-Württemberg ist sie es schon, in Sachsen ist es auch bald soweit. Und in Niedersachsen, wo am Samstag immerhin rund  8.000 Menschen gegen die neuen Polizeibefugnisse protestierten, kommt der Polizeistaat ebenfalls.

Dummerweise ging diese Demo in Hannover in der Maaßen-Seehofer-Kretschmer-Debatte um Hetzjagd oder nicht, in Entrüstungsorgien und Online-Enten, in Pseudo-Trauermärschen für instrumentalisierte Opfer völlig unter. Wir reden hier nicht von Lappalien, sondern davon, dass der Staat nach Belieben Menschen in den Knast stecken kann, die gar nichts verbrochen haben. Es geht um einen Überwachungsstaat im Aufbau, dem jeder, wirklich jeder, der den Herrschenden nicht passt, anheim fallen kann. Es geht um lange geplante teure militärische Aufrüstung der Bundeswehr, der nicht nur die von der SPD propagierten Rentenklau-Rückabwicklungspläne teilweise zum Opfer fallen, sondern die auch immer mehr wirtschaftliches Chaos und damit weitere Flüchtlinge produzieren wird. Längst trainiert die Bundeswehr gemeinsam mit der Polizei dafür, soziale Proteste in den imperialistischen Zentren niederzuschlagen. Erinnert sei hier nur an die inzwischen fast fertig gestellte Kampfübungsstadt Schnöggersburg  in Sachsen-Anhalt nach dem Muster einer westlichen Metropole.

Dass die Aufstände kommen werden, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. So sicher, wie die nächste Immobilienblase bald platzen und den nächsten Finanzcrash samt neuer Wirtschaftskrise auslösen wird. Davor warnen seit Monaten führende bürgerliche Ökonomen. Zuletzt tat dies vergangene Woche Daniele Nouy, die oberste Bankenaufseherin der Europäischen Zentralbank.

Krise und soziale Proteste kommen sicher. Der faulende Kapitalismus wird in nicht allzuferner Zukunft kollabieren- und er wird dabei  Abermillionen Opfer hinterlassen. Jedenfalls dann, wenn es der Menschheit nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass nicht länger um der Profite  willen, sondern für den Bedarf aller produziert wird. Nur so werden die Flüchtlingsströme abebben. Nur so kann die Gewalt befördernde soziale Ungleichheit ein Ende finden und Faschismus als Form nationalen Managements kapitalistischer Staaten abgewendet werden. Nur so könnte man endlich die heute verrottende massenhafte Überproduktion vernünftig verteilen. Es ist schließlich alles da. Die Menschen müssten nur für die richtigen Dinge auf die Straßen gehen. Weltweit. Wer es erlebt hat, der weiß: Solidarität macht Spaß. Und Solidarität ächtet Gewalt in den eigenen Reihen. Sie muss nur gelebt werden.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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